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BERICHT/284: G20-Festnahmen - Sippenhaft ... (SB)


Für viele mag der G20-Gipfel in Hamburg ungeachtet seiner Tragweite für die künftige Gesellschaft der Bundesrepublik und die Konfliktlage wie auch Bündnispolitik der führenden Mächte bereits Geschichte sein. In atemberaubender Dynamik wird Deutungsmacht festgezurrt, Staatsräson durchgesetzt, das Regime globaler Ausbeutung und Verfügung neu konfiguriert und das öffentliche Interesse auf ein nächstes und übernächstes Spektakel fixiert. Noch längst nicht Geschichte ist der Gipfel hingegen vor allem für die Menschen, die dabei in die Mühlen der Justiz geraten sind, insbesondere aber jene, die sich weiterhin in Untersuchungshaft befinden. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten, sind sie doch derzeit in besonderem Maße auf Solidarität angewiesen.

Der Hamburger Gipfel wurde in Vorfeld, Verlauf und Verarbeitung weitgehend auf die Gewaltfrage fokussiert und reduziert, die alle anderen Aspekte in den Hintergrund drängte. In Anbetracht der vielbeschworenen "bürgerkriegsähnlichen Zustände", mit denen die mediale Berichterstattung gesättigt wurde, steht zu befürchten, daß die von der Politik erhobene Forderung nach harter Bestrafung von der Justiz als Auftrag verstanden und auf eine Weise umgesetzt wird, die sich mehr oder minder weit von einer unabhängigen und verfassungskonformen Strafrechtspflege entfernt. Generalverdacht, pauschale Bezichtigung und kollektive Bestrafung sollten eines rechtsstaatlichen Verfahrens nicht würdig sein, das jeden einzelnen Fall nach angemessener Prüfung und Bewertung der vorliegenden Fakten und Beweismittel für sich zu entscheiden hat. Daß es sich anders verhalten könnte und Inhaftierte das ausbaden müssen, was staatlicherseits den Gipfelgegnerinnen und -gegnern in Gänze zur Last gelegt wird, legen anwaltliche Erkenntnisse aus der Gefangenensammelstelle, den Haftprüfungsverfahren und der Untersuchungshaft nahe.


Vortragende am Tisch vor einem Fenster - Foto: © 2017 by Schattenblick

RA Lino Peters, Martin Dolzer, RA Maja Beisenherz
Foto: © 2017 by Schattenblick

Pressegespräch "Zustände in der U-Haft nach dem G20-Gipfel"

Auf Einladung der Fraktion Die Linke in der Hamburger Bürgerschaft fand am 26. Juli im Rathaus ein Pressegespräch zum Thema "Zustände in der U-Haft nach dem G20-Gipfel" statt. Dabei berichteten RA Lino Peters aus Hamburg und RA Maja Beisenherz aus München, die beim G20-Gipfel im Anwaltlichen Notdienst tätig gewesen waren, von ihren Erfahrungen im Umgang mit Polizei und Justiz in Betreuung ihrer Mandanten. Martin Dolzer, Justizpolitischer Sprecher der Linksfraktion, ergänzte diese Ausführungen um eigene Eindrücke sowie Erkenntnisse aus Gesprächen mit Anwältinnen und fügte eine politische Einordnung und Bewertung hinzu.

Ihren Angaben zufolge befinden sich derzeit noch 36 Menschen in Untersuchungshaft, 20 von ihnen stammen aus dem europäischen Ausland, fünf haben einen deutschen Paß, aber keinen festen Wohnsitz. Elf sind deutsche Staatsbürger. Haben diese Fälle die drei Hamburger Instanzen Amtsgericht, Landgericht und Oberlandesgericht durchlaufen, ohne daß es zu einer Aufhebung des Haftbeschlusses gekommen ist, gibt es darüber nur noch das Bundesverfassungsgericht, das aber lediglich prüft, ob die Entscheidung grundrechtsverletzend ist.

Angesichts einer Vielzahl von Ereignissen und des Umstands, daß der Anwaltliche Notdienst nicht über die Kapazitäten für eine sofortige systematische Aufarbeitung verfügt, gibt es noch keinen Überblick über sämtliche Haftentscheidungen, die in Hamburg gefällt wurden. Die einzelnen Anwälte sind derzeit vor allem damit beschäftigt, ihre Mandantinnen und Mandanten in den weiteren Verfahrensgängen zu betreuen, wobei es natürlich zu einem Austausch im Kollegenkreis kommt. Wie Peters eingangs hervorhob, wolle er keinesfalls alle Richterinnen und Richter über einen Kamm scheren, wenn er die Gesamtlage aufgrund der ihm bekannten Beschlüsse bewerte.

Muster einer politischen Haltung der Hamburger Justiz

Lino Peters berichtete aus eigener Erfahrung über die Zustände in der Gefangenensammelstelle wie auch im Amtsgericht in der Außenstelle Neuland, wobei er vor allem nachts versucht habe, rechtlichen Rat und Unterstützung für die Betroffenen anzubieten. Soweit dies möglich war, führte er Mandantengespräche und wohnte Anhörungen wie auch Haftbefehlsverkündungen bei. In den Entscheidungen des Amtsgerichts, Landgerichts und Oberlandesgerichts zeichnen sich seines Erachtens klare Tendenzen ab. Es habe verfahrensunabhängige Wiederholungen in den Begründungen gegeben, für die offenbar wortgleiche Textbausteine verwendet wurden. Über alle drei Strafrechtsinstanzen seien Muster zu erkennen, die Ausdruck einer politischen Haltung der Justiz seien, was nicht ihre Aufgabe sein könne. Juristisch seien die Haftbegründungen aus seiner Sicht nicht haltbar. Die Instanzenkontrolle in Hamburg versage weitgehend, da höheren Instanzen für juristische Argumente der Verteidigung teils völlig unzugänglich seien. Es würden Fakten behauptet, angenommen oder vorbehaltlos aus Polizeiberichten übernommen, die nach seinem Kenntnisstand teilweise falsch seien. Zudem würden den polizeilichen Berichten Dinge entnommen, die gar nicht darin enthalten seien, und die Gerichte bedienten sich eines martialischen Sprachgebrauchs, für den es keine Veranlassung gebe. Sie stellten junge Menschen in den Kreis von organisierten Gewaltverbrechern, die die Verantwortung für bürgerkriegsähnliche Zustände trügen.

Um seine Einwände zu belegen, ging Peters beispielhaft auf eine bestimmte Fallgruppe ein. Dabei handelt es um eine Personengruppe, die am Freitagmorgen um 6:30 Uhr am Rondenbarg festgenommen wurde. Die Festnahmen erfolgten in einem Industriegebiet zwischen dem Camp der Gipfelgegner und dem hafennahen Altona. Es sei bedenklich, diesen Festgenommenen die Vorkommnisse zuzuschreiben, die in der Nacht von Freitag auf Samstag stattgefunden haben, als sie bereits in Gewahrsam waren. Laut Polizei und Staatsanwaltschaft wurde bei dieser Personengruppe keine Gewaltanwendung festgestellt. Auch konnten gefährliche Gegenstände oder Waffen nicht einzelnen Personen zugeordnet werden. Wenngleich die Vorwürfe des Landfriedensbruchs oder schweren Landfriedensbruchs rechtlich nicht Einzelpersonen zugeordnet werden müssen, gebe doch die Faktenlage weitere Vorwürfe wie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und den Vorsatz, Personen zu verletzen, nicht her. Aus diesen Personen eine Gruppe mit einer martialischen Kampfstrategie zu machen, die jeweils eine Haftstrafe von mindestens zwei Jahren zu erwarten hätten, wobei bei jüngeren Personen das Jugendstrafrecht keine Anwendung fände, sei nach Aktenlage nicht nachvollziehbar. Insbesondere bei ausländischen Staatsangehörigen sei die Justiz offenbar auf ein hartes Vorgehen bedacht.

Im Haftbefehl gegen eine seiner Mandantinnen, die 19 Jahre alt ist, sei ihr in erster Instanz vorgeworfen worden, sich bei dieser Gruppe aufgehalten zu haben. Der Amtsrichter ging von schwerem Landfriedensbruch und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte aus. Er habe als Anwalt vorgetragen, was gegen Fluchtgefahr spricht: Seine Mandantin sei noch nie polizeilich in Erscheinung getreten oder straffällig geworden, wohne zusammen mit ihren jüngeren Geschwistern bei den Eltern, habe gerade Abitur gemacht und einen Medizinstudienplatz in Aussicht. Der Haftbefehl habe diese Fakten jedoch ignoriert und sie im Gegenteil nur zum Anlaß genommen, eine Reifeverzögerung auszuschließen, so daß das Erwachsenenstrafrecht zur Anwendung kommen könne. Bei der Straferwartung von über zwei Jahren Freiheitsstrafe stelle sich die Frage einer Aussetzung zur Bewährung nicht. Und dies obwohl seine Mandantin keinerlei Straftat begangen habe und bereits in Polizeigewahrsam gewesen sei, als die Schanze brannte. Das Landgericht habe diesen Haftbefehl dann jedoch aufgehoben.

Hinter den Entscheidungen des Amtsgerichts hätten offenbar starker politischer Druck und heftige Emotionen gestanden, die nichts mit rechtlich einwandfreien Strafverfahren zu tun haben - so weit würde er in seiner Bewertung gehen. Wenn der Bürgermeister hohe Strafen fordere und dies von Amtsrichtern umgesetzt werde, ohne daß es von der Faktenlage her begründbar erscheint, ziele das darauf ab, Menschen ohne fundierte juristische Grundlage in Freiheitsentzug zu halten.

Angebliche Fluchtgefahr als Haftgrund bei Ausländern

Maja Beisenherz konzentrierte sich in ihrer Darstellung auf Personen, die jetzt noch in Haft sind und durchweg entweder einen Wohnsitz im Ausland oder ausländische Wurzeln haben und erst seit kurzer Zeit in Deutschland leben. Als Haftgrund werde Fluchtgefahr angeführt, wobei nicht zwischen EU-Ausländern und anderen Ausländern unterschieden wird. Wenngleich es grundsätzlich zulässig sei, Fluchtgefahr als einen wesentlichen Haftgrund vorzuhalten, könne doch die bloße Tatsache eines Wohnsitzes im Ausland oder gar EU-Auslands eine Fluchtgefahr nicht begründen. Es müßten also weitere Indizien wie beispielsweise keine festen Bindungen hinzukommen und zwar nicht hier vor Ort, sondern am jeweiligen Wohnsitz. Könnte der Betreffende im Rahmen eines Auslieferungsverfahrens dem Verfahren in Deutschland wieder zugeführt werden? Das hätten die Hamburger Gerichte ignoriert. Selbst in Fällen, wo Betroffene ihr Leben lang in der Familie auf Sizilien gelebt haben und im Familienbetrieb arbeiten, den sie noch nie länger verlassen haben, wurde Haftbefehl erlassen und aufrechterhalten. Hingegen seien deutsche Staatsbürger, bei denen der Tatverdacht in den Akten viel besser belegt werden konnte, aus der Haft entlassen worden. Betroffen seien schweizer, italienische und russische Staatsbürger, wobei das Angebot einer Kaution oder in zwei Fällen sogar eines kurzfristig gewährleisteten Wohnsitzes in Hamburg nicht berücksichtigt wurde.

Offenbar werde Menschen, die von weither angereist sind, eine potentiell kriminelle Energie angelastet - und dies bei einem G20-Gipfel, gegen den ein internationaler Protest stattfand. Auch bei der Gewahrsamnahme habe man den Eindruck bekommen, daß mit besonderer Willkür und Härte gegen bestimmte Nationalitäten vorgegangen wurde. Sie habe persönlich in Situationen, in denen absolut nichts passiert sei, erlebt, daß insbesondere Franzosen und Italiener herausgegriffen und mitgenommen wurden. Gemessen an den Schreckensbildern, die um die Welt gingen, seien relativ wenige Menschen festgenommen worden. Jetzt gehe es offenbar darum, diese Festnahmen trotz unhaltbarer Aktenlagen aufrechtzuerhalten.

Sie habe mit Anwälten gesprochen, die sechs Italiener vertreten, gegen die der Vorwurf des Landfriedensbruchs oder schweren Landfriedensbruchs erhoben wird. Der dringende Tatverdacht sei jedoch höchst fraglich, weil zwischen dem angeblichen Wurf einer Flasche und der späteren Festnahme ein Zeitraum von einer knappen halben Stunde vergangen sei und die Person 500 Meter zurückgelegt habe. Es gebe in der Akte keine Beweise außer der Aussage eines Polizeizeugen. Bei anderen Fällen handle es sich um Rondenbarg-Fälle, in denen angeblich Waffen und Gegenstände vor Ort gefunden wurden, die aber nicht den Personen zugeordnet werden konnten. Der formulierte Tatbestand spiegle sich in der Akte nicht wider.

Peters zufolge kann eine Person von der Vollstreckung der U-Haft verschont werden, wenn es andere geeignete Auflagen gibt. Es gebe Verträge mit Italien, das auch seine eigenen Staatsbürger zum Zweck der Strafverfolgung ausliefert. Man könnte auch Meldeauflagen in Italien veranlassen. Es bestehe die Pflicht, sich damit auseinanderzusetzen, ob wirklich eine konkrete Fluchtgefahr vorliegt, die so schwerwiegend ist, daß eine U-Haft vollstreckt werden muß. In der Begründung heiße es jedoch: Eine Verschonung kommt nicht in Betracht, der Beschuldigte ist italienischer Staatsangehöriger. Das sei aus seiner Sicht rechtlich haltlos.

Fragwürdige Haftbegründung läßt tief blicken

Lino Peters führte weiter aus, daß zunächst der Vorwurf, der Tatverdacht und die Straferwartung gerichtlich zu prüfen seien. Dann gelte es gesondert zu prüfen, ob sich die Person diesem Strafverfahren stellen wird. Ist davon auszugehen, daß sie die Möglichkeit, sich zu entziehen, auch nutzen wird? Was sind fluchthemmende Gesichtspunkte? Diese Argumente müßten eigenständig berücksichtigt werden und dürften nicht aufgrund des Tatverdachts vom Tisch gewischt werden. Um die praktizierte Verfahrensweise zu belegen, zitierte er aus einem Beschluß des Landgerichts Hamburg vom 20. Juli 2017. Darin werde von bürgerkriegsähnlichen Zuständen gesprochen, für die eine Person verantwortlich sei, die am Freitagmorgen am Rondenbarg festgenommen wurde und eine hohe Straferwartung habe:

"Diesen Fluchtanreizen stehen keine hinreichenden Bindungen der Beschuldigten entgegen. Zwar hat die Beschuldigte im elterlichen Haushalt in Italien einen polizeilich gemeldeten Wohnsitz und geht eigenen Angaben zufolge als Studentin der Literatur und Angestellte einer Rechtsanwaltskanzlei einer festen Beschäftigung nach. Die Art der Tatausführung belegt aber, daß sie jederzeit bereit und in der Lage ist, sich auch in anderen Staaten und fremden Kulturen kriminellen Strukturen unmittelbar anzuschließen und in ihnen unterzutauchen."

In der Akte finde sich weder eine besondere Art einer Tatausführung noch die Einbindung in eine Gruppe. Die ursprünglich erhobenen Vorwürfe des Werfens von Steinen, Feuerwerkskörpern und Bengalos aus dieser Gruppe sei nach Auftauchen einer Videoaufnahme auf Bengalos reduziert worden. Der betreffenden Person sei keine Tatausführung zugeordnet und vorgeworfen wurden. Damit entferne sich der Haftrichter mit seinem Beschluß sehr weit weg von dem, was juristisch als Haftgrund gewertet werden könnte, so Peters.

Martin Dolzer ging zur Verdeutlichung zunächst auf denselben Fall ein und zitierte weiter aus der Haftbegründung:

"Die Beschuldigte [sei] dringend verdächtig, Landfriedensbruch in besonders schwerem Fall begangen zu haben, indem sie sich als Teilnehmerin an Gewalttätigkeiten gegen Menschen und Sachen, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdende Weise mit vereinten Kräften begangen wurden, beteiligt hat. Die Beteiligung in diesem Sinne setzt auch in Gestalt der psychischen Beihilfe ein nach den allgemeinen Teilnahmegrundsätzen beachtliches, bestimmtes, Gewalttätigkeiten der aktiven Täter förderndes, objektives, faßbares Verhalten voraus, das deren Zurechnung rechtfertigt. Es kommt somit darauf an, ob neben der bloßen Ortsanwesenheit zusätzlich objektive Verhaltensumstände feststellbar sind, die eine Solidarisierung mit den Gewalttätern erkennbar bis zum Ausdruck bringen und von diesen als Unterstützung ihrer unfriedlichen Aktionen wahrgenommen werden können. Der Verbleib des Betreffenden ohne äußeren Zwang in einer gewalttätigen Gruppe ist vor diesem Hintergrund ein Indiz für eine solche Beteiligung."

Ihr werde also nicht vorgeworfen, eine Straftat begangen zu haben, sondern es werde ihr die psychische Unterstützung von anderen Demonstranten vorgeworfen, die Flaschen oder Böller geworfen oder bei sich gehabt hätten. Deswegen müsse sie trotz ihres festen Umfelds in Haft bleiben. Von einer Wahrung der Verhältnismäßigkeit, so Dolzer, könne keine Rede sein.

Unhaltbare Zustände in GeSa und U-Haft

Über die unhaltbaren Zustände in der Gefangenensammelstelle haben bereits der Anwaltliche Notdienst und der Republikanische Anwaltsverein in Pressemitteilungen berichtet. [1] In der GeSa-Harburg haben laut Peters Verhältnisse geherrscht, wie man sie eigentlich aus einem Rechtsstaat nicht kenne. Seiner 19jährigen Mandantin sei 38 Stunden lang die Brille weggenommen worden, ohne die sie so gut wie nichts sehen könne. Jede Stunde sei das Licht eingeschaltet worden, um eine Lebendkontrolle durchzuführen. Einige Mandanten hätten nicht genug zu essen und zu trinken bekommen, oft habe es keine Hygieneartikel gegeben. Diese und andere desaströse Zustände ließen sich nicht mit schlechter Organisation erklären. Auch in dieser Hinsicht gebe es viele Aspekte, die noch umfassend aufgearbeitet werden müssen.

Was die Haftumstände betrifft, sind laut Dolzer in der JVA Billwerder in einem Fall die Anwaltspost länger als fünf Tage zurückgehalten und Wäschepakete zum Teil bis zu zehn Tagen nicht an der Pforte angenommen worden. Im Normalfall gebe man in der Untersuchungshaftanstalt Holstenglacis ein Wäschepaket ab, das durchsucht und dann an den Gefangenen ausgehändigt wird. In Billwerder seien selbst nach Intervention von Anwälten über zehn Tage lang Wäschepakete nicht angenommen worden, was eine unverhältnismäßige Härte für die Inhaftierten bedeute. Die Justizbehörde stehe in der Verantwortung, für Abhilfe zu sorgen und weiteren Diskriminierungen entgegenzuwirken. Beispielsweise sei Inhaftierten der Zugang zur Bibliothek mit dem Hinweis verwehrt worden, Demonstranten müßten nicht lesen.

Politische Einordnung und Bewertung

Martin Dolzer verwies auf das Diskriminierungsverbot nach Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention, wonach niemand aufgrund seiner Herkunft, Religion oder Überzeugung benachteiligt werden darf. Zudem gebe es innerhalb der Europäischen Union auch rechtliche Regulierungen, die eine sofortige Freilassung und Rückkehr ins jeweilige Heimatland vorsehen können, wenn dort keine Fluchtgefahr besteht. Es gebe zudem die Möglichkeit, daß eine Kaution oder eine Meldeauflage zur Sicherung des Nichtfliehens beantragt wird, sowohl bei Verwandten oder Bekannten in der Bundesrepublik als auch im EU-Ausland.

Da das nicht stattgefunden habe, dränge sich der Eindruck auf, daß in mehreren Fällen mit einer Feindbildzuschreibung an Nichtdeutschen ein Exempel statuiert werden soll. Das verstoße gegen das Diskriminierungsverbot, weil Menschen, gegen die kein nachvollziehbarer oder allenfalls ein geringfügiger Tatvorwurf vorliege, der bei Deutschen in vergleichbaren oder schwereren Fällen zur Freilassung führte, auf unabsehbare Zeit bis zur Hauptverhandlung in Haft gehalten werden. Diese Verfahrensweise heble üblicherweise praktiziertes Recht und zum Teil auch die Menschenrechte gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention aus. Es wäre verheerend, wenn die Justiz den Forderungen des Senats nach harten Strafen nachkommt, ohne dabei zu berücksichtigen, ob den einzelnen Personen eine Haft rechtfertigende Tat vorgeworfen werden kann, und ohne zu prüfen, ob die tatsächliche Lebenssituation eine Fluchtgefahr nahelegt. Auf diese Weise werde signalisiert, daß entgegen EU-Recht in Deutschland keine Proteste von Menschen aus anderen europäischen Ländern ohne überzogene Sanktionen geduldet werden sollen.

Man sehe die politische Verantwortung bei denjenigen, die versuchten, diesen Konflikt zu polarisieren, statt die sozialen Hintergründe des Protests gegen den G20-Gipfel, die rechtsstaatlichen Kompetenzen und die Gesellschaftsgestaltung zu thematisieren. Würden Freiheitsrechte gegen Sicherheitspolitik abgewogen, und geschehe dies entgegen rechtsstaatlicher Regulierung und zum Teil auch entgegen der Europäischen Menschenrechtskonvention oder in der Verfassung garantierter Rechte wie Menschenwürde oder Versammlungsrecht, würden Standards außer Kraft gesetzt, die in einem demokratischen Rechtsstaat unabdingbar seien.

Er halte es für sehr bedenklich, wie der Diskurs von vornherein auf Gewalt fokussiert worden sei und auch im Nachhinein weniger die inhaltlichen Gründe des Protests gegen die G20 eine Rolle spielten. Es hätten mehr als 120.000 Menschen in Hamburg protestiert, was ein Zeichen der Vielfalt, Stärke und inhaltlichen Auseinandersetzung gewesen sei. Die G20 stünden als relativ willkürlich zusammengesetztes Gremium in einem Spannungsfeld mit den Vereinten Nationen, dem internationalen Völkerrecht und ratifizierten Verträgen, wenn es darum gehe, internationales Geschehen zu organisieren und verbindliche Beschlüsse herbeizuführen. Es sei bei den Protesten auch darum gegangen, welche Verantwortung die Staaten der G20 für Kriege und asymetrische Handelsbeziehungen tragen. Würden diese Diskurse differenziert geführt, könnten sie die Gesellschaft weiterführen. Konzentriere man sich hingegen darauf, Feindbilder gegen die Protestierenden zu stilisieren, um internationale Proteste zu verhindern, führe das die Gesellschaft in eine Richtung, die nicht wünschenswert sein könne.

Die Aufarbeitung hat gerade erst begonnen

Die im Rahmen des Hintergrundgesprächs zur Veranschaulichung angeführten Beispiele sind keine extremen Ausnahmen oder bloße Einzelfälle. Wie die Vortragenden unterstrichen, dokumentierten sie vielmehr ein belegbares Muster übereinstimmender Vorgehensweisen der Gerichte bei der Haftbegründung. Martin Dolzer sprach von mindestens sieben derartigen Fällen, die ihm durch seinen Kontakt mit Anwältinnen und Anwälten zur Kenntnis gebracht worden seien. Lino Peters stufte alle ihm bekannten Rondenbarg-Fälle als fadenscheinig ein. Maja Beisenherz entnahm ihren Gesprächen mit Anwälten von sechs Italienern offenkundige Entsprechungen. Sie habe zudem Kontakt zu einem Anwalt in Palermo, bei dem es zunächst um einen Informationsaustausch gegangen sei, da italienische Anwälte in Deutschland nicht tätig werden können. Auf der politischen Ebene gab es Dolzer zufolge Proteste in Italien, wo beispielsweise Demonstrationen vor dem deutschen Konsulat stattfanden. Der italienische Konsul in Hamburg sei tätig geworden und habe sich um die inhaftierten italienischen Staatsbürger bemüht.

Man schreite fragend voran und halte es für unverzichtbar, den Gesamtkontext zu thematisieren. Über einen Sonderausschuß der Hamburger Bürgerschaft hinaus habe seine Fraktion einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuß gefordert, weil man nur bei diesem spätere Akteneinsicht erhalte und somit umfassend bewerten könne, was sich zu welchem Zeitpunkt ereignet hat und welche Vorwürfe wegen Rechtsverletzungen erhoben werden können. Die juristische und politische Aufarbeitung, welche die Protagonisten des G20-Gipfels in Hamburg im Schnellverfahren zu okkupieren und zu versiegeln trachten, hat gerade erst begonnen.


Fußnote:

[1] https://www.anwaltlicher-notdienst-rav.org/de/g20-gesa-rechte-systematisch-verletzt

31. Juli 2017


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