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BERICHT/317: Jour Fixe zur Rußlandrevolution - der verschleierte Konter ... (2) (SB)


Dies war der real-existierende "Kommunismus" und ohne diesen jahrhundertealten "Dorfkommunismus" hätte die marxistische Propaganda in der SU nie eine Chance gehabt. An ihm musste sie sich in den Symboliken und der Art ihrer Ansprache ausrichten. Auch Lenin knüpfte gegen seine eigenen Überzeugungen taktisch in der Initialphase des Oktobers an dieses dorfkommunistische Vorverständnis der Bauern an, indem er mit seinem Landdekret die Führung propagandistisch an sich riss, ein taktisches Zugeständnis mit der Perspektive einer "feindlichen Übernahme". Auf dem Lande spielte parallel zu den städtischen Umsturzaktionen die eigentliche soziale Hauptmusik, die viel tiefer ging und nicht so leicht zurückzuschrauben war, wie die Macht der Fabrik- oder Stadtteilsowjets.
Materialien zur Russischen Revolution [1]


Nach landläufigem Verständnis der deutschen Linken setzte die russische Arbeiterbewegung unter Führung der Bolschewiki die revolutionären Umwälzungen von 1917/1918 und den Aufbau der neuen Gesellschaft nicht nur gegen das Zarentum und die Klasse der Kapitalisten, sondern auch gegen den Widerstand der rückständigen Bauernschaft durch. Diese von einer westlichen Sichtweise geprägte Auffassung von Fortschritt und notwendigen Bedingungen einer Revolution bekommt erste und in der Folge immer tiefere Risse, erforscht man ausgiebiger und auf entsprechende Quellen gestützt die Lebensverhältnisse, Kämpfe und sozialen Utopien der russischen Dorfgemeinschaften. Dabei zeichnet sich mit anwachsender Deutlichkeit und Tragweite ab, daß das sogenannte Sozialkämpfertum kein rudimentärer und beschränkten Vorstellungen verhafteter Vorläufer der demgegenüber wirklich relevanten und zukunftsweisenden Auseinandersetzungen in den städtischen Fabriken war, die mit den traditionellen Wurzeln des Widerstands gegen die erdrückenden Verhältnisse gebrochen hätten.

Im überwiegend agrarisch geprägten Rußland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hing das Überleben der Menschen unmittelbar von ihrer Fähigkeit ab, die Selbstversorgung im dörflichen Rahmen gemeinsam zu organisieren. Nicht an sie herangetragene Ideologien, sondern die Lebens- und Produktionsbedingungen brachten eine Form des sozialen Umgangs hervor, die man als Urzelle kollektiven Handelns ausweisen könnte. Wer sich der Praxis verweigerte, die ohnehin oftmals kaum ausreichenden Lebensmittel zugunsten des Überlebens aller zu nutzen, mußte damit rechnen, sich selbst von dieser unabdingbaren existentiellen Voraussetzung abzuschneiden. In den Ohren westlicher Menschen, denen Besitzstand, Vereinzelung und Konkurrenz in Fleisch und Blut übergangen sind, während sie in ihrem Anspruch auf Versorgung im Netz unentrinnbarer Verfügung zappeln, mag dies archaisch, befremdlich oder grausam anmuten. Es entbehrt in der Tat heroischer Aufwallungen, paternalistischer Zuteilungen oder herablassender Hilfsleistungen, wie man sie im verteilungsgestützten Denken mit der Ausgestaltung sozialer Verhältnisse assoziiert.

Für Menschen, die als Linke große Stücke auf Kategorien wie eine gesellschaftliche materielle Basis halten, aus der jegliche Phänomene des Überbaus erst hervorgehen, sollte es andererseits keine unüberwindliche Hürde darstellen, sich den hier angedeuteten Erwägungen zumindest nicht von vornherein zu verschließen. Fern jeder Verklärung zu vermeintlichen Idyllen früherer Zeiten oder universellen Lösungsansätzen für die Probleme der Menschheit scheinen die aus der Not geborenen Verhältnisse in den russischen Dorfgemeinschaften doch unmittelbare Konsequenzen gezeitigt zu haben, die höchst bedenkenswert sind. Das gilt insbesondere für die daraus resultierenden Kämpfe, die in der Kette russischer Revolutionen eine sehr viel bedeutendere Rolle gespielt haben, als es die Geschichtsschreibung bislang realisiert hat.


Auf dem Podium - Foto: © 2018 by Schattenblick

Dieter Wegner und Rainer Thomann
Foto: © 2018 by Schattenblick


Damals wie heute - innere Zerwürfnisse der Arbeiterbewegung

Im Rahmen des Jour Fixe 162 der Hamburger Gewerkschaftslinken, der am 4. April im Curiohaus stattfand, stellten Rainer Thomann und Anita Friedetzky ihr Buch "1917. Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland" [2] vor. Nach ihren Vorträgen kam Dieter Wegner, der zu der Veranstaltung eingeladen hatte, mit einem eigenen Beitrag zu Wort, der den zweiten Teil des Berichts eröffnet. Als der Jour Fixe 2004/2005 ins Leben gerufen wurde, habe er sich davon eine Herangehensweise erhofft, die nicht wie in der Vergangenheit von heftigen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen K-Gruppen geprägt wäre. Damals hätten diese Fraktionen der Linken verbal aufeinander eingedroschen, während Gewerkschaften und SPD die lachenden Dritten gewesen seien. Wenngleich die K-Gruppen seither entweder ganz verschwunden oder weitgehend geschrumpft seien, endeten die Rivalitäten innerhalb der Linken nicht. Das habe ihn dazu veranlaßt, zur Urszene 1917 zurückzugehen, woraus ein Buch hervorgegangen sei, das heute einem Erneuerungsprozeß dienlich sein könnte.

Wegner führte Momente an, die einen Neuanfang der Arbeiterbewegung seines Erachtens seit jeher sehr schwer gemacht haben: Die Moskauer Prozesse und der Gulag haben das Bild des Kommunismus im Bewußtsein der Menschen ebenso geprägt wie die Vertreibung der Ostpolen nach Ostdeutschland und der 13 Millionen Ostdeutschen in die Westzone nach 1945. Als im August 1968 die Panzer in Prag rollten, habe er als Gründungsmitglied der SDAJ in Essen-Kray und in Hamburg miterlebt, wie diese junge Gruppe binnen drei Sitzungen umgedreht wurde. Plötzlich begrüßte eine Mehrheit den Einmarsch in Prag als notwendige Maßnahme zur Abwehr des Imperialismus. Daraufhin habe er die SDAJ verlassen und sei bei der Gruppe Arbeiterpolitik gelandet.

Auch heute breche sich der Herrschaftsanspruch gegenüber eigenständigen Betriebskämpfen Bahn. Deshalb sei das Credo des Jour Fixe, derartige Kämpfe zu unterstützen, damit sich die Konstellation nicht wiederhole, daß sich autoritäre kommunistische Parteien der Bewegung bemächtigen und die ArbeiterInnen zu Objekten degradieren. Die Apologeten des autoritären Kommunismus führten an, daß die Bolschewiki angesichts der damaligen Bedingungen nicht anders handeln konnten: Der Diktatfrieden von Brest-Litowsk mit dem Verlust großer Territorien und der Bodenschätze, der Krieg gegen die Weißen und die westlichen Interventionsarmeen, die Hungersnot, die Flucht aufs Land und der Widerstand der Bauern, die 80 Prozent der damaligen Bevölkerung Rußlands ausmachten. Dieselbe Haltung, daß es keine Alternative gebe, nähmen jedoch auch die Neoliberalen ein. In der Sowjetunion habe man sich nicht mit den sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Kräften auseinandergesetzt, um eine neue Gesellschaft aufzubauen, sondern sie liquidiert. 1918 wurden die linken Sozialrevolutionäre verhaftet und alle anderen sozialistischen Parteien und Strömungen beseitigt. 1938 wurde in den Moskauer Prozessen die gesamte alte Garde bis auf Alexandra Kollontai liquidiert, die als Botschafterin nach Skandinavien geschickt worden war und überlebte.

Das wesentliche Moment beim Aufbau einer Gesellschaft sei die Grundeinstellung der Akteure. Der französische Philosoph Alain Badiou sage mit Blick auf die Migration, daß die Vorstellungen zu jeder Situation Teil der Realität und von ihr nicht zu trennen seien. Es mache viel aus, ob man glaubt, ein Nomadenproletariat oder eine Ausländerinvasion vor sich zu haben. Beide Versionen seien möglich, hätten aber höchst unterschiedliche Konsequenzen. Ein weiteres Beispiel: Unter "schwarzer Pädagogik" verstand man die Erziehung noch bis in die 60er Jahre, der zufolge der Willen des Kindes gebrochen werden mußte, um es zu einem vollwertigen Subjekt der Gesellschaft zu machen.

Was hat das alles mit heute zu tun? Seit Gründung des Jour Fixe habe man Erfahrungen mit eigenständigen Betriebskämpfen gesammelt, mit den KollegInnen selbst, aber auch mit den Gewerkschaftsapparaten und politischen Gruppen. Das Verhalten der K-Gruppen sei unterschiedlich, teils fördernd, teils störend, teils sogar zerstörerisch. Förderlich sei beispielsweise eine K-Gruppe in Bremen, die nach der Entlassung von 1100 KollegInnen beim GHB und auch bei Daimler eine hervorragende Rolle gespielt habe. Ansonsten habe man jedoch schlechte Erfahrungen mit K-Gruppen gemacht, weil sie meinten, daß ihnen die Führung im Kampf zustehe.

Das Buch von Rainer Thomann und Anita Friedetzky schildere eine Urszene der Arbeiterbewegung, die zeitweise über große Macht verfügte. Diese Selbstermächtigung hat nach Einschätzung Wegners den Vorstellungen der Bolschewiki widersprochen und mußte deswegen beseitigt werden. Sie organisierten die Betriebe nach kapitalistischen und militärischen Prinzipen durch. Sie ergriffen 1917 die Staatsmacht. Die Fabrikkomitees wurden entmachtet, wobei die Umstände für die Bolschewiki günstig waren. Viele ArbeiterInnen gingen wegen der Hungersnot aufs Land zurück, in Moskau und Petersburg 50 bis 60 Prozent des Proletariats. Von den restlichen wurden viele für die Armee und den Verwaltungsapparat rekrutiert. Daher gab es wenig Widerstand bei der Eingliederung und Unterordnung der Fabrikkomitees in die Gewerkschaften, die inzwischen von staatstreuen Bolschewiken beherrscht wurden. Zum Beleg dieser These zitierte der Referent eine Passage aus dem Buch (S. 351):

Die meisten betrieblichen AktivistInnen, die den Bolschewiki nahestanden oder sogar Parteimitglieder waren, vertrauten der neuen Regierung. Charakteristisch dafür ist die Aussage eines bolschewistischen Sprechers des Zentalrats der Fabrikkomitees anläßlich der Konferenz im Februar 1918, welche die Eingliederung in die Gewerkschaften mit überwältigender Mehrheit guthieß: "Wenn wir von Anfang an eine Einstellung des Mißtrauens an den Tag legen, werden diese Organe, also der Oberste Volkswirtschaftsrat, kaum ordentlich funktionieren können. Nur ein Anarchist, der im allgemeinen jeder Führung mißtraut, könnte eine solche Einschränkung vorschlagen. Aber wir, das Proletariat, bauen eine Führung nach dem Prinzip der vollendeten Demokratie auf. Wenn diese Organe sich wirklich von den Massen abwenden, werden wir selbstverständlich eine solche Einschränkung einführen. In der Tat, wir werden diese Organe stürzen und vielleicht eine neue Revolution machen müssen. Aber bisher meinen wir, daß der Rat der Volkskommissare unser Rat ist und daß die Institutionen, die er einrichtet, mit uns übereinstimmen."

Dieser klassenbewußte und stolze Genosse hatte keine Gelegenheit mehr, diese Organe zu stürzen, so der Referent. Die Gelegenheit kam nie wieder, nachdem der Staat installiert war. Als die Kronstädter Matrosen eine neue Revolution machen wollten, die sie die dritte nannten, wurden sie abgeschossen "wie die Rebhühner", wie es Trotzki gefordert haben soll.

Die Arbeiter, Bauern und Soldaten haben die erlangte Macht meines Erachtens nicht freiwillig wieder aus der Hand gegeben, schloß Wegner seinen Beitrag. Das wäre eine Darstellung der Geschichte, als wären sie nach ihrem epochalen Sieg über den Zarismus schlapp, verwirrt und feige gewesen. Zwei Ideen standen einander gegenüber: Emanzipation und Selbstermächtigung mittels libertärem Kommunismus oder autoritär-bürokratischer Kommunismus. Die Bolschewiki mußten die Arbeitermacht besiegen durch die Niederschlagung der Kronstädter Revolution, die Niederschlagung der Machno-Bewegung, die Beseitigung der Arbeiteropposition mit Kollontai und Alexander Schljapnikow an der Spitze und durch den Krieg gegen die Klasse der Bauern.


Zum Verhältnis von Bauern- und Arbeiterklasse

Wie in der anschließenden Diskussion deutlich wurde, überzeugte die These, die Bolschewki hätten eine autoritäre Herrschaft angestrebt und durchgesetzt, nicht alle Anwesenden. So seien die Todesurteile zunächst gegen Plünderer wiedereingeführt worden, auch habe es Konflikte zwischen privilegierten und zugewanderten Arbeitern gegeben, Komitees seien zu den Weißen übergelaufen. Es gelte genau zu untersuchen, was sich in dieser historischen Situation abgespielt hat. Daß Lenin und eine Handvoll Leute ein Land von 140 Millionen Einwohnern, in dem 80 Prozent Bauern waren, vorsätzlich aus der Revolution in eine stalinistische Herrschaft überführt hätten, sei nicht nachvollziehbar.

Dazu gab Anita Friedetzky zu bedenken, daß die Bolschewiki ihres Erachtens nicht von vornherein eine solche Entwicklung geplant hätten. Die tatsächlichen Verhältnisse seien sehr viel komplizierter gewesen: Die ArbeiterInnen sahen die Bolschewki zunächst als ihre Hoffnung, weil diese ihre Forderungen bis hin zum bewaffneten Aufstand aufgriffen. Zudem spielten sich innerhalb der Bolschewiki Fraktionskämpfe ab, die es bei der Einschätzung zu berücksichtigen gilt.

Auf die Frage, warum es den ArbeiterInnen nicht gelungen sei, die Erfahrung der Organisierung in der Fabrik mit aufs Land zu nehmen, erwiderte Rainer Thomann, es habe sich eher umgekehrt verhalten: Vieles spreche dafür, daß sie ihre Erfahrungen vom Dorf in die Fabrik brachten und die Komitees und Räte deshalb zum Markenzeichen der russischen Arbeiterbewegung wurden, weil es die Praxis der Dorfversammlung gab.

Das Verhältnis einer Bauernklasse zur Arbeiterklasse in Rußland stand alsbald im Mittelpunkt der Diskussion bei diesem Jour Fixe. Einer Einschätzung zufolge hatten die beiden Klassen unterschiedliche Interessen, wobei die Bolschewiki in entscheidenden Punkten die Interessen der Bauern akzeptieren mußten, die sich das Land genommen hatten. Die freie Arbeitermacht wäre nur mit Hilfe aus Westeuropa möglich gewesen. In Rußland wurden jedoch die unterschiedlichen Klasseninteressen der Arbeiter und Bauern in einen Staat eingesperrt, woraus die folgenden Probleme resultierten.

Einer anderen Auffassung zufolge handelt es sich in beiden Fällen um produktive Klassen. Die Bauern beharren auf ihrem Landbesitz, weil sie damit arbeiten können. Die Sowjetmacht enteignete aufgrund ihrer Ideologie, daß Eigentum nicht sein dürfe, die Bauern und nahm ihnen ihren Stolz. Dadurch sank die Produktivität auf dem Land. Die Vorstellung einer Avantgarde tendiert dazu, in eine Diktatur überzugehen, sobald die Abhängigkeit der Menschen von der Führung hergestellt ist. Die Arbeiterschaft braucht wie jede Bewegung eine Führung, doch eine Avantgarde, die immer recht hat, ist nicht die Lösung der Revolutionsfrage.

Ein weiterer Diskussionsbeitrag richtete den Blick darauf, daß die Bolschewiki bis 1928/29 alles versucht hätten, das Bündnis mit den Bauern aufrechtzuerhalten: Sie haben die Neue Ökonomische Politik eingeführt, die Bauern durften sich bereichern und Handel treiben. Die Industrie hatte jedoch nichts, was sie den Bauern liefern konnte, weshalb diese umgekehrt auch die Städte nicht versorgten. Dieser Konflikt konnte nicht gelöst werden. Die Kollektivierung erfolgte zunächst auf freiwilliger Basis, doch konnten die neugegründeten Kolchosen kein überzeugendes Beispiel geben, weil es ihnen an Traktoren fehlte. So wurde der Konflikt im Zuge der Industrialisierung gewaltsam entschieden. Ab 1934/35 stieg die landwirtschaftliche Produktion tatsächlich stark an. Ohne diese Entwicklung zu rechtfertigen, müsse man doch berücksichtigen, daß sich die Bolschewiki als Vorreiter einer westeuropäischen Revolution gesehen hatten, zu der es jedoch nicht kam. Die erhoffte Hilfe vor allem seitens der deutschen Industrie beim Aufbau blieb bekanntlich aus. Marx habe nicht von einer Bauernrevolution gesprochen, sondern daß die Arbeiter die Entwicklung der Produktivkräfte in ihre eigene Regie übernehmen. Das gab es in Rußland nicht. Dort fand faktisch eine Bauernrevolution statt, auch wenn die Führung in den Städten bolschewistisch war.


Plenum und Podium - Foto: © 2018 by Schattenblick

Revolutionäre Geschichte aneignen ...
Foto: © 2018 by Schattenblick


"Land und Freiheit!"

Frank, der sich ausgiebig mit den Lebensverhältnissen und Kämpfen der russischen Bauernschaft auseinandergesetzt hat, vertiefte diese Thematik in mehreren Diskussionsbeiträgen, die hier zusammengefaßt dargestellt werden. Wie er hervorhob, ist die Dorf-Stadt-Migration in diesem Zusammenhang ein zentrales Thema, weil die russische Arbeiterklasse zum überwiegenden Teil vom Dorf kam. Der Großteil der militanten Arbeiter auf der Straße waren Bauern-Arbeiter. Das Dorf war zugleich eine Lebensversicherung, was die Ernährung betrifft, weil dort Eigenversorgung vorherrschte. Auch sich eigenständig in der Landwirtschaft zu organisieren, war eine Selbstverständlichkeit. Herrschte Hungersnot in den Städten, gingen die Menschen aufs Land zurück. Sie haßten ohnehin die Fabrikarbeit unter einem Hallendach, den rigiden Zeitrhythmus.

Die Frage der Migration war und ist brandaktuell, schlug der Referent einen Bogen zu der aktuellen Flüchtlingsproblematik. Die Massenmigration aus ländlichen Strukturen in die Metropolen erfolgt, weil die heimischen Strukturen zerstört werden, nicht reichen oder weil die Menschen durch Großagrarier vertrieben werden. Das war damals und ist heute die Realität. Auch in den USA bestand die Mehrheit der radikalen Kämpfer aus Migrationsarbeitern und nicht etwa aus gut bezahlten Facharbeitern.

Im Zuge der Bauernbefreiung des Jahres 1861 bekam die Landbevölkerung erheblich weniger, als sie erhofft hatte. Von da an gingen stets Teile der Familie in die Stadt, um dort Geld zu verdienen, das es auf dem Land nicht gab. Geldeinkommen aus saisonaler Arbeit in der Stadt oder durch Ernteeinsätze in anderen Gegenden war erforderlich, damit etwas Bargeld für notwendige Anschaffungen ins Haus kam. In der Hungersnot 1917/18 und in der Folgezeit entwickelte sich die Migration zum wesentlichen neuen Kampfmittel, gegen das Migrationsbeschränkungen mit Kontrollstellen eingeführt wurden. Die Kampffront verlief zwischen der Migration und ihrer Einschränkung, weshalb man von einer Analogie zu den heutigen Verhältnissen sprechen könne.

Rußland unterschied sich damals von der Agrarstruktur her grundlegend von Westeuropa. Die Bauern kannten keine Lohnarbeit und keine Knechte, sie lebten in Subsistenzgemeinden. Sie hatten eine eigene Utopie von Kommunismus völlig ohne Marx. Die Aneignung des Landes hatte eine sehr lange Vorgeschichte der Hoffnung, deren Grundparole lautete: "Land und Freiheit!" So hieß auch die erste revolutionäre Organisation in den 1860er Jahren, und das war eine weltweite Parole, die es auch in Mexiko, in der Türkei und in vielen anderen Ländern gab, wo sich die Landbevölkerung noch selbst ernährte und gegen die Geldwirtschaft, die Vorherrschaft der Stadt, der Konzerne und Handelshäuser wehrte. Die Aneignung des Landes 1917 in Rußland war eine selbstorganisierte Umwälzung von unten, die überhaupt nichts mit Bolschewismus zu tun hatte. Im Gegenteil: Die eigentliche Sozialrevolution kam vom Lande her, es war eine Bauernrevolution.

In der Phase der Neuen Ökonomischen Politik ging es um die Frage der Tauschrelation von Agrarerzeugnissen und städtischen Gütern. Es war das Terrain eines Klassenkampfes zwischen Staat oder Stadt und den Bauern. In den 1920er Jahren mußten die Investitionen in die Industrialisierung finanziert werden, und der Staat unter Stalin forderte, mehr aus den Bauern herauszuholen. Vor dem Ersten Weltkrieg war Rußland ein Agarexportland, es wurden Überschüsse aus dem weltweiten Verkauf von Agrarerzeugnissen erzielt. Warum sollte das nicht wieder möglich sein? Wie im Kriegskommunismus wurde erneut Krieg gegen die Bauern geführt, um ihnen das Getreide mit Gewalt oder sogar das Land zu nehmen. Die revolutionäre Utopie der Bauern und der Bauernarbeiter in der Stadt bestand darin, daß alle von ihrer Hände Arbeit leben können und egalitär und gleichberechtigt sind. Der Marxismus einer Sozialdemokratie war hingegen die technokratische Entwicklungskonzeption, aus Rußland einen Industriestaat zu machen. Lenin hatte dies aus der deutschen Sozialdemokratie und Kriegsökonomie übernommen. Es handelte sich also um grundverschiedene Entwürfe für die Zukunft eines angeblich rückständigen Landes, das vielleicht gar nicht so rückständig war, wenn man die menschlichen Beziehungen ansieht, denn die waren fortschrittlich und weit weniger entfremdet als im Westen. Die Solidarität in den russischen Massen ist aufgrund ihrer Geschichte eine andere als im durchkapitalisierten Westen.

Während sich die Bolschewiki ursprünglich die Enteignung und Verstaatlichung des Großgrundbesitzes auf die Fahne geschrieben hatten, wollten ihn die Sozialrevolutionäre sozialisieren. Als Lenin 1917 in seinen Aprilthesen auch die Forderung "Den Bauern das Land!" erhob, übernahm er ins revolutionäre Programm, was seine Partei zuvor bekämpft hatte. Damit gewann er vorübergehend die Bauern für sich, was ihm später den Vorwurf einbrachte, er habe zu der Zeit eine anarchistische Phase durchlaufen.


Rainer Thomann mit Buch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Resümee und Ausblick
Foto: © 2018 by Schattenblick


Parteienspaltung zersetzt Arbeitermacht

In einem abschließenden Redebeitrag betonte Rainer Thomann noch einmal, daß die eingangs gestellte Frage, wie es möglich war, daß die Arbeitermacht innerhalb eines Jahres wieder verlorenging, im Buch nicht erschöpfend beantwortet wird. Die Geschichte sei sehr viel komplexer, als sie sich auf den ersten Blick darstellt. Vom Frühjahr bis zum Oktober 1917 habe man die Ereignisse anhand der Putilow-Protokolle detailliert geschildert, für die anschließende Phase bis Sommer 1918 mittels bruchstückhafter Quellen und Zitaten in der Sekundärliteratur versucht, ein Puzzle zusammenzufügen, das keinesfalls vollständig sei. Es zeichne sich jedoch ab, daß die Entwicklung in dem riesigen Reich unterschiedlich verlief. So existierte einer Untersuchung zufolge offenbar im Ural längere Zeit eine funktionierende Wirtschaft, die nach dem Räteprinzip aufgebaut war.

Besonders zersetzend habe sich der Streit unter den von Intellektuellen geführten sozialistischen Parteien ausgewirkt. Seit der Menschewiki-Bolschewiki-Spaltung 1903 habe die Arbeiterbewegung immer wieder versucht, diese Fraktionen erneut zusammenzuführen. Nach der Revolution von 1905 war die Partei praktisch wieder vereint, es folgten weitere Spaltungen und Annäherungen. Bei seiner Rückkehr im April 1917 platzte Lenin in eine Vereinigungskonferenz der beiden Fraktionen, die an seinen Thesen scheiterte. Die Spaltung war an der Spitze vollzogen, doch vergingen Monate, bis sie in allen Regionen auch die Basis erreicht hatte. Es gebe Hinweise, daß auch nach der Oktoberrevolution in einigen Stadtteilen Petrograds bolschewistische Arbeiteraktivisten Propaganda für eine erneute Vereinigung machten. In den Protokollen fänden sich Resolutionen auf Bezirksebene, in denen es heißt, wir verstehen die Streitereien der da oben nicht, halten sie aber für sehr gefährlich. Für uns hier unten bringt das gar nichts. Die Spaltung setzte sich nach der Oktoberrevolution bis in die Betriebe hinein fort, was wesentlich zum raschen Zerfall der Arbeitermacht in Petrograd beigetragen haben dürfte.

Die Oktoberrevolution legalisierte die Landverteilung, den Frieden, die Arbeiterkontrolle, auf der anderen Seite aber auch repressive Tendenzen wie etwa die Pressezensur. Aufrufe erfolgten nun im Befehlston, doch war in dieser Phase noch offen, in welcher Richtung es weitergehen würde. Der wirtschaftliche Verfall wurde wohl zu einem wesentlichen Teil von den Fabrikbesitzern bewußt zur Destabilisierung vorangetrieben. was die durch den Krieg und den Zusammenbruch des Logistiknetzes hervorgerufenen Probleme zusätzlich verschärfte. Der Diktatfrieden von Brest-Litowsk brachte diese Situation endgültig zum Kippen. Nachdem die Verhandlungen gescheitert waren, erklärte die sowjetische Delegation, sie unterschreibe nicht, doch werde der Krieg auch nicht weitergeführt und die Armee demobilisiert. Das schien im ersten Moment zu funktionieren, bis der deutsche Kronrat erklärte, man müsse den Bolschewiki eine Lehre erteilen. Das führte zur Kapitulation, deren Ergebnis auf russischer Seite als Tausch Raum gegen Zeit gerechtfertigt wurde.

Um die These zu belegen, daß eine stille Gegenrevolution stattgefunden hat, seien weitere Forschungen nötig, insbesondere was die entscheidenden Monate unmittelbar nach der Oktoberrevolution betrifft. "Mein Ziel war es, der Beantwortung der Frage einen Schritt näher zu kommen und sich nicht mit abschließenden Antworten zufriedenzugeben, die man sich seit Jahrzehnten zusammengebastelt hat", war Rainer Thomann das Schlußwort des gehaltvollen und aufschlußreichen Jour Fixe vorbehalten.


Fußnoten:

[1] http://www.materialien1917.org/310-2/

[2] Rainer Thomann, Anita Friedetzky: Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland. Die Buchmacherei, Berlin 2017, 682 S., 24 Euro, ISBN 978-3-00-057043-8


Berichte und Interviews zum Jour Fixe "Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland" im Schattenblick unter:
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BERICHT/317: Jour Fixe zur Rußlandrevolution - der verschleierte Konter ... (1) (SB)

23. April 2018


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