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BERICHT/285: Gegen Krieg und Rüstung - vergeigt wie verjagelt ... (SB)


Der Luftwaffenstützpunkt Schleswig-Jagel ist im Kontext des deutschen Militarismus und der aktuellen wie künftigen Kriegführung der Bundesrepublik von zentraler Bedeutung. Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Syrien, Mali - wie die Kette dieser Waffengänge belegt, geht von Jagel Krieg aus. Auf diesem Fliegerhorst ist das "Taktische Luftwaffengeschwader 51 Immelmann" stationiert, dessen Hauptaufgabe das Ausspähen und die Erfassung von Zielkoordinaten mit RECEE-Tornados und Drohnen ist. Von hier aus sind Tornados auch in den Krieg nach Irak und Syrien gestartet, um Ziele zur Bombardierung und Zerstörung zu liefern. Zugleich werden auf diesem Stützpunkt Bilder von Drohnen ausgewertet, wobei sich jeglicher parlamentarischen Kontrolle entzieht, welche militärischen Aufklärungsergebnisse zu welchem Zweck an wen weitergeleitet werden. Ob es sich dabei um eine formal legitimierte UN-Mission, eine "Koalition der Willigen" oder ein Land wie die Türkei handelt, das Krieg gegen die kurdische Bevölkerung führt - die wirtschaftlichen und politischen Ambitionen der Bundesrepublik werden in den verschiedensten Konstellationen und in zunehmendem Maße mit Waffengewalt durchgesetzt. Der Auf- und Ausbau eigenständiger militärischer Kapazitäten setzt das strategische Ziel um, Deutschland müsse einen aktiven Beitrag zu politischen Konfliktlösungen leisten, der seinem politischen Gestaltungsanspruch und seiner Bedeutung in der Welt angemessen sei. Das führt dazu, daß die Bundeswehr im allgemeinen und das Geschwader in Jagel im besonderen mitverantwortlich sind, daß in den Kriegsgebieten Menschen getötet werden.


Aktionsorchester Lebenslaute am Fliegerhorst Schleswig-Jagel - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick

In welchem Maße die Kapazitäten der Bundesluftwaffe an diesem Standort gebündelt werden, belegt die Übernahme immer weiterer Aufgabenbereiche. So wurde 2013 die Unterstützung der Elektronischen Kampfführung aus der Luft durch signalerfassende Aufklärung feindlicher Radar- und Funkstationen und damit der militärische Auftrag des aufgelösten Jagdbombergeschwaders 32 in Lechfeld übernommen. 2016 wurde das Ausbildungszentrum für die abbildende und signalerfassende Aufklärung der Luftwaffe vom Militärflughafen Fürstenfeldbruck nach Jagel verlegt. Seither werden sämtliche Soldatinnen und Soldaten aller Teilstreitkräfte der Bundeswehr, die mit abbildender oder Signalaufklärung befaßt sind, in Jagel ausgebildet. Seit 2016 werden die Einsatzbilder aus den Aufklärungsflügen in aller Welt direkt an diesem Standort ausgewertet. Ab April 2017 sind die Ausbildungs- und Übungsflüge aller Tornado- und Drohnenpiloten der Heron I vor allem am Flugsimulator hinzugekommen, weil der Standort Holoman in den USA aufgegeben worden ist.

Ab 2019 soll das Geschwader Jagel als erste und einzige Bundeswehreinheit über Kampfdrohnen verfügen. Nachdem die Bundesregierung im Juni 2017 versucht hatte, den Kauf von Kampfdrohnen durchzusetzen, was lediglich an der Klage des unterlegenen Bieters gescheitert war, ist die Anschaffung für die nächste Legislaturperiode fest eingeplant. Bis 2025 will Deutschland im europäischen Verbund eigene Kampfdrohnen entwickelt haben, die dann in Jagel stationiert werden sollen.


Transparente - Fotos: © 2017 by Schattenblick Transparente - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Fotos: © 2017 by Schattenblick

Netzwerk Lebenslaute setzt ein Zeichen gegen den Rüstungswahn

Um dagegen Flagge zu zeigen, daß von Schleswig-Holstein Krieg ausgeht, organisiert die Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigung der KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) gemeinsam mit Bündnispartnerinnen und -partnern regelmäßige Protestaktionen am Fliegerhorst Jagel bei Schleswig. [1] Bei jeder dieser Aktionen steht ein inhaltliches Thema im Vordergrund, um die vorübergehende Blockade des Haupttors mit einer Vertiefung fundierter Argumente zu verbinden. In diesem Jahr wurden bereits mehrere solche Aktionen durchgeführt, deren vorläufiger Höhepunkt zweifellos das Gastspiel des Netzwerks "Lebenslaute" [2] am 21. August war. Unter dem Motto "Von Bass bis Sopran - gemeinsam gegen Rüstungswahn" setzten die rund 80 Musikerinnen und Musiker mit ihrer Konzertblockade an diesem Standort ein Zeichen gegen die Militarisierung der Bundesrepublik: Keine Kampfdrohnen für die Bundeswehr! Kein Ausbildungszentrum für Tornados und Drohnen in Jagel! Kein Krieg von deutschem Boden!

Im Rahmen des Netzwerks Lebenslaute kommen seit 1986 Musikerinnen und Musiker aus ganz Deutschland einmal im Jahr zusammen und führen klassische Musik als Aktion zivilen Ungehorsams auf. So wurden unter anderem Konzertaktionen auf der Baustelle des Atommüllendlagers bei Gorleben (2009), am Bundesinnenministerium (2012), um für die Rechte von Geflüchteten einzutreten, oder im Braunkohletagebau Hambach (2015) durchgeführt. Für sein Engagement für Frieden und Menschenrechte wurde Lebenslaute 2014 mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet.

Mit dem Fliegerhorst Schleswig-Jagel hat das Netzwerk in diesem Jahr in Kooperation mit Regionalgruppen der DFG-VK den bislang nördlichsten Aktionsort gewählt. Die meisten Musikerinnen und Musiker kannten sich bereits von einem Probewochenende in Kassel im Juni. Seit dem 16. August bereiteten sich alle auf dem Anwesen der Basisgemeinde Wulfshagenerhütten bei Eckernförde auf das Aktionskonzert vor. Am 19. August wurde dann in der Theaterschule in Flensburg ein Vorkonzert veranstaltet, bei dem es neben der Musik auch Informationen zu Anlaß und Ort der diesjährigen Aktion gab.


Transparente - Fotos: © 2017 by Schattenblick Transparente - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Fotos: © 2017 by Schattenblick

Frühmorgendliche Konzertblockade an sämtlichen Toren

Die Aktion fing jedoch nicht etwa mit dem für 11 Uhr am Haupttor angekündigten Konzert, sondern schon sehr viel früher an. Ab 5:30 Uhr wurden alle elf Zufahrten und Eingänge zum Fliegerhorst von Lebenslaute mit Musikaufführungen blockiert. Von Rettungskräften abgesehen konnte kein Fahrzeug den Bundeswehrstützpunkt erreichen oder verlassen. Dies führte zwangsläufig dazu, daß die aus der nahe gelegenen Kaserne und dem Umland anfahrenden Soldatinnen und Soldaten ihren Dienstplatz nicht erreichten. Fest entschlossen, die vollständige Blockade der Zufahrten zum Luftwaffenstützpunkt mit ihren Musikaufführungen möglichst lange aufrechtzuerhalten, wies Lebenslaute auch darauf hin, das Kriege Fluchtursachen sind, und forderte, keine Abschiebungen mehr durchzuführen.


Antimilitaristischer Teddy - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick

Die Polizei schien auf die Aktion vorbereitet zu sein und beobachtete den Blockadebeginn an mehreren Toren, ohne zunächst einzugreifen. Nachdem ein Konvoi an Tor 9 (Warenlieferungen) an der Ausfahrt gehindert worden war, kündigte die Polizei die Räumung an diesem Tor an, forderte wenig später dazu auf und begann gegen 7 Uhr, durch teilweise Räumung eine Gasse für Fahrzeuge zu bilden. Durch diese Bresche geleitete sie zwei Reisebusse mit Soldatinnen und Soldaten, die offenbar mit ihren privaten Fahrzeugen nicht weitergekommen waren, in die Kaserne hinein und einige Autos heraus. Unmittelbar darauf wurde die Musikblockade an diesem Tor wieder aufgenommen.

Nachdem die Reisebusse auf dem Gelände einige Zeit vergeblich von einem Tor zum anderen gefahren waren, räumte die Polizei kurz vor 8 Uhr eine Gasse am Tor 12 südlich des Haupttors, so daß die Busse herausfahren konnten. In der Folge wurde die musikalischen Blockade am Tor 9 mehrfach teilgeräumt, doch um 9:00 Uhr ertönte immer noch an allen Toren klassische Musik, und der Betrieb des Militärstützpunktes war weiterhin gestört. Um 9:30 Uhr wurde abermals am Tor 9 geräumt, um Fahrzeuge zu schleusen, wobei die Polizei diesmal deutlich ruppiger vorging. Um 9:40 Uhr wurde schließlich im Rundfunk berichtet, daß die Bundeswehr entgegen ihren Ankündigungen im Vorfeld der Aktion den Tornado-Flugbetrieb vorerst ausgesetzt habe.


Musikerinnen und Musiker der Lebenslaute in Aktion - Foto: © 2017 by Schattenblick Musikerinnen und Musiker der Lebenslaute in Aktion - Foto: © 2017 by Schattenblick Musikerinnen und Musiker der Lebenslaute in Aktion - Foto: © 2017 by Schattenblick

Fotos: © 2017 by Schattenblick


Musikerinnen und Musiker der Lebenslaute in Aktion - Foto: © 2017 by Schattenblick Musikerinnen und Musiker der Lebenslaute in Aktion - Foto: © 2017 by Schattenblick Musikerinnen und Musiker der Lebenslaute in Aktion - Foto: © 2017 by Schattenblick

Fotos: © 2017 by Schattenblick


Musikerinnen und Musiker der Lebenslaute in Aktion - Foto: © 2017 by Schattenblick Musikerinnen und Musiker der Lebenslaute in Aktion - Foto: © 2017 by Schattenblick Musikerinnen und Musiker der Lebenslaute in Aktion - Foto: © 2017 by Schattenblick

Fotos: © 2017 by Schattenblick

Gesundheitliche Folgeschäden anhaltenden Fluglärms

Als sich rund 100 Zuhörerinnen und Zuhörer vor dem Haupttor eingefunden hatten, konnte kurz nach 11 Uhr das angekündigte Konzert mit der Begrüßung einer Aktivistin der DFG-VK beginnen. Lebenslaute spielte ihr Konzertprogramm im Wechsel mit Redebeiträgen, die verschiedene Gründe zur Sprache brachten, warum die geplante Anschaffung von Kampfdrohnen, der Standort Jagel als solcher und letzten Endes die Bundeswehr abzulehnen sei. Thematischer Schwerpunkt war diesmal der schädliche Fluglärm, der unter anderem zu Gefäßschäden sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen könne. Angesichts der erheblichen Zunahme von Flugbewegungen auf dem Stützpunkt Jagel steigt die Belastung der in der Nähe wohnenden Menschen. Abhebende und landende Flugzeuge rufen einen abrupten Anstieg des Schallpegels hervor, der als besonders belästigend empfunden wird.

Wenngleich diesbezügliche Forschungsergebnisse an dieser Stelle nur angedeutet werden können und Interessierte auf entsprechende Hintergrundsmaterialien der DFG-VK verwiesen seien, verdichten sich doch die Anhaltspunkte für nachweisbare Folgeschäden. So sei im Tierversuch an Mäusen belegt worden, daß simulierter Fluglärm die Konzentration der Streßhormone erhöht und die Funktion der Gefäße beeinflußt. Demnach fördert Fluglärm Bluthochdruck, Herzinfarkt und Schlaganfälle. Bei einer anhaltenden Geräuschkulisse, die der des Fluglärms entspricht, waren bereits nach kurzer Zeit Gefäßstörungen festzustellen. In einer Studie mit 420 Anwohnern eines Flughafens seien in einem Untersuchungszeitraum von zwei Jahren bei 71 Teilnehmern Bluthochdruck und in 44 Fällen Herzrhythmusstörungen diagnostiziert worden, wobei 18 Personen sogar einen Herzinfarkt erlitten hätten. Mit der Zunahme des Fluglärms um zehn Dezibel sei die Wahrscheinlichkeit einer neuen Diagnose von Bluthochdruck um mehr als 50 Prozent gestiegen. Andere Studien legten nahe, daß diese Folgen auch dann auftreten können, wenn sich Menschen subjektiv nicht gestört fühlen. Besonders gefährlich am Fluglärm sei, daß es zehn bis fünfzehn Jahre dauern könne, bis die Gesundheitsschäden auftreten.


Tanzende Paare - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick

Antimilitaristischer Konzertsaal unter freiem Himmel

Ob Profis oder Laien, Lebenslaute vereinte Menschen mit musikalischem Talent und Engagement gegen Menschenwidriges an einem denkbar unwirtlichen Ort, der für die Frist der Zusammenkunft gänzlich anderen als den üblichen Zwecken zugeführt wurde. Hand in Hand mit der aufmerksamen Aktionsunterstützung verwandelte sich der Bereich vor dem blockierten Haupttor zum Stützpunkt, das für Stunden unpassierbar war, in einen Konzertsaal unter freiem Himmel. Das Wetter gab sich zwar wechselhaft, spielte aber weitgehend mit, so daß mit herbeigebrachten Pavillons zum Schutz der Orchesterinstrumente rasch Abhilfe geschaffen werden konnte, als einmal leichter Nieselregen einsetzte. Chor und Orchester begeisterten mit einer Vielfalt, die doch nie entuferte, da der antimilitaristische Grundtenor stets präsent war.


Teile des Chors, Transparent angreifende Soldaten - Fotos: © 2017 by Schattenblick Teile des Chors, Transparent angreifende Soldaten - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Fotos: © 2017 by Schattenblick

Ein zentrales Element im Konzertprogramm stellten Ausschnitte aus Georg Friedrich Händels Oratorium "Alexanders Fest" dar. So beschreibt Händel im Chorstück "Seht an" eindrücklich die Greuel des Krieges am Beispiel des Todes des Perserkönigs Darius. In der Arie "Waffenhandwerk bringt nur Unheil" beschwört Alexanders Geliebte den König, das Kriegführen sein zu lassen. Der anschließende "Jubelchor" ist die begeisterte Antwort des Volkes auf Alexanders Ankündigung, den Krieg zu beenden. Das Orchester spielte zudem Werke von Beethoven, die zum Tanz einluden, und der Komponistin Emilie Mayer (Faust-Ouvertüre). Der Chor sang nicht zuletzt Stücke aus Ländern, in denen Krieg herrscht, wie eine afghanische Weise und führte antimilitaristische Lieder, darunter "Sag Nein" von Rzewski auf, der einen Text von Kurt Tucholsky vertonte, in dem es heißt: "Ihr sollt nicht stramm stehn, ihr sollt nicht dienen, ihr sollt frei sein, zeigt es ihnen!" Neben Liedern über verstümmelte Kriegsteilnehmer ("Johnny, I Hardly Knew Ye") oder den Verlust der Liebsten im Krieg ("Trois beaux oiseaux du paradis" von Ravel) wurde auch das selbst arrangierte Lied "Die letzte Schlacht" von Ton Steine Scherben aufgeführt, das die Notwendigkeit der Beharrlichkeit im antimilitaristischen Engagement betont: "Den langen Atem haben wir!"

Nachdem das Lebenslaute-Konzert unter begeistertem Beifall mit einer Zugabe geendet hatte, setzte sich die Blockade des Haupttors noch geraume Zeit auf informelle, aber nichtsdestoweniger wirksame Weise fort. Es gab noch etwas Warmes zu essen und zu trinken, man unterhielt sich angeregt, und abschließend fand eine Auswertung der Aktion gemeinsam mit allen Anwesenden gleich vor Ort statt, womit der straffen militärischen Befehlshierarchie jenseits von Zaun und Tor nicht zuletzt auch eine ganz andere Form der Begegnung und Zusammenarbeit entgegengesetzt wurde.


Orchester von der Seite - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Zu den Aktionen am Fliegerhorst Jagel siehe auch:
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0255.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0335.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0336.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0339.html

[2] http://www.lebenslaute.net


23. August 2017


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