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BERICHT/323: Kolonialwirtschaftsgeschichte - Verhaltens- und Umfeldsmerkmale ... (SB)


Graphik: [Public domain], via Wikimedia Commons

Historische Fotomontage - General Paul von Lettow-Vorbeck (l.) und Heinrich Schnee (r.), letzter Gouverneur von "Deutsch-Ostafrika"
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Völkermord verjährt nicht. Dies ist zugleich ein völkerrechtliches Bekenntnis zu einem unverhandelbaren Straftatbestand, für den es keine mildernden Umstände gibt. Verbrechen dieser Art müssen geahndet werden. Auch die Ausflucht von der Gnade der späten Geburt, mit der einst ein hoher Regierungsvertreter einen Schlußstrich ziehen wollte hinter einem düsteren Kapitel der deutschen Geschichte, kann die Verantwortlichkeit für einen staatlich organisierten Mord nicht von der Gegenwart weg in eine abgegrenzte Epoche zurückdrängen. Auch wäre es fatal, den Nachgeborenen die Möglichkeit zu nehmen, sich dieser Auseinandersetzung zu stellen, welche weniger historisch begründet ist als vielmehr mit Blick auf die den NS-Verbrechen innewohnende und weit ausgreifende Ideologie, die über den Zusammenbruch des Unrechtregimes hinaus mehr oder weniger hartnäckig oder unterschwellig weiterhin im Bewußtsein der deutschen Gesellschaft fortdauert, wie der aktuelle und in seiner Brisanz kaum abzuschätzende Asylstreit innerhalb der Unionsfraktion deutlich macht.

Beim Stichwort Vergangenheitsbewältigung geht es nicht um Opferkult oder Schuldkomplex, und doch darf die Stimme von Millionen hingemeuchelter Menschen nicht mit ihrem Tod verstummen, solange die Voraussetzungen, die ein Menschheitsverbrechen wie den Völkermord im großen Stil erst möglich machten, noch wie ein gärender Schatten auf der Gegenwart lasten und das zivilgesellschaftliche Miteinander von Menschen unterschiedlicher Denkart und Herkunft zu vergiften drohen. Haß auf Migranten, Fremdenfeindlichkeit und die Untiefen des Rassismus, das Gefühl der Überlegenheit gegenüber anderen Kulturen und Lebensentwürfen, rassenideologisch überformt und in ein Staatsprogramm übersetzt, sind beileibe keine Erfindungen des Nationalsozialismus, sondern fanden bereits im Deutschen Kolonialreich einen wegweisenden Geburtshelfer.


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Der Innenhof des Rathauses der Kolonialmetropole Hamburg in einer zwischen 1890 und 1905 erstellten Aufnahme
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Wer mit offenen Augen durch Hamburg geht, findet vielerorts Spuren der deutschen Kolonialgeschichte, seien es Straßennamen, die nach heutigen Maßstäben Kriegsverbrecher ehren, oder die ehemalige Lettow-Vorbeck Kaserne, ein denkmalgeschütztes Gebäude, über deren Eingang die Konterfeis von Paul von Lettow-Vorbeck und Lothar von Trotha thronen, die als Kommandeure deutscher Truppen in Deutsch-Südwestafrika die Aufstände der Herero und Nama mit schonungsloser Härte niederschlugen. Die Aufzählung ließe sich schier endlos fortsetzen. Was man jedoch nicht findet, sind Gedenktafeln, die an das unsägliche Leiden und Sterben der vom Deutschen Kaiserreich kolonisierten Menschen erinnern.

Selbst das bekannteste Wahrzeichen Hamburgs ist von diesem Makel nicht frei. Betritt man die St. Michaelis-Kirche, so stößt man auf eine an gefallene und vermißte Soldaten aus Hamburg in den Kolonialkriegen gedenkende Tafel. Daß diese 1912 angebrachte Militärtafel noch immer ohne Kommentar zu den historischen Hintergründen dort prangt und so die deutsche Kolonialvergangenheit unangefochten in der Aureole einer Kriegsverherrlichung aufstrahlen läßt, ist beschämend für eine Stadt, die sich weltoffen gibt, und ein Affront gegen die Opfer des deutschen Kolonialismus und ihre Nachfahren, die mit keinem Wort erwähnt noch gewürdigt werden. Invasoren und Soldaten brachten den Tod in die Kolonien, nicht umgekehrt.

Die durch Landenteignung und blutige Unterwerfung ohnehin zerrütteten Lebensumstände der Herero verschärften sich noch, als 1900 die "Otavi-Minen-und Eisenbahn-Gesellschaft" gegründet wurde. Zu dem deutsch-britischen Konsortium gehörten auch Kaufleute und Banken aus Hamburg wie etwa die Norddeutsche Bank. Ihr Ziel war es, die in der Region Otavi entdeckten Kupfervorkommen abzubauen und abzutransportieren. Die Kupfergewinnung erfordert Unmengen an Wasser. Um dies zu gewährleisten, wurden den Herero nicht nur die Wasserrechte unentgeltlich aberkannt. Männer, Frauen und Kinder mußten zudem in Zwangsarbeit die Bahnstrecke bauen, was bei schlechter Versorgungslage und unmenschlichen Arbeitsbedingungen Tausenden das Leben kostete. Als die kolonisierten Stämme gegen den Raub ihrer Ressourcen und die Fron ihrer Ausbeutung aufbegehrten und in verzweifelten Aktionen der kaiserlich deutschen Schutztruppe die Stirn boten, gab Lothar von Trotha eine Order aus, die einem Vernichtungsbefehl gleichkam: "Die Herero sind nicht mehr Deutsche Untertanen. Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen. Das sind meine Worte an das Volk der Herero."


Foto: © 2018 by Schattenblick

Prof. Dr. Rainer Nicolaysen (Moderator), Millicent Adjei und Tom Gläser (v.l.n.r.)
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In der Runde der am 4. Juni in der Patriotischen Gesellschaft von 1765 ausgetragenen Podiumsdiskussion zum Thema "Hamburgs koloniales Erbe - Wie gehen wir mit unserer Geschichte um?" saßen mit Millicent Adjei und Tom Gläser auch zwei Menschen mit schwarzer Hautfarbe, die sich seit längerem für eine Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte einerseits und die Aufhebung rassistisch motivierter Formen von sozialer Ausgrenzung und Benachteiligung andererseits engagieren.

Millicent Adjei ist Mitgründerin und Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins ARCA - Afrikanisches Bildungszentrum e.V. -, der politisch mit diversen Initiativen und Vereinen der Black Community vernetzt ist, und darüber hinaus aktives Mitglied im Arbeitskreis Hamburg Postkolonial. Neben ihrem Studiumsabschluß in Sozialökonomie hat sie eine Qualifikation als Kommunikationstrainerin, Ausbilderin und Coach und moderiert Workshops zu verschiedenen Themen, unter anderem zu Rassismus. Als Aktivist in der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und Mitbegründer des "Arbeitskreises Quo vadis, Hamburg?" hat Tom Gläser Anfang April dieses Jahres eine Konferenz initiiert, die sich mit der kolonialen Vergangenheit der Hansestadt Hamburg auseinandersetzte. Der freie Journalist ist zudem mit den Ursachen und Folgen des Racial Profilings befaßt.

Im Jahr 2003 nahm der Arbeitskreis Hamburg Postkolonial seine Arbeit auf. Initial war das Protokoll der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus, rassistische Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz 2001 im südafrikanischen Durban. Daß sie überhaupt zustande kam, nachdem die Welt jahrzehntelang zu Afrikas Belangen, Nöten und nachkolonialen Konflikten um Weideflächen, Wasserstellen und Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Clans und Stammesgruppen geschwiegen hatte, für die die alten Kolonialmächte und ihre Nachfolgestaaten ein gerüttelt Maß an Mitverschulden tragen, war einer von schwarzen Initiativen und NGOs freigetretenen Bewegung zu verdanken. Sie war es auch, die die Frage nach der Verantwortlichkeit seitens des Kolonialismus für die wirtschaftlichen und politischen Krisen fast aller Staaten auf dem schwarzen Kontinent offen und ungeschminkt aufs Podium brachte.


Foto: © 2018 by Schattenblick

Millicent Adjei vom Arbeitskreis Hamburg Postkolonial
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Millicent Adjei erinnerte in dem Zusammenhang daran, daß die Abschlußerklärung der Konferenz die westlichen Staatenwelt dazu aufforderte, eigene nationale Aktionspläne zur Bekämpfung direkter und indirekter Formen von Rassismus in allen Lebensbereichen zu verabschieden und dabei auch die Erfahrungen schwarzer Menschen mit institutioneller Diskriminierung miteinzubeziehen. Die Unterzeichnerstaaten erkannten Sklaverei und Sklavenhandel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit an und daß der Kolonialismus den Rassismus in maßgeblicher Weise befördert habe. Dennoch gelang es den an der Konferenz beteiligten Nichtregierungsorganisationen der Schwarzen nicht, die Forderung nach einer Entschuldigung für Verbrechen der ehemaligen Kolonialstaaten ins Abschlußpapier einzubringen, geschweige denn, daß Reparationen für Kolonialverbrechen und ihre Folgen vereinbart werden konnten. Erschwert und verzögert wurde die Umsetzung der Aktionspläne durch die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon in den USA kurz nach der Beschlußfassung.

Ungeachtet dessen stellte der im Dokument festgeschriebene Perspektivwechsel, die Opfer von Rassismus in politische Umsetzungs- und Entscheidungsprozesse einzubinden, einen ersten Schritt dar. Das Ziel einer von Repression und Rassismus befreiten Gleichbehandlung von Schwarzen war damit zwar nicht erreicht, aber sie hielten nun einen UN-Beschluß in Händen, der ihre Position unvergleichlich stärkte und so ihrem Kampf um Gerechtigkeit den nötigen internationalen Rahmen verlieh, um selbstbewußt für ihre Rechte einzutreten. Als das Bundeskabinett 2008 den Nationalen Aktionsplan verabschiedete, kritisierten ihn schwarze Menschenrechts- als auch zivilgesellschaftliche Organisationen als substanzlos und nicht zielführend und suchten für ihr politisches Ansinnen neue Verbündete. 2010 forderten postkoloniale Initiativen in einer bundesweiten Resolution eine kritische Aufarbeitung des kolonialen Erbes vor Ort, verbunden mit einer umfassenden Erinnerungskultur, die vom Deutschen Städtetag unterstützt wurde. Darin ging es um nichts geringeres als die Anerkennung schwarzer Menschen als Teil der deutschen Migrationsgesellschaft. Die Debatte um einen verantwortungsvollen Umgang mit dem deutschen Kolonialerbe hatte Fahrt aufgenommen, auch weil Opferverbände der Herero und Nama gegen die Bundesregierung eine Klage mit der Forderung nach Wiedergutmachung vor einem US-Gericht einreichten. Die Politik sah sich offenbar zum Handeln gezwungen, und so wurde wenigstens die Provenienzforschung von in der Kolonialzeit geraubten Kulturschätzen erstmalig im Koalitionsvertrag festgeschrieben.

Die Sichtbarmachung von Perspektiven schwarzer Menschen und People of Coleur ist dem Arbeitskreis Hamburg Postkolonial zufolge eine ebenso drängende öffentliche Aufgabe wie die bis heute vernachlässigte Darstellung der Geschichte des schwarzen Widerstands gegen Sklavenhandel, Kolonialismus und Apartheidsregime. Dieser weitgehend aus der Wahrnehmung verschwundene Aspekt ist umso wichtiger, als sich im Chor kolonialverherrlichender Legendenbildungen verbissen die Mär hält, die kolonisierten Völker hätten sich nur zu bereitwillig ins Joch ihrer weißen Herren begeben, um so am technologischen Fortschritt - Eisenbahn, Verwaltung, ertragreiche Landwirtschaft - und den hohen Rechts- und Kulturnormen der zivilisierten Welt partizipieren zu können. Nichts könnte aus Sicht von Millicent Adjei weiter an der Wirklichkeit vorbeigehen. Als Leitmotiv für eine beiderseits fruchtbare Aussöhnungs- und Entwicklungspolitik zwischen Afrika und Europa muß mit Blick auf Hamburg als einstigem Drehkreuz des internationalen Handels mit afrikanischen Kolonialwaren die Dekolonisierung des öffentlichen Raums und der gesellschaftlichen Institutionen stehen. Dazu gehört die Kartierung der vielen kolonialen Spuren im Stadtbild wie auch die Umbenennung von Straßen, die bis heute mit fast schon pedantischer Beharrlichkeit Kolonialverbrecher und Profiteure des Sklavenhandels in einer Weise ehren, als stünde Kolonialrecht über dem Menschenrecht.


Foto: By Anonymous (Collection H.T. Critenden) [Public domain], via Wikimedia Commons

Diesel-Triebfahrzeug "Kronprinz", 1914 zum Nutzen der Otavi Minen- und Eisenbahn-Gesellschaft eingesetzt
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Anders als Hamburg ging Berlin in der Umkehr der Erinnerungsperspektive mit gutem Beispiel voran, als das Kreuzberger Gröbenufer 2009/10 in May-Ayim-Ufer unbenannt wurde. Im März dieses Jahres brachten die drei großen Fraktionen der BVV Berlin Mitte im Rathaus Tiergarten weitere Vorschläge zur Umbenennung der Petersallee, der Lüderitzstraße und des Nachtigalplatzes in Maji-Maji-Allee, Anna-Mungunda-Straße und Manga-Bell-Platz ein. Statt der zweifelhaften Ehrung der Gründer der ehemaligen Kolonien Deutsch-Ostafrika (Carl Peters), Deutsch-Südwestafrika (Adolph Lüderitz) bzw. Kamerun und Togo (Gustav Nachtigal) in Berlins "Afrikanischem Viertel" soll tansanischer, namibischer und kamerunischer Widerstand gegen das deutsche Kolonialreich gewürdigt und so ein Erinnerungsort mit politischem Sendungsbewußtsein geschaffen werden. Bei der Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands (1905-07) in Deutsch-Ostafrika starben durch das deutsche Kolonialregime bis zu 300.000 einheimische Kinder, Frauen und Männer. Die Anti-Apartheid-Aktivistin Anna Mungunda (1932-1959) wurde während einer Demonstration gegen die Zwangsumsiedlung der schwarzen Bevölkerung von Windhoek erschossen. Sie wird in Namibia als Nationalheldin geehrt. Der Manga-Bell-Platz wiederum soll an den von den deutschen Besatzern hingerichteten kamerunischen Widerstandsführer Rudolf Manga Bell (1873-1914) erinnern.


Foto: By Denis Barthel [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)], from Wikimedia Commons

Straßenschild der nach Adolf Lüderitz benannten Lüderitzstraße im "Afrikanischen Viertel" im Berliner Wedding
Foto: By Denis Barthel [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)], from Wikimedia Commons

Mit Ausstellungen, Bildungsveranstaltungen und Seminaren auf Bundesebene und Studienkooperationen mit schwarzen Communities und postkolonialen Initiativen im Ausland will der Arbeitskreis ein kritisches Bewußtsein für eine Auseinandersetzung mit der kolonialen und imperialen Vergangenheit und Gegenwart Europas schaffen. Nur wenn man Unrecht beim Namen nennt, Brücken nicht ab-, sondern aufbaut, lassen sich aktuelle Herrschaftsstrukturen und neokoloniale Ressentiments überwinden, damit die Vision eines gleichberechtigten Zusammenlebens aller Menschen eine Zukunft bekommt. Im Sinne der geteilten Geschichte müßten Millicent Adjei zufolge schwarze Communities selbstverständlich an politischen Gremien zu Fragen von Rassismus und Kolonialismus beteiligt werden. Für sie ist es immer wieder erschreckend, erfahren zu müssen, wie wenig Menschen von heute von den Kolonialverbrechen der Vergangenheit wissen und wie unreflektiert und kritiklos Stereotypien über schwarze Menschen in der Werbebranche, im öffentlichen Diskurs und Kulturbetrieb reproduziert und verfestigt werden.

Der Kolonialismus stellt für sie ein institutionelles System dar, dazu erschaffen, um schwarze Menschen zu versklaven und auszubeuten. Rückendeckung erhielt er durch Wissenschaftler, die die Rassenideologie ihrer Zeit mit abwertenden anthropologischen Konstruktionen unterfütterten und dieses Denken damit transportabel machten, ein Denken, das für Millicent Adjei immer noch existiert und als diskriminierende Ausgrenzungserfahrung den Alltag von schwarzen Menschen dominiert. Daß es heute noch Läden gibt, die sich mit Kolonialwarenmarkt betiteln, sei ein deutlicher Beleg für koloniale Kontinuitäten. Symbolhandlungen wie eine öffentliche Entschuldigung reichten nicht aus, zumal diesem Eingeständnis keine Konsequenzen und Taten folgten. Schmerz und Zorn lagen in ihrer Stimme, als sie ins Plenum hinein fragte, was es für eine Gesellschaft und Menschen wie sie bedeutet, wenn Straßen die Namen von Kolonialverbrechern tragen, die gemordet und gelyncht haben.


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Tom Gläser von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland
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Tom Gläser hob hervor, daß die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) seit ihrer Gründung vor über 30 Jahren die Aufarbeitung des Kolonialsmus als politisches und nicht als historisches Projekt, wie es oft dargestellt wird, begreift. Politisch deswegen, weil sich ein Bogen von der Vergangenheit bis in die Gegenwart spannen läßt. Für ihn ist die aktuelle Flucht- und Migrationsbewegung das Ergebnis europäischer Kolonialexpansion und die Antwort Europas darauf in Form einer rigorosen Abschottungspolitik an den Außengrenzen Ausdruck eines real existierenden Rassismus. Daß ein Haus in Hamburg auf dem Territorium einer ehemaligen Bundeswehrkaserne bis in die Jetztzeit hinein und offenbar mit Billigung der Bundesregierung Ludwig von Trotha gewidmet ist, der, lebte er heute noch, vor das UN-Kriegsverbrechertribunal gehörte, hauptverantwortlich am Völkermord der Herero und Nama war, zeuge von einer langlebigen Kultur der Ignoranz. 99,9 Prozent der weißen Mehrheitsbevölkerung hätten sich aus seiner Sicht noch gar nicht näher mit dem Thema befaßt.

Gleichwohl sei es ermutigend, daß der Senat 2014 die Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe eingerichtet habe und der Runde Tisch zur Abstimmung weiterführender Projekte, der 2014 in seiner Erstauflage ziemlich unglücklich und wenig zufriedenstellend endete, im letzten Jahr auf zivilgesellschaftlichen Druck hin wieder aufgenommen wurde. Entscheidend und wesentlich wird allerdings sein, inwieweit man die schwarze Community und damit die Betroffenenperspektive miteinbezieht. Auch gehöre das Thema Kolonialismus unbedingt in die Schulen hinein, um so die Saat des Rassismus so früh wie möglich einzudämmen. Gleichwohl warnte Tom Gläser davor, sich auf ein Mosaik zu kaprizieren. Die Umbenennung von Straßen sei zweifelsohne ein wichtiges symbolpolitisches Element, müsse jedoch in ein Gesamtkonzept eingebunden und aus schwarzer Perspektive lektoriert werden.

Das Gespann von Kolonialismus und Rassismus, das die europäische Expansion von den Anfängen an begleitete, hat sich zwar des Deckmantels einer Mission zur Zivilisierung der Welt bedient. Ihr Hauptziel bestand jedoch darin, die Voraussetzungen für eine kulturalistische Herabwürdigung von Menschen anderer Weltregionen zu schaffen. War der primitive Wilde erst einmal ins Bewußtsein der Zeit eingeschrieben und fixiert, war der Weg zu den Völkerschauen bei Hagenbeck, die eine Art Menschenzoo darstellten, leicht zu gehen. Vor sinnentleerten Requisiten und Kulissen choreographisch einstudierte Tagesabläufe zu mimen, die eher die Vorstellungswelt des Betrachters nährten, als daß sie irgendeinen nennenswerten Aufschluß gaben über die dort verhandelte Kultur, ausdauernd angestarrt und kalt gemustert zu werden, nackt den Blicken ausgeliefert zu sein, in die kein Hauch eines wärmenden Wortes, nicht der Wimpernschlag einer noch so kleinen Empathie drang, wurden Menschen auf den Gegenwert einer Eintrittskarte reduziert und einem voyeuristischen Vergnügen vorgeworfen - in der stillen Distanz zwischen Auge und geschautem Objekt keimte beim Gast der Völkerschau die Frucht und das Wissen auf, um nichts in der Welt mit dem anderen die Rollen tauschen zu wollen. Im Versprechen, selbst auf der Sonnenseite zu flanieren, lag die ganze selbstsuggestive Kraft dieses Moments.

Derart mit der ethnischen Abwertung versklavter Völker unterfüttert, wuchs das Überlegenheitsgefühl des weißen Mannes, der sich im Zentrum der Zivilisation wähnte, blind ins Uferlose und stürzte bald schon ebenso blind ins Verderben. Die Zeit stand an der Schwelle zum Ersten Weltkrieg. Nun rächte sich, daß er seine Rolle in diesem Zwischenspiel und Machtkomplex kolonialistischer Zurüstungen falsch eingeschätzt hatte. War er als Arbeiter kaum mehr als Schmieröl im Getriebe ratternder Fabrikmaschinen gewesen, so erkannte er im Waffenrock zu spät, daß er dazu ausersehen war, im Krieg der Kapitalisten als wohlfeiles Kanonenfutter den patriotischen Tod zu sterben. So war der Kolonialismus über seine Intention, neue Handelsmärkte und Rohstoffquellen zu erschließen, hinaus ein Legitimationskonstrukt, das den Bevölkerungen der jungen aufstrebenden Nationalstaaten gerade in Anbetracht der vielen innergesellschaftlichen Krisen und Widersprüche das Gefühl vermittelte, sich als eine schicksalshörige Gemeinschaft mit dem Anspruch auf Suprematie zu verstehen und auf Kaisers Befehl aufeinander loszugehen.

Dabei spielt es keine Rolle, ob sich dieser Pathos der Volks- oder Rassenzugehörigkeit als britischer Snobismus, nationalsozialistischer Abstammungswahn, Spitzbart eines französischen Edelmanns oder als Law-and-Order-Manier des US-amerikanischen Weltpolizisten ausdrückt und durch die Zeitepochen immer wieder zu tarnen weiß. In der heute kaum noch auseinanderzutüftelnden Enge stark verschränkter infrastruktureller Handelsbeziehungen und Finanztransaktionen findet er sein globalisiertes Gegenstück in der Machtstellung des Nordens gegen den Süden wie auch innerhalb der Gesellschaften als Gefälle zwischen arm und reich. Wie sehr der Ungeist eines die Zeiten schadlos überdauernden Kolonialrevisionismus noch nach hundert Jahren in den Köpfen herumspukt, zeigte sich eindringlich, als ein Zuhörer im Rahmen der Plenumsdiskussion den kolonialkritischen Tenor von Prof. Dr. Jürgen Zimmerer offen anfeindete, gar in Abrede stellte, daß dessen Arbeit wissenschaftlich fundiert sei, im wesentlichen jedoch sich darüber beklagte, daß Deutschland im Versailler Friedensvertrag die Kolonialfähigkeit abgesprochen wurde. Durch Grautöne hinweg schimmert nach wie vor das (post-)koloniale Erbe, nur daß es sich inzwischen in abgewandelten Bildern und Identitäten präsentiert, gerne auch im Heraufbeschwören eines jüdisch-christlichen Abendlandes, das einen verzweifelten Kampf führt, um seinen angeblich selbst erwirtschafteten Wohlstand an den europäischen Außengrenzen zu verteidigen.


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Eingangsbereich des Hauses der Patriotischen Gesellschaft von 1765
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Schwarze Communities und Initiativen treten heute viel selbstbewußter auf, und sie verfolgen ihr Ansinnen, die Rassendiskriminierung bis in die letzte Gasse hinein aufzuheben, von der sie in erster Linie betroffen sind, sehr entschieden und offensiv. Wer wollte leugnen, daß der Rassismus ein Geschwür ist, das den Menschen von innen her auffrißt. Doch was hat ein Mensch mit dem anderen zu tun, wenn schon ein kleines Zerwürfnis, kaum größer als ein Staubkorn, das die Laune achtlos in den Weg streut, ausreicht, um ihn zu Fall zu bringen? Der vielbeschworene Unterschied ist immer die Reflexion auf den anderen, ich und du, Mann und Frau, schwarz und weiß, oder die Besessenheit von Eigentum, dessen Gebrauch dem anderen vorenthalten wird. Klein fängt es an und reicht bis zum Besitz der Produktionsmittel. In diesem Sinne ist der Rassismus, wiewohl in seinem Namen grauenhafte Verbrechen an schwarzen Menschen verübt wurden, nur ein Spezialfall der auf Unterschied begründeten Herrschafts- und Gewaltverhältnisse vom Faustkeil bis zum Atomzeitalter.

Manchmal ist der Unterschied nur ein Pigment. Auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs hatten Deutsche auf Franzosen geschossen und umgekehrt. Mit ihrem letzten Atemzug beteten sie zum gleichen Gott. In der Armutsdebatte wiederum wird gern von Sozialrassismus gesprochen, wenn Entscheidungen von politischen oder ökonomischen Eliten das Leben vieler normativ in Mitleidenschaft ziehen und dazu angetan sind, die Kluft zwischen den Menschen zu erweitern. Rassismus ist kein folgerichtiges Denken, wohl aber die alltägliche Erfahrung, daß soziale Gerechtigkeit, Gleichbehandlung und der Ausschluß von Gewalt als ideelle Leitmotive eines Gesellschaftssystems die Probleme menschlicher Existenz nur verhüllen. Von welcher Seite man das Problem angeht, ist unerheblich, solange man es als solches erkennt und sich dazu positioniert.

Die Erinnerungswege mögen noch so verschüttet sein, die moderne Genetik bringt es ans Licht: Jeder Mensch hat aufgrund der langen Geschichte der Migrationsbewegungen Brüder und Schwestern in aller Welt, und seien sie durch Hautfarbe, Kulturmerkmale oder Temperament noch so verschieden. Das Gesicht des Menschen, überlaufen von Masken und Meinungswirrwarr, von religiösen Zerwürfnissen und leitkulturellen Dauerdebatten, ist weder schwarz noch weiß, geschweige denn bunt. Tausend Sprachen sprechen es frei von der Leber weg: Der Nabel sitzt immer am gleichen Fleck. Oder im antikolonialistischen Sinne ausgedrückt: Die Menschheit muß noch zu sich selbst finden.


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Von 1886 bis 1897 in kolonialer Blütezeit errichtet - das Hamburger Rathaus an der Binnenalster
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im Schattenblick ist unter POLITIK → REPORT zur Veranstaltung "Hamburgs koloniales Erbe" unter dem kategorischen Titel "Kolonialwirtschaftsgeschichte" erschienen:

BERICHT/321: Kolonialwirtschaftsgeschichte - am Beispiel Hamburgs ... (SB)
INTERVIEW/413: Kolonialwirtschaftsgeschichte - eine alte Schuld ...    Prof. Dr. Jürgen Zimmerer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/415: Kolonialwirtschaftsgeschichte - Raubgut bestimmen, Eigenbedarf sichern ...    Prof. Dr. Barbara Plankensteiner im Gespräch (SB)


19. Juni 2018


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