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BERICHT/026: "Warum Israel" - Vom Eklat zum Event (SB)



Anatomie eines größeren Konflikts im Kleinen

Claude Lanzmann ... Bewunderung für einen gewendeten Helden

Claude Lanzmann ... Bewunderung für einen gewendeten Helden Seit rund drei Monaten sind die Verhältnisse in der Hamburger Linken durch den Streit um die verhinderte Aufführung des Films "Warum Israel" von Claude Lanzmann im B-Movie in der Brigittenstraße gehörig in Bewegung geraten. Ein Anlaß eher lokaler Art wurde, wie Presseberichte über den Vorfall im englischen und französischen Sprachraum belegen, in internationale Dimensionen getrieben. Mit der zeitlichen Distanz zum eigentlichen Geschehen hat dessen Darstellung Formen der simplifizierenden Bezichtigung angenommen, die ganz zu Lasten radikaler, von interessierter Seite schon lange mit dem Vorwurf des sogenannten Linksfaschismus belegter Aktivisten gehen. Was genau an jenem 25. Oktober 2009 geschehen ist, als Vertreter des internationalistischen Zentrums B5 vor dem Eingang des mit ihnen in Hausgemeinschaft verbundenen B-Movie einen israelischen Checkpoint inszenierten, um dem Publikum auf physische Weise nahezubringen, wie es Palästinensern bei der alltäglichen Freiheitsberaubung ergeht, ist hingegen immer weniger Thema der Auseinandersetzung.

Der Vorwurf, die Aktivisten des B5 hätten mit dieser Aktion sowie der Sperrung des Tores zum Kino aufgrund einer angeblich antisemitischen Grundeinstellung Zensur betrieben, wird ebensowenig untersucht wie die Behauptung, sie hätten Besucher des Kinos als "Judenschweine" beschimpft. Während unter den direkt Beteiligten Wort gegen Wort steht, hat sich der Vorfall zu einer Kampagne gegen die Betreiber und Aktivisten des Zentrums in St. Pauli ausgewachsen, deren Zielsetzung weit über die in Verlautbarungen der sogenannten Antideutschen verlangte Schließung des B5 hinausreichen. Sie betrifft die Diskreditierung einer radikalen Linken, die auf der Seite der gesellschaftlichen Verlierer steht, die die dabei virulenten wie ausgetragenen Konflikte auf den Begriff des Klassenkampfs bringt und der der soziale Widerstand stets ein grenzüberschreitendes, keinem Betroffenen aufgrund seiner nationalen und ethnischen Herkunft die Solidarität entziehendes Anliegen ist.

Der zwischen B5 und der Gruppe Kritikmaximierung, die den Film Lanzmanns im B-Movie zeigen wollte, ausgetragene Konflikt ist von dementsprechend paradigmatischer Art, ging es den Internationalisten doch darum, den Marsch einer sich mit linken Codes habituell und terminologisch larvierenden neokonservativen Rechten in traditionelle Institutionen der Linken in ihrem Fall aufzuhalten. Nachdem die Kinobetreiber dieses Anliegen mit der Erklärung quittiert hatten, der Film sei als Gegengewicht zur "antisemitischen" B5 gedacht, war die keineswegs einseitig zustandegekommene Eskalation bereits in vollem Gang.

In Anbetracht der fast ausschließlich zu Lasten der B5-Aktivisten gehenden Berichterstattung über den Vorfall soll an dieser Stelle noch einmal auf die Stellungnahme eines B5-Sprechers auf einer Pressekonferenz am 13. Dezember 2009 anläßlich einer gegen das Zentrum gerichteten Demo der Antideutschen eingegangen werden, bei der der Schattenblick anwesend war.

Der Sprecher, der aufgrund der gegen das Zentrum gerichteten Angriffe namentlich nicht genannt werden wollte, charakterisierte dessen politische, durchaus kämpferisch vertretene Position als "humanistisch und internationalistisch". Man sei "antifaschistisch, antirassistisch, antikolonialistisch und antimilitaristisch" gesonnen, "von daher verbietet es sich überhaupt, daß irgend jemand in unseren Vereinsräumen antisemitische Positionen haben könnte". Auf die Frage nach dem Vorwurf, die Besucher des B-Movie vom Sehen des Films "Warum Israel" abgehalten zu haben, antwortete der B5-Sprecher:

"Der Grund ist nicht dieser Film gewesen, sondern daß das Kino sich entschlossen hat, mit dieser Gruppierung zusammenzuarbeiten. Deren antihumanistische, rassistische und kriegrechtfertigende Positionen sind für uns nicht akzeptabel, und es ist für uns auch nicht akzeptabel, solchen Menschen auf dem Weg zur Toilette oder in unseren Räumen, die wir mit dem Kino teilen, zu begegnen. Das ist der Grund gewesen. Und es entspricht den Tatsachen, daß das Eisentor zur Hofeinfahrt zu war. Es haben also die Kinobesucher für zwei oder drei Stunden das erlebt, was arabische Menschen in Palästina tagtäglich erleben, selbst dann, wenn sie todkrank sind oder schwanger sind oder ihre Eltern im Sterben liegen."

Zur Frage des angeblichen Vorfalls, daß ein Demonstrant der B5 "Judenschwein" gerufen habe, erklärte der Sprecher, daß ihn schon empöre, daß diese Frage überhaupt gestellt werde:

"Ich bin in der Schule als 'rote Judensau' beschimpft worden, das nebenbei gesagt. Irgend jemand, der aus unseren Reihen so etwas äußern würde, oder auch der hierhergekommen wäre, den hätten wir auf die andere Seite geschickt: 'Du gehörst dahin'."

Bei der Blockadeaktion am 25. Oktober waren auch Mitglieder der AG Kritische Linke, ein satzungsgemäß möglicher freier Zusammenschluß von Mitgliedern der Hamburger Partei Die Linke, zugegen. Nachdem diese das Flugblatt, auf dem die B5 ihre Aktion begründete, auf ihrer Seite im Rahmen der Webseite der Partei Die Linke Hamburg veröffentlicht und mit einem einleitenden Kommentar versehen hatten, wurde diese stillgelegt. Das erfolgte laut Aussage der Bürgerschaftsabgeordneten Christiane Schneider der Partei Die Linke, weil die AG Kritische Linke aufgrund ihrer Auflösung nicht mehr existiere. Die Geschichte dieses Vorfalls, der den Vorwurf der Zensur mit Zensur unterstrich, ist nachzulesen unter http://www.steinbergrecherche.com/09dieantilinken.htm#Propagandafilm oder auch unter http://www.scharf-links.de/. Sie ist insofern bedeutsam, als sie zeigt, daß der in die Reihen der Hamburger Linken getragene Streit um die B5-Aktion dort auf keineswegs nur den Nahostkonflikt betreffende Tendenzen trifft, die in der Partei Die Linke bundesweit, etwa in Form des BAK Shalom, die neokonservative Transformation linken Bewußtseins betreiben.

Da die "Antideutschen" den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern aufgrund seiner spezifischen Verwurzelung in der Vernichtung des europäischen Judentums durch das NS-Regime und der davon in besonderer Weise bestimmten Tradition der antifaschistischen Linken Deutschlands zum Schlachtfeld erklärt haben, ist dieses Thema zu einem Vexierspiegel von Befindlichkeiten geworden, die mit den Problemen der Israelis und Palästinenser nur marginale Berührung haben. Die selbsterklärten Nachlaßverwalter der historischen Schuld am Genozid projizieren den gegen Juden gerichteten Rassenhaß in abenteuerlicher Verdrehung der Täter-Opfer-Zuweisung auf Menschen und Gruppen, denen dadurch schwerster Schaden droht, wenn sie, wie im Falle der Serben, Opfer großdeutscher Eroberungsgelüste oder, wie im Falle der Palästinenser, sekundäre Opfer des primären Vernichtungsprogramms an den europäischen Juden sind.

Dies kann nur gesellschaftliche Akzeptanz erhalten, wenn die dafür gültige Terminologie auf vulgäre, ihren emanzipatorischen Zweck gegen sich selbst kehrende und damit die realen Opfer nazistischer Vernichtungspolitik vergewaltigende Weise auf bloßen Nominalismus reduziert wird. Die simple Gleichsetzung der Kritik an der israelischen Besatzungspolitik mit dem antisemitischen Ressentiment kann, ohne auf die verstiegenen Konstrukte ihrer Herleitung eingehen zu müssen, schon vom allgemein bekannten Kräfteverhältnis zwischen israelischem Siedlerkolonialismus und palästinensischer Ohnmacht her als Affront gegen alle Betroffenen erkannt werden. Zieht man die Linie von der Genese des Konflikts durch den europäischen Kolonialismus bis zum "Globalen Krieg gegen den Terrorismus" und den unter diesem Titel vollzogenen Aufmarsch der NATO-Staaten in Länder des Nahen und Mittleren Ostens, entfaltet sich das Szenario einer insbesondere nach dem Ende des Kalten Kriegs mit der neugewonnenen Stärke der Sieger des Systemwettstreits vorangetriebenen neokolonialistischen Neuaufteilung der Welt, bei der die USA, die EU und Israel die Rolle der aggressivsten Akteure eingenommen haben.

Blendet man zurück auf den in Hamburg ausgetragenen Konflikt, so erweist er sich als Mikrokosmos eines in weltpolitische Dimensionen getriebenen Sozialkampfes, der seitens der industriell und administrativ hochentwickelten Staaten des Westens mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der ökonomischen Expansion, der militärischen Durchsetzungskraft, der Verallgemeinerung institutioneller Prozeduren, der legalistischen Verabsolutierung rechtlicher Normen, der ideologischen Definitionsmacht des eigenen zivilisatorischen Entwicklungsmodells und der kulturindustriellen Indoktrination der Bevölkerungen betrieben wird.

Die radikale Linke gelangt so gut wie nicht in den Genuß der umfassenden Mittel, die den Agenturen systemischer Bestandssicherung in Staat und Wirtschaft, den in Parteien, Stiftungen, Beratungsinstituten, Hochschulapparaten und Medien sitzenden Funktionseliten und Wissensproduzenten zugestanden wird. Sie steht vor dem den nominellen Souverän immer weiter entmündigenden Sicherheitsstaat auf der falschen Seite und mit ihrem Anspruch auf Selbstbestimmung im Widerspruch zur bürokratischen Organisation der Gesellschaft. Ihre materialistische Kapitalismus- und Staatskritik wird von den Sachwaltern formalrechtlicher Gleichheit als Angriff verstanden, der mit politischer Strafverfolgung quittiert wird. Die von ihr geübte Kulturkritik entlarvt die zivilisatorische Suprematie der Kulturkrieger als Ausdruck voraufklärerischer Kreuzzugsmentalität und wird in deren Feindbildproduktion eingespeist. Ihre Solidarität mit Gefangenen, Hartz IV-Empfängern, Migranten und anderen stimmlosen Opfern kapitalistischer Verwertung reduziert ihre Bereitschaft, sich den konsumistischen und popkulturellen Codes warenförmiger Verdinglichung zu unterwerfen, auf ein Minimum, was sie ebenfalls ungeeignet macht, an den unter dem Diktat ihrer systemaffinen Vernutzung stehenden Gratifikationen teilzuhaben.

Kurz gesagt, am Konflikt zwischen B5 und Kritikmaximierung entzündet sich ein ganzes Bündel sozialer und gesellschaftlicher Widersprüche, die mit der Reduktion auf den Antisemitismusvorwurf und seine demagogische Weiterung zum Stigma des Linksfaschismus zielgerichtet ausgeblendet werden. Sie kommen nicht zur Sprache, weil die Offensive der Antideutschen das von Grund auf bourgeoise Anliegen des Erhalts eigener sozialer Privilegien zu Lasten bereits ohnmächtig am Boden liegender Menschen und Gruppen artikuliert. Dies erfolgt nicht durch die Maximierung von Kritik, welche ohne die Möglichkeit, im Abseits herrschender Interessen persönliche Nachteile aus der lebenspraktischen Verwirklichung der eingenommenen Position zu erleiden, nicht zu haben ist, sondern von Moral, die als Mittel herrschaftskonformer Bezichtigung des anderen bei Vergewisserung eigener Überlegenheit einer Kritik, die diesen Namen verdient hat, in ausschließender Weise gegenübersteht.

So zeigt die gegen die B5-Aktivisten in Stellung gebrachte Denunziation durch Verbreitung ihrer Bilder im Internet zum Zwecke der Strafverfolgung, von der auch die an den Pranger gestellten Migranten betroffen wären, und die öffentlich erhobene Forderung der Schließung ihres Zentrums, die ebenfalls nur mit behördlichen Mitteln möglich wäre, daß die Moral der Antideutschen dringend exekutiver Ermächtigung bedarf, um tatsächliche Kritik mundtot zu machen. Der in einem antideutschen Blog (http://postidentitaer.blogsport.de/) zum Ausdruck gebrachte Wunsch: "Möge die IDF möglichst bald in der B5 einmarschieren!" wird auch dadurch nicht lockerer, daß sein Urheber bekundet, "jetzt erstmal auf eine Technoparty" gehen zu wollen. "Tanz den Mussolini" mag im Spaßbad der Neuen Deutschen Welle vor 30 Jahren noch als Selbstironie einer Band durchgegangen sein, die mit ihrem Namen Deutsch-Amerikanische Freundschaft frühzeitig auf den popkulturellen Umschlag rebellischer Inhalte in provokante Posen gesetzt hat. Heute bekundet die bourgeoise Distinktionssucht der antideutschen Jeunesse dorée nur noch Verachtung gegenüber all denjenigen, die, in ihren gemeinschaftlichen Praktiken als "Volksmob" nazistisch stigmatisiert, in der Nahrungskette auf der Strecke der aggressivsten, die sozialdarwinistische Individuation am konsequentesten vollziehenden Räuber bleiben.

Wenn die B5-Aktivisten in der ihnen zugewiesenen Rolle der Schmuddelkinder eines sich links gerierenden Establishments, das beim Marsch durch die Institutionen in zweiter oder dritter Generation auch letzte Reste genuiner linker Positionen auf dem Altar ihrer Teilhaberschaft an der Kraft und Schönheit des Erfolgversprechens opfert, einen israelische Checkpoint simulieren, um gegen die Aufführung eines fast 40 Jahre alten Films zu protestieren, in dem die politische, kulturelle, religiöse und nationale Identität des Staates Israel begründet wird, dann haben sie erfolgreich gegen jegliches, im Zweifelsfall auch linkes Wohlverhalten verstoßen. Wenn die damit angegriffene Moral des Guten ihr Haupt in Gestalt repressiver, mit staatlicher Gewalt durchgesetzter Sanktionen erhebt, dann drängt sich die Parallele zum Gewaltverhältnis zwischen dem Staat Israel und den Subjekten seiner Besatzungspolitik förmlich auf. Daß dieser Film und kein anderer zum Gegenstand des Zerwürfnisses wurde, ist nicht nur der passenden Gelegenheit geschuldet. In ihm bildet sich der Erfolg einer allein um die eigene Befindlichkeit kreisenden nationalen Identitätsstiftung ab, gerade weil sie zur Zeit seiner Entstehung noch kontrovers diskutiert wurde.

Wie die Rückschau auf den Status quo ante beweist, hat sich durchgesetzt, was in dem Film noch als Keim einer sozialdarwinistischen Gesellschaft angelegt war. Weitgehend auf der Strecke geblieben sind die dort ebenfalls bezeugten Möglichkeiten einer emanzipatorischen Entwicklung, die im Brutkasten eines nationalen Kollektivs, das sich expansiv gegen andere definiert, stets in reaktionäre Ideologie umschlägt. "Warum Israel" hat für Antideutsche den symbolischen Gehalt eines Sakraments angenommen, weil er aus ihrer Sicht die Erfolgsgeschichte einer technologisch, wirtschaftlich und militärisch hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaft ausgemachter Gewinner schildert, die die sozialen Anliegen der Verlierer so wirksam ignoriert, daß deren Aufbegehren umstandslos als das autochthone Böse dämonisiert und zur Rechtfertigung ihrer gewaltsamen Unterwerfung verkehrt werden kann.

Die Mitarbeiter des Schattenblicks hatten Gelegenheit, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen anläßlich zweier Veranstaltungen, in denen der Rolle, die dieser Film in der Hamburger Auseinandersetzung spielt, auf den Grund gegangen werden sollte, eben dies zu tun.

Claude Lanzmann mit Übersetzerin

Claude Lanzmann mit Übersetzerin

Cineastisches Bekenntnis zum gelobten Land

Claude Lanzmanns "Warum Israel" ist kein ausgesprochener Propagandafilm. Weder kann man ihm vorwerfen, er verherrliche kritiklos den Staat Israel, noch eignet er sich zum Sturmgeschütz einer pro-israelischen Kanonade. Wenngleich er im Mittelpunkt der aktuell eskalierenden Kontroverse zu stehen scheint, wird er von deren Protagonisten weniger angemessen gewürdigt, als vielmehr unzulässig zur Beförderung davon zwar nicht unabhängiger, aber dennoch in ihrer konkreten Veranlassung und Motivlage anders gelagerter Vorstöße instrumentalisiert. Empfehlenswert ist der Film allemal und das aus einer ganzen Reihe miteinander verwobener Gründe. Er eröffnet einen ausgiebigen Blick auf die Befindlichkeit der israelischen Gesellschaft Anfang der siebziger Jahre, indem er ein breites Spektrum höchst unterschiedlicher Herkünfte, Lebensverhältnisse und Überzeugungen in Gestalt der Menschen zu Wort kommen läßt, mit denen Lanzmann vor laufender Kamera in einen Dialog tritt. Da die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der dabei angetroffenen Lebenswirklichkeiten jeden Rahmen zu sprengen scheint, wächst sich die Suche nach Bindekräften zum Leitmotiv dieses Autorenfilms aus.

"Warum Israel" ist in diesem Sinn keine Frage, sondern eine Begründung, die freilich alles andere als abgeschlossen oder eindimensional ausfällt. Bemerkenswert an den Verhältnissen in dieser historischen Phase kaum mehr als zwei Jahrzehnte nach der Staatsgründung ist die Breite potentieller Entwicklungsmöglichkeiten, der gegenüber Israel im Jahr 2010 gleichsam zu einem Monolithen mit kaum noch veränderbaren Handlungsoptionen verhärtet zu sein scheint. Das macht für sich genommen den Film schon sehenswert, da sich anhand dieser Diskrepanz untersuchen läßt, welche Ansätze und Strömungen verlorengegangen sind, welche unterdrückt wurden und welche sich durchgesetzt haben.

Ohne dem Film die ihm eigene Vielfalt an geäußerten Positionen abzusprechen, läßt sich zudem im Licht einer historischen Rückschau entschlüsseln, in welcher Hinsicht die aus heutiger Sicht dominanten Kräfte und Ideologien schon damals angelegt waren und in Erscheinung traten. "Warum Israel" befördert in hohem Maße eine soziale und politische Thematik, indem das Kaleidoskop widersprüchlicher und nicht selten streitlustiger Einzelstimmen nicht nur bestimmten Gruppen zugeordnet, sondern vor allem immer wieder auf die Grundfrage zurückgeführt wird, was bei aller Verschiedenheit die Basis des Zusammenhalts ausmacht und welche Konsequenzen sich bei dessen Verdichtung abzeichnen.

Dieser Prozeß der Identitätsfindung ist Claude Lanzmanns persönliches Leitmotiv, das seine Lebensgeschichte wie ein roter Faden durchzieht und unmittelbaren Niederschlag in seinem künstlerischen Schaffen findet. Als er 1952 erstmals nach Israel reiste, um in einer Reportage über die dortigen Verhältnisse zu berichten, war es ihm unmöglich, diese tief empfundene persönliche Auseinandersetzung kommerziell zu veräußern. Sartres Vorschlag folgend, statt dessen ein Buch darüber zu schreiben, fand er sich nach zügigem Beginn alsbald in einem ähnlich gelagerten Dilemma. Erst nach zwanzigjährigem Reifen realisierte Lanzmann mit "Warum Israel" dieses langgehegte Vorhaben, weshalb der Film aufs engste mit der sukzessiven Wandlung seiner Überzeugungen verbunden ist.

Die 1973 beim Filmfestival in New York uraufgeführte Auseinandersetzung mit jüdischer Identität im Staat Israel war der Auftakt zu einer Trilogie, die Lanzmann 1985 mit "Shoah" fortsetzte und mit "Tsahal" 1994 vorläufig abschloß. Im 2001 erstmals gezeigten "Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" befaßte er sich mit dem Aufstand im Vernichtungslager Sobibor. Begleitet man Claude Lanzmann in "Warum Israel" noch auf der Suche nach Identität in einem recht weiten und vielfältigen Feld, so verengt sich dieser Prozeß in der Folge auf den Opfermythos der Juden, um schließlich deren Wiederinbesitznahme der Gewalt zu glorifizieren. Lanzmann spiegelt somit nicht nur die dominante Linie israelischer Staatsdoktrin widerspruchslos ab, sondern zeichnet sich als deren glühender Verfechter im Medienbetrieb aus, was seinen Erfolg ohne weiteres nachvollziehbar macht.

Aus einem jungen Mitstreiter der Résistance, überzeugten Kommunisten, Unterzeichner des Manifests der 121 gegen den Algerienkrieg, Vertrauten Jean-Paul Sartres, langjährigen Lebensgefährten Simone de Beauvoirs und Herausgeber von Les Temps Modernes verwandelte sich Claude Lanzmann im Laufe der Jahre in einen neokonservativen Falken, der allen Ernstes die Überzeugung propagiert, jüdisches Leben müsse um jeden Preis geschützt werden, gleich wie hoch dieser in Gestalt nichtjüdischer Opfer sei. Gerade weil diese Rückkehr in den Schoß der Gesellschaft und auf die sichere Seite der Sieger beileibe nichts besonderes ist, sondern im Gegenteil der Heilssuche zahlloser ehemaliger Linker folgt, die selbst das sinkende Schiff sind, das sie zu verlassen meinen, ist es aufschlußreich, frühen Anzeichen dieses Prozesses in "Warum Israel" nachzuspüren.

Definiert man den Staat als Sachwalter des vergesellschafteten Raubes, so gilt es auch Israel hinsichtlich seiner Ausbeutungs- und Verfügungsprozesse im Innern sowie der damit untrennbar verbundenen Positionierung im Kontext imperialistischer Bestrebungen nach außen auszuleuchten. Wenngleich es Lanzmann wie jedem anderen Künstler selbstverständlich freisteht, sein Thema frei zu wählen, drängt sich doch die Frage auf, ob er mit seinem Plädoyer für diesen vorgeblich einzigartigen Staat nicht die Brücke zu seiner politischen Herkunft im Grunde längst abgebrochen hat.

Man hat Claude Lanzmann vorgeworfen, er blende in diesem Film die Palästinenser und die arabischen Bürger Israels vollkommen aus, da er sich ausschließlich für die Juden und deren Staat interessiert. Als Ehrengast einer Hamburger Veranstaltung am 18. Januar 2010 im Musikclub "Uebel & Gefährlich", bei der "Warum Israel" in voller Länge gezeigt wurde, lieferte er eine aufschlußreiche Erwiderung auf diesen Einwand: Es sei nicht seine Aufgabe, einen Film über die Palästinenser zu machen, sondern deren eigene. An diesbezüglichen Anfängen fehle es nicht, doch sei das Problem der Palästinenser, daß ihre Realität nicht im Einklang mit ihrer Propaganda stehe. Er selbst habe zahlreiche Araber in seinem Film gezeigt, nur redeten sie nicht, sondern arbeiteten beim Bau von Häusern oder verrichteten irgendeine andere Tätigkeit.

Mit diesem Streich schlägt Lanzmann in freier Adaptation einer klassischen Formel der Linken, daß es Sache der Unterdrückten sei, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, spielend den Bogen zur angeblichen Unglaubwürdigkeit palästinensischer Selbstdarstellung und einer neofeudalen Herablassung, die arabischstämmige Menschen als Handlanger, deren Stimme bedeutungslos sei, ausreichend gewürdigt sieht. Ins selbe Muster des gründlich blau-weiß gewaschenen ehemaligen Roten muß man wohl auch einstufen, daß der Film mit je einem traditionellen Lied der Spartakisten beginnt und endet, das von Gad Granach vorgetragen wird, der mit und ohne Ziehharmonika herzerwärmend singt. Wie Lanzmann bekennt, habe er noch heute stets Tränen in den Augen, wenn er diese alten Lieder hört. Wenngleich man dieses Gefühl durchaus nachvollziehen kann, muß man doch wohl eher davon ausgehen, daß das von Lanzmann für sich in Anspruch genommene Feuer des Klassenkampfs bei ihm schon vor langer Zeit einer bloßen Attitüde gewichen ist.

Israel war zu Beginn der siebziger Jahre aus Perspektive Lanzmanns so offen und vielschichtig, daß er deutsche Arbeiterlieder für ebenso angemessen hielt wie sozialistische Bekenntnisse aus einem Kibbuz, Gespräche mit streikerprobten Hafenarbeitern, Treffen mit diskriminierten Jugendlichen sephardischer Herkunft oder bittere Klagen enttäuschter Einwanderer.

Ein Naturschützer mit dem Habitus eines Großwildjägers und bekennender Protagonist Großisraels erklärt, der Sinai solle den Juden gehören, weil er für sie wichtig sei. Für die anderen sei er nicht so wichtig, weshalb er zu Israel gehören sollte und zudem als eine Art Pufferzone zu Ägypten fungieren könne, was gut für beide Seiten und die ganze Welt sei. Seinetwegen könnten die Palästinenser mit allen Rechten als Minderheit in Israel leben, da er keine Angst vor Überfremdung habe. Früher sei das Zahlenverhältnis von Juden zu Arabern 1:10 gewesen, während es heute 3:1 betrage. Wovor sollte er also Angst haben?

Hingegen lehnt ein ehemaliger Generalstabschef den Entwurf Großisrael ab und ist der Überzeugung, daß man hinsichtlich der Grenzen Kompromisse eingehen müsse. In diesem Land habe schließlich kein Vakuum geherrscht, als Juden eingewandert waren. Daß es zu einem Verhältnis kommen könnte, in dem die Palästinenser Sklaven sind, hält er für völlig ausgeschlossen. Schließlich seien die Araber in Israel die am höchsten entwickelten in der gesamten Region, kolportiert er das unvermeidliche Argument des Kolonialherrn.

Auch ein jüdischer Siedler, der sich in Hebron niedergelassen hat, bestreitet energisch, daß er ein Eroberer fremdem Landes sei. Es stehe in der Bibel und sei der Plan Gottes, lautet sein angeblich unhinterfragbares Axiom. Er verstehe Gott und dessen Pläne nicht, doch wenn dieser es so zu Abraham gesagt habe, müsse es geschehen. Wenn es geschrieben stehe, reiche ihm das vollkommen aus. Er sei ein einfacher Mensch und stelle nicht zu viele Fragen: "Das ist unser Land, und wir müssen darin leben. Wir werfen die Araber nicht raus. Wenn sie hier leben wollen, ist das in Ordnung. Wenn sie Feinde sein wollen, werden wir kämpfen."

Die letzte Diskussion in "Warum Israel" kreist um die These, daß man von den Juden höhere moralische Standards verlange als von allen andern Völkern, obwohl doch der Nahostkonflikt nicht minder von den Briten, arabischen Staaten und Palästinensern zu verantworten sei. "Aber ihr siedelt dort", entgegnet ebenso streitbar wie zutreffend eine Teilnehmerin der Runde, womit sie gewissermaßen das Schlußwort des Films spricht. Dies unterstreicht, wie weitgehend Lanzmann damals noch Argumenten Raum gab, die er selbst vermutlich nicht teilte und heute sicher vehement zurückweisen würde.

Neben der Bereitschaft, beträchtliche Widersprüche nicht zu verschleiern, ja nicht selten gezielt zu kontrastieren, und offensichtlich ungelöste Probleme beim Namen zu nennen, fehlt es andererseits nicht an Elementen und Stilmitteln, die den Zuschauer für die Sache Israels vereinnahmen sollen. So bilden Besuche in der Gedenkstätte Yad Vashem zu Anfang und Ende eine eindrücklich in Szene gesetzte Klammer, wobei hier die musikalische Untermalung ebenso mächtig und ergreifend eingesetzt wird wie bei einer nächtlichen Vereidigung von Rekruten, einer Fahrt entlang der Grenze oder dem Blick auf Transparente, mit denen jüdische Besucher aus dem Ausland bei verschiedenen Veranstaltungen willkommen geheißen werden. Lieder voll tiefer Klage und Traurigkeit oder Choräle unbezwingbar anmutender Stärke beschwören einen Ewigkeitscharakter jüdischen Leidens oder künden von einer alle Hindernisse überwindenden Aufbruchstimmung in Israel.

Lanzmanns Identitätssuche kreist um die Frage der Normalität in diesem jungen Staat, die wahlweise dahingehend beantwortet wird, daß man nichts sehnlicher wünsche, als normal zu werden, oder umgekehrt vorhält, daß man niemals normal werden könne und dürfe. Mutet dieser Widerspruch auch unvereinbar an, so zeichnet sich doch ein ganzes Bündel von Handlungsmöglichkeiten und Konsequenzen ab. Da ist zum einen die kaum glaubliche, aber dennoch irgendwie funktionierende Koexistenz unterschiedlichster Elemente, die dem Land und seinen Bewohnern den Ruf eingebracht hat, ziemlich verrückt, aber sehr lebendig zu sein. Hier leben nicht selten Menschen in unmittelbarer Nachbarschaft, deren Fremdheit in zahllosen Aspekten der Lebensführung sie keineswegs an einem toleranten Umgang miteinander hindert. Auch existieren zahlreiche Stadtviertel oder Enklaven, die es ihren Bewohnern erlauben, mehr oder minder unter sich zu bleiben und auf diese Weise ihre Sitten und Gebräuche zu pflegen.

Fließend ist indessen der Übergang zu ausgeprägten Formen der Dominanz, wenn die modernen jüdischen Siedlungen auf den Hügeln über den in die Senken geduckten alten Dörfern der Palästinenser thronen. Auch begleitet die Kamera israelische Soldaten auf ihrem Patrouillengang im Gazastreifen, wo sich jeder ihren Befehlen zur Kontrolle der Papiere oder des mitgeführten Gepäcks zu fügen hat. Sie machen im Gespräch keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen solche Einsätze inmitten der palästinensischen Zivilbevölkerung, wobei es Lanzmann bezeichnenderweise unterläßt, bei dieser ins Auge springenden Konfrontation nachzufassen. Selbst als ein alter Palästinenser heftig auf einen Soldaten einredet, erfährt man seine Worte nicht.

Die Augen fest an das Scherenfernrohr geheftet, mit dem er das gegenüberliegende ägyptische Ufer des Suezkanals observiert, referiert ein Akadamiker, der offensichtlich zur ideologischen Truppenbetreuung abgestellt ist, im Gespräch mit Lanzmann über das Geheimnis eigener Superiorität:

"Ein Volk, das wirklich ist wie alle anderen Völker, hat nicht das Bedürfnis, dies zu bestätigen. Man ist ganz einfach wie alle anderen Völker. Die Tatsache, daß man wünscht, wie alle anderen zu sein, heißt - man muß akzeptieren, daß ein Volk, das wirklich sein Auserwähltsein auf sich genommen hat - wohl oder übel -, also das diese Last des Auserwähltseins auf sich genommen hat, ernsthaft nach dieser Annäherung sucht. Ich glaube allerdings, daß man das nie erreichen wird, weil man anders ist. Besser gesagt, man ist nicht anders, sondern man ist auserwählt. Man kann sein wie alle anderen, aber dennoch auserwählt sein. Jedenfalls gibt es hier etwas, nach dem man suchen muß. Man muß es in sich selbst finden.

Und was bedeutet es, auserwählt zu sein?

Das klingt vielleicht grausam, aber ich glaube, daß es eine Generation, die durch die Öfen von Auschwitz gegangen ist, die die Gründung des Staates Israel erlebt hat, nicht nötig hat, darüber zu sprechen - sie weiß, was das bedeutet."

Diese Szene verrät einiges darüber, was im Diskurs über die besondere Stellung Israels später hegemonial wurde. Der Sieger bedarf der Begründung seines Sieges nicht, weil dieser selbstevident ist, weil die eigene Stärke den Imperativ der Unterwerfung verkörpert. Diese von Lanzmann scharf mit der nächsten Szene kontrastierte Aussage sticht in der Unmißverständlichkeit der beanspruchten Sonderstellung zwar hervor, wird jedoch in Bildern über den Erfolg dieses Staates, seine wissenschaftlichen Leistungen und seine militärische Stärke, immer wieder Thema.

So spielt die israelische Armee eine zentrale Rolle bei der Definition dessen, was diesen Staat ausmacht. Im unmittelbaren Anschluß an das obige Zitat tut eine junge Frau Zweifel am Sinn der Kriegseinsätze jüdischer Soldaten kund: "Die ältere Generation ist so begeistert, Israel zu verteidigen, daß sie die jüngere Generation Israels opfert. Die Eltern eines Freundes, der ein Offizier in der Armee war, waren im Konzentrationslager. Er starb nicht im Krieg, sondern durch die Fatah. Sein Vater sagte, er sei nicht umsonst gestorben, sondern für sein Land und all das. Wenn man aber diesen weiten Weg in dieses Land zurückgelegt hat, nur um Menschen sterben zu lassen, stellt sich die Frage, wozu man diesen Weg zurückgelegt hat. Ebenso gut könnte man woanders sterben." Darauf antwortet ihr Vater: "Es ist die beste Armee der Welt!" Und ihre Mutter fügt hinzu, daß die jungen Leute damit leben müßten, daß dies ihre Aufgabe ist.

Der Chefpsychologe der Streitkräfte, der im Film mehrfach zu Wort kommt, stellt die Situation mit folgenden Worten dar: "Wir spielen nicht Armee, das ist alles sehr real. Ich glaube, jeder ist sich dessen bewußt, daß wir von Feinden umgeben sind und die Gefahr besteht, daß wir alles preisgeben." Man nehme sogar straffällig gewordene junge Leute in die Streitkräfte auf, wo immer das möglich sei, nicht weil sie etwas für die Armee tun können, sondern weil diese etwas für sie tue.

"Ich weiß nicht, wie man eine Nation definiert. Aber eines weiß ich: Es muß eine Identifizierung aller Menschen mit einem zentralen Ziel geben. Ich bin mir sicher, daß sich die meisten Menschen in diesem Land - und ich kann mir kaum eine Ausnahme vorstellen - mit bestimmten zentralen Zielen identifizieren. Das Ausmaß der Identifizierung mag von einer Gruppe zur anderen variieren, aber sie haben etwas gemeinsam, das sie vereint. Und die Armee ist einer der wichtigsten verbindenden Faktoren. (...) Ein Reich bemißt sich nicht an geographischen Dimensionen, sondern an den Werthaltungen seiner Bürger. Ich glaube nicht, daß Israel durch eine imperialistische Haltung charakterisiert werden kann. Es mag Leute geben, die diesen Eindruck haben, doch für jeden von ihnen gibt es andere, die nicht so denken."

Mögen die Begründungen für den Staat Israel auf den ersten Blick außerordentlich vielfältig ausfallen, klingt in ihnen doch mehr oder minder ausgeprägt als verbindendes Postulat seine Unvergleichbarkeit an. In einem Kreis distinguierter deutschstämmiger Juden, die darüber diskutieren, daß es keine Wiedergutmachung, sondern nur Rückerstattung geraubten jüdischen Eigentums durch Deutschland geben könne, argumentiert ein Bankier: "Man muß hier zwei Dinge sorgfältig unterscheiden. Man kann weder jetzt, noch jemals den Mord an sechs Millionen Juden vergeben. Man kann weder jetzt, noch jemals den Mord an einem Juden vergeben. Was man tun und was man fordern kann, und wozu sich die Deutschen bereiterklärt haben, ist die Rückerstattung dessen, was sie den Juden gestohlen haben." In diesem Gedankenschritt, die Shoah dahingehend zu instrumentalisieren, daß selbst der Mord an einem Juden niemals vergeben werden kann, gründet der von jedem Maß entfesselte Anspruch, daß jüdisches Leben um buchstäblich jeden Preis zu schützen sei und somit Vorrang vor allen andern habe.

So unverblümt die Hafenarbeiter auf die Bosse schimpfen, so wenig lassen sie auf ihren Staat Israel kommen, in dem es selbstverständlich Arme und Reiche geben müsse. Besteht ein russischer Einwanderer aufgebracht darauf, daß er von diesem Land tief enttäuscht sei und daher in die USA gehen werde, muß er sich von Lanzmann vorhalten lassen, daß er wohl nirgends zufrieden sein könne. Werden junge Strafgefangene in nachgestellten Gefängnisszenen gezeigt, so bedauern sie, nicht besser mit ihren Chancen in diesem Land umgegangen zu sein. Wenngleich der Film Konflikte durchaus aufgreift, vollzieht er doch immer wieder ihre Rückbindung in die grundsätzliche Affirmation des Projekts Israel, die gesellschaftliche Widersprüche kaschiert oder ausblendet.

Ob als gelobtes Land, das Gott den Juden vor Jahrtausenden gegeben hat, ob als Zuflucht nach dem einzigartigen Leiden der Shoah oder als einziger Ort der Welt, in dem jüdische Existenz in Freiheit und Wehrhaftigkeit möglich sei, zieht sich das in Anspruch genommene Anderssein als Leitmotiv durch die vielfältigen Aussagen. Als junger Staat hat Israel in den frühen siebziger Jahren zwangsläufig mit erheblichen Turbulenzen zu kämpfen, doch unterscheiden sich seine daraus resultierenden Probleme nicht grundsätzlich von denen anderer Staatswesen, in denen zahlreiche Völkerschaften aufeinandertreffen. Seine beanspruchte Besonderheit ist vielmehr das Resultat eines ideologischen Schmiedeprozesses, dessen Werkstoff und Werkzeug Lanzmann mit seiner programmatischen Frage nicht nur in den Mittelpunkt rückt, sondern selber mitproduziert.

"Warum Israel" beeindruckt durch eine bunte Mischung aus Leichtfüßigkeit und Ernsthaftigkeit, Beklemmung und Frische, die dem Irrtum Vorschub leisten kann, Lanzmann lasse das jüdische Leben in diesem Staat vollkommen authentisch und repräsentativ für sich selbst sprechen. Das ist natürlich nicht der Fall, da der gesamte Herstellungsprozeß des Films zwangsläufig eine unaufhörliche Abfolge von Entscheidungen darstellt, was gezeigt und was für unwichtig erachtet wird. Wenngleich man Claude Lanzmann gewiß nicht vorwerfen kann, er zwinge dem Publikum eine eindimensionale Sichtweise auf, legt er doch in der Quintessenz ein cineastisches Bekenntnis ab, dem er wie jeder Filmemacher seiner Neigung folgend nachgeholfen hat. So wenig deren Zementierung zu der Brachialgewalt seiner späteren bedingungslosen Rechtfertigung israelischer Regierungspolitik damit unabänderlich festgelegt war, so deutlich zeichnet sich doch deren Grundsteinlegung in "Warum Israel" ab.

Veranstaltungsort im Hamburger Schanzenviertel

Veranstaltungsort im Hamburger Schanzenviertel

Befriedung eines Streitfalls ... die Hamburger Linkspartei lädt ein

Am 17. Januar wurde der zweite Teil des Films "Warum Israel" in einer von der Partei Die Linke organisierten, kostenlosen Veranstaltung im 3001-Kino im Hamburger Schanzenviertel aufgeführt. Der ehemalige außenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Norman Paech, faßte den ersten Teil des aus Zeitgründen nur zur Hälfte gezeigten Films einleitend zusammen, um sich zwei Stunden später zusammen mit der stellvertretenden Fraktionsvorsitzende der Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft, Christiane Schneider, und dem Sprecher der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost, Rolf Verleger, zu einer Diskussion auf dem Podium einzufinden.

Rolf Verleger, Christiane Schneider, Norman Paech

Rolf Verleger, Christiane Schneider, Norman Paech

Der als Professor für Neurophysiologie an der Universität zu Lübeck lehrende Verleger tat sich 2006 als Kritiker des israelischen Bombenkriegs gegen den Libanon hervor und geriet damit auf Gegenkurs zur jüdischen Gemeinde in Lübeck. Sie enthob ihn 2006 seines Amtes als Delegierter für die Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein, als deren Vorsitzender er bis dahin fungiert hatte. Das hat Verleger, der sich in der Veranstaltung als Sohn eines "jüdisch sehr traditionellen Elternhauses" vorstellte, nicht davon abgehalten, sich unter anderem mit seinem Buch "Israels Irrweg" gegen die Diffamierung der Kritik an der Politik der israelischen Regierung als antisemitisch zu verwahren und die Bundesregierung zu einem Umdenken in der Palästinafrage aufzufordern.

In seiner einleitenden Stellungnahme zum Film kontrastierte er jüngste Äußerungen des Regisseurs Claude Lanzmann mit dem vielseitigen Bild Israels, das diese 1971 gedrehte Dokumentation vermittelt. Er erinnerte an die Vertreibung der Palästinenser 1948, die in dem Film nicht vorkomme, und verwies darauf, daß die in dem Film gezeigten palästinensischen Bewohner Gazas in den meisten Fällen einen Vertreibungshintergrund hätten. Kritik übte er auch an der seiner Ansicht nach zu kurz geratenen Darstellung der religiösen Tradition des Judentums, die in dem Film vor allem in Gestalt jüdischer Siedler in Erscheinung trat.

Christiane Schneider begründet ihre Position ...

Christiane Schneider begründet ihre Position ...

Christiane Schneider hatte sich im Konflikt um den Film deutlich auf die Seite der Gruppe Kritikmaximierung gestellt und die dabei gegen die B5 erhobenen Vorwürfe auf recht einseitige Weise kolportiert. Sie warf den Aktivisten des internationalen Zentrums in einer Stellungnahme vom 2. November 2009 vor, daß sie die Absicht gehabt hätten, "das Existenzrecht Israels als Zufluchtsort jüdischen Lebens demonstrativ zu bestreiten", was diese nicht taten. Da dieser in der internationalen Politik als Begründung für die menschenrechtsfeindliche Blockade Gazas angeführte Vorwurf eine implizite Vernichtungsabsicht unterstellt, während Schneider die Absicht des Films unter Verweis auf seine Ankündigung durch die Gruppe Kritikmaximierung auf die Frage verkürzte, "was es bedeutet, in einem jüdischen Staat zu leben, der vor allem ein sicherer Hafen für Verfolgte und Überlebende der Shoah war und noch heute eine Zufluchtsstätte vor dem weltweit grassierenden Antisemitismus ist", manövrierte sie die Blockierer in eine judenfeindliche Ecke.

Diese Bezichtigung hielt sie auch in der Veranstaltung aufrecht, indem sie die deutsche Schuld an der Judenvernichtung zu einem Primat verabsolutierte, das Formen der Kritik an der israelischen Regierungspolitik, wie sie von den B5-Aktivisten betrieben wurde, prinzipiell verbiete. Für sie sei "die Verhinderung des Films, egal, was die sich im einzelnen gedacht haben, egal wie das im einzelnen abgegangen war, (...) etwas wirklich Unsägliches. Ob die sich die Symbolik überlegt haben oder ob sie das einfach dummbeutlig gemacht haben, das ist mir wirklich völlig egal. Aber daß ein solcher Film verhindert wurde, der Film eines jüdischen Regisseurs, der die Vergangenheit thematisiert, die Verantwortung der deutschen Geschichte, ist für mich einfach unvorstellbar".

... und stößt bei Rolf Verleger nur bedingt auf Zustimmung

... und stößt bei Rolf Verleger nur bedingt auf Zustimmung

Schneiders Weigerung, sich mit der detaillierten Aufklärung der Ereignisse vom 25. Oktober zu befassen, ist symptomatisch für die Maximierung einer Moral, der gegenüber nichts Bestand haben kann, was das Juden angetane Leid ins Verhältnis zu dem Leid setzt, das jüdische Israelis anderen Menschen antun. Dabei geht es nicht darum, einen unangemessenen Holocaustvergleich zu ziehen, sondern eine Vernichtungspolitik, die sich vor 65 Jahren zutrug, nicht zur Rechtfertigung heutigen Unrechts zu mißbrauchen. Eine unverkürzte Auseinandersetzung mit der Aktion der B5-Aktivisten und den gegen sie gerichteten Forderungen der Antideutschen könnte die emanzipatorische Lehre, die aus der Shoah zu ziehen ist, davor bewahren, in ihr Gegenteil verkehrt zu werden. Wo der Genozid des NS-Regimes zur Rechtfertigung imperialistischer Kriege, neokolonialistischer Besatzungspolitik und antidemokratischer Verbotsforderungen herangezogen wird, da wird sein Ungeist nicht etwa gebannt, sondern seine Wiederauferstehung vorbereitet.

Mit der von Schneider verlangten Verabsolutierung der historischen Schuld, sprich der Ausblendung ihrer Instrumentalisierung, wird eine angemessene Konfliktbewältigung verhindert. Auf diese Weise muß die Analyse des konstitutiven Gewaltverhältnisses, das zwischen Israelis und Palästinensern herrscht, unvollständig bleiben. Ihre Forderung, "in aller Bescheidenheit und Reflektion der Vergangenheit zu überlegen, welchen Beitrag man überhaupt leisten kann, daß es zu einem für alle Seiten gerechten und annehmbaren Frieden kommen kann", mißachtet die erheblichen Vorleistungen, die die Palästinenser bereits für einen Frieden erbracht haben, und die Obstruktionsstrategie, derer sich die israelische Regierung bedient, um den Status quo der Besetzung und Blockade aufrechtzuerhalten. Daß dieser Zustand die eine Konfliktpartei erheblich schmerzt, während die andere es sich sehr gut leisten kann, ihn immer weiter fortzuschreiben, ignoriert nur derjenige als Ausgangspunkt einer Konfliktlösung, der an einer solchen kein wirkliches Interesse hat. Daß die israelische Regierung es geschafft hat, die an sie gerichteten Forderungen weit jenseits der gültigen UN-Resolutionen auf einen Stopp des Siedlungsausbaus zu reduzieren, während die Palästinenser extreme materielle Not unter Rechtlosigkeit und Freiheitsentzug zu erleiden haben, verlangt nach politischen Mitteln, die mit der von Schneider verlangten "Bescheidenheit" niemals zu erwirken sind. Daß die Bundesregierung Israel militärisch und politisch unterstützt, während sie die Blockade Gazas realpolitisch gutheißt, hat mit "Bescheidenheit" oder historischer Schuld nichts zu tun. Es handelt sich um simple imperialistische Machtpolitik, die nicht von ungefähr mit dem Ende der DDR, mit dem auch die Geschichte der Antideutschen begann, ihren Aufschwung nahm.

Norman Paech glättet die Wogen

Norman Paech glättet die Wogen

Da Norman Paech in seiner Eigenschaft als Moderator der Veranstaltung vor allem darum bemüht zu sein schien, kein weiteres Öl ins Feuer zu gießen und den Konflikt, der an der eigenen Partei nicht spurlos vorübergegangen ist, weiter anzuheizen, blieb es Rolf Verleger überlassen, am Beispiel mehrheitlicher Befürwortung des Überfalls auf Gaza in Israel daran zu erinnern, daß Lanzmanns 1971 gedrehter Film heute anders aussähe:

"Deutsche Verantwortung schön und gut, aber das ist auch 40 Jahre her. Mein Vater, der die Auschwitznummer am Arm hatte, der ist 1965 gestorben. (...) Wenn man sich heute als Israeli in seinem nicht mehr vorhandenen Opferstatus suhlt, dann ist daran etwas Unwahres, dann ist daran das Anmaßen einer Rolle, und das muß man schon hinterfragen."

Schneider, der zufolge die Verantwortung der Geschichte dauerhaft verpflichte, kam in ihrer Entgegnung auf Verleger noch einmal auf die Aktion der B5 zurück und sattelte nun mit dem Urteil, daß sie "unverzeihlich" wäre, drauf. Wie auch immer sie auf den moralischen Hochsitz gelangt ist, von dem aus eine solche, den Übeltäter für nicht rehabilitierbar erklärende Maximalposition nur zu beziehen ist, auf ihm wird von jedem politischen, ökonomischen und militärischen Gewaltverhältnis so weit abstrahiert, daß nichts als die Gewißheit übrigbleibt, zu den Guten zu gehören und Recht zu haben. Schneider sprach nicht davon, daß der israelische Angriff auf Gaza mit seinen 1400 Todesopfern, den vielen Verletzten, seinen zahllosen traumatisierten Kindern und der umfassenden Zerstörung des Gebiets "unverzeihlich" sei. Das stände einer Politikerin, zu deren zentralen Pflichten es gehört, den Weg zu produktiven Lösungen niemals gänzlich zu versperren, auch nicht zu.

So verwahrte sie sich mit dem Argument, daß der Konflikt "unwahrscheinlich komplex" sei, gegen jegliche "Vereinfachung" in Form einer "Freund-Feind-Gruppierung", wie sie von den B5-Aktivisten betrieben worden wäre. Es gebe keine "leichte Lösung", denn die "Komplexität kann da nicht reduziert werden, man muß die ganze Geschichte erzählen", so die Forderung der Bürgerschaftsabgeordneten, die mehr als den vorsichtigen Verweis darauf, daß es Kritikwürdiges an der Regierungspolitik Israels gebe, zu dieser Geschichte nicht beizutragen hatte. Dem hielt Rolf Verleger als selbsterklärter "grober Vereinfacher" entgegen:

"Wenn man sagen würde, der Konflikt zwischen Deutschen und Juden ist unheimlich komplex, wenn sie das lange genug sagen, dann kriegen sie aber mit mir Ärger! Wer da jetzt wem was angetan hat, ist ziemlich klar."

Als Schlüssel zur Lösung des Konflikts bot Verleger eine Entschuldigung Israels an die Adresse der Palästinenser für die Vertreibungen des Jahres 1948 an. Das ging einem der anwesenden Antideutschen über die Hutschnur, mit dem Fluch "Scheiß Antisemiten", ausgestoßen als Kommentar zu den Ausführungen des Juden Verlegers, auf den Lippen verließ er empört den Saal. Verlegers Versuch, zwischen der Komplexität eines sich in Gegenbewegungen scheinbar unauflöslich verknotenden Konflikts und dem manifesten Gewaltverhältnis, auf dem er beruht, zu differenzieren, gehörte zu den Lichtblicken in dieser eher betulichen, mehr auf das Produzieren konsensualer Formeln denn auf das Beziehen klarer Streitpositionen bedachten Debatte.

Das Publikum ist geteilter Meinung

Das Publikum ist geteilter Meinung

So ging der Wortbeitrag einer Spartakistin, die den Mitgliedern der Linkspartei, so sehr sie in Fällen wie diesem miteinander über Kreuz lägen, nachsagte, sich in dem Wunsch einig zu sein, "daß die Linkspartei regierungsfähig wird, um den rassistischen Nachfolgestaat des Dritten Reiches zu verwalten, und die Voraussetzung dafür ist die Anerkennung Israels", in Wortgetümmel und Unmutsbekundungen unter. Da der erste Teil von "Warum Israel" nicht aufgeführt worden war, konnte die Ironie, daß ein jüdischer Sänger in ihm das Spartakistenlied vortrug und damit auf die an kommunistischen Revolutionären reiche Tradition des europäischen Judentums erinnerte, während Spartakisten sich heute mit Palästinensern solidarisieren und eine Art aussterbende Spezies darstellen, nicht weiter auffallen.

Weit aufmerksameres Gehör fand die nächste Stimme aus dem Publikum, die davor warnte, Partei zu ergreifen und dies womöglich auch noch als Klassenstandpunkt auszugeben. Parteilichkeit stand bei der Veranstaltung wohl auch deshalb nicht hoch im Kurs, weil man keinesfalls in Verdacht geraten wollte, mit der von Schneider wiederholt auf den Begriff des "Krieges" gebrachten Position der B5-Aktivisten zu sympathisieren. Immerhin stellte eine Frau aus dem Publikum fest, daß man die ganze Zeit über die B5 spreche, ohne daß deren Sicht vorkäme. Sie lehne zwar ab, was geschehen sei, sprach sich aber für die Legitimität einer Straßenblockade als politische Aktionsform aus.

In der Schlußrunde der Podiumsteilnehmer legte Christiane Schneider Wert auf die Feststellung, daß das Existenzrecht Israels nach wie vor von bewaffneten Kräften bestritten werde und daher die bedingungslose Anerkennung des israelischen Staates unabdinglich wäre. Was nicht nur faktisch unbestreitbar, sondern auch internationale politische Realität ist, bedarf der weiteren Bestätigung, während ein tatsächlich souveräner Staat der Palästinenser schon aufgrund des dafür bald nicht mehr vorhandenen Territoriums immer mehr außer Sicht gerät. Dogmen dieser Art sind Waffen im politischen Kampf, wie die menschenfeindliche Blockade Gazas zeigt, die mit eben dem Argument, die Hamas erkenne das Existenzrecht Israels nicht an, aufrechterhalten bleibt. Die von der islamistischen Partei längst ausgesandten Signale für einen Prozeß der Annäherung, in dem man sich tatsächlich auf Augenhöhe begegnet und in dem auch das Existenzrecht der Palästinenser eine Rolle spielt, werden mit der Totalität dieser Forderung ebenso zunichte gemacht, wie der hochgerüstete Militärstaat Israel in das falsche Licht permanenter Vernichtungsdrohung gerückt wird. Schneiders Insistieren auf die Komplexität des Konflikts, für den es keine einfache Lösungen gebe, erwies sich auch an dieser Stelle als absichtsvolles Verneblungsmanöver, das die simple Mißachtung palästinensischer Rechte in Abrede stellen soll. Einfache Lösungen gibt es vor allem deshalb nicht, weil ihnen das Insistieren der israelischen Regierung auf Gebietsgewinne für den Siedlerkolonialismus, auf Jerusalem als eigene Hauptstadt und auf eine militärische Vormachtstellung, die eine vollständige palästinensische Souveränität verhindert, entgegensteht.

Auszug aus Ägypten, Auszug aus Gaza - Rolf Verleger über einen biblischen Mythos

Auszug aus Ägypten, Auszug aus Gaza - Rolf Verleger über einen biblischen Mythos

Gleichzeitig streitbar und versöhnlich fiel das Schlußwort Rolf Verlegers aus. Er nahm die biblische Geschichte der Unterdrückung der Juden in Ägypten und ihrem Auszug aus dem Lande der Pharaonen zum Anlaß für ein Gleichnis:

"Die Hauptangst der Ägypter war ja, daß sich dieses andere Volk so vermehren könnte, daß es die Mehrheit bilden könnte, dann wäre es mit dem ägyptischen Charakter des Staates vorbei. So steht es in der Bibel. Genau diese eigene Angst vor dem Verlust des Charakters als jüdischer Staat bildet ja den Hintergrund der Lähmung der israelischen Politik bezüglich des besetzten Westjordanlands, denn die Politik ist in dem Dilemma gefangen zwischen dem Wunsch nach Ausdehnung des Staatsgebiets und der demokratischen Gepflogenheit, den dann Staatsbürger Israels werdenden Bewohnern dieses Gebiets die vollen Bürgerrechte zu geben. Und in diesem Dilemma ist Israel gefangen und kommt nicht heraus.

So erzählt dieser Mythos aus der Bibel immer noch von uns, aber plötzlich nicht mehr als den Helden der Geschichte. Und die neuen Israeliten, fragt man sich dann, wo sind die denn, sind das nicht vielleicht diesmal die aus Gaza? Und wieder strömen sie in die Wüste, als es ihnen vor zwei Jahren gelang, die Mauer zu durchbrechen, doch diesmal eben nicht mit dem Pessach-Lammbraten im Magen und den ungesäuerten Matze-Broten im Rucksack, sondern mit leeren Einkaufsbeuteln und mit leeren Benzinkanistern. Und wieder sind ihre Führer gottsuchende Fundamentalisten, genauso wie Moses.

Nun fragt man sich, war also David Ben Gurion der erste in einer Reihe neuer Pharaos? Wenn nun aber Juden die Rolle Pharaos spielen oder auch nur zu spielen scheinen, was wird dann mit dem Judentum, was wird unserem Mythos, was wird aus unserer Religion, was wird aus unserer Weltanschauung, wen sehen wir, wenn wir uns im Spiegel betrachten? Und deswegen sitze ich hier."

'Uebel & Gefährlich' ... Location im Hochbunker am Hamburger Heiligengeistfeld

"Uebel & Gefährlich" ... Location im Hochbunker am Hamburger Heiligengeistfeld

Filmkunst als Akt der Zugehörigkeit zelebriert

In der Hamburger Szenelokalität "Uebel & Gefährlich" kam am 18. Januar jenes Spektrum burgeoiser Jugendlichkeit zusammen, dessen Hang zu durchgestylter Erscheinung und angesagtem Amüsement ein gewisses Engagement bei der Ausgrenzung sozial indizierter Feindbilder nicht ausschließt. Claude Lanzmanns Anwesenheit hatte den Saal restlos überfüllt, gut 70 Personen hatten vergeblich angestanden und keine Karte mehr erhalten, so daß das Resümee der Veranstaltung zahlenmäßig klar im grünen Bereich lag. Dieser Beweis der "Solidarität" (taz, 20.01.2020) des Hamburger Publikums mit Lanzmann schien die Mehrzahl der Besucher über die eklatanten Schwächen des Lehnsesselgesprächs hinwegzutrösten, bei dem sich die drei älteren Herrn unter der stolpernden Moderation des Spex-Chefredakteurs Max Dax zu fortgeschrittener Stunde abmühten, einander reichlich abgegriffene Bälle zuzuspielen. Dem Publikum war das augenscheinlich ziemlich egal, zumal sein Beitrag zur Diskussion erstens nicht vorgesehen und zweitens seinem Bedürfnis, ein spektakuläres Event zu erleben, ohnehin widersprochen hätte. Beifall brandete allenfalls sporadisch und dann natürlich an jenen Stellen auf, an denen sich die Diskussionsteilnehmer aufrafften, in Rage redeten und den Kanon allfälliger Bezichtigungen abarbeiteten.

Rückschau auf ein bewegtes Leben

Rückschau auf ein bewegtes Leben

Natürlich muß man einräumen, daß der rund vierstündige Film "Warum Israel" die Kondition auf dem unbequemen Gestühl reichlich strapaziert hatte. Dennoch kann man zumindest hypothetisch annehmen, daß eine wortgewandte, pointierte und insbesondere inhaltlich hochkarätige Debatte die erlöschende Glut der Aufmerksamkeit zu lodernden Flammen entfacht hätte, wofür die Gesprächsteilnehmer bei ihrer Rede ins Leere aber offenbar nicht munitioniert waren. Der 83jährige Claude Lanzmann hatte als Ehrengast ohnehin ein Heimspiel und bediente mit gemächlich vorgetragenen Auszügen aus seiner Lebens- und Schaffensgeschichte routiniert die Erwartungen, ohne die Zügel seiner Botschaft aus der Hand zu geben. Konkret-Herausgeber Hermann Gremliza und der Philosoph Klaus Theweleit ergingen sich wahlweise im Lobhudeln Lanzmanns und einem verstiegenen Antisemiten-Bashing, dessen künstlicher Eifer die abstrusen Deutungen und aberwitzigen Verdrehungen des Offenkundigen vergeblich zu kaschieren suchten.

Übersetzerin, Claude Lanzmann, Max Dax, Klaus Theweleit, Hermann Gremliza

Übersetzerin, Claude Lanzmann, Max Dax, Klaus Theweleit, Hermann Gremliza

Vielleicht wäre die Geisterstunde anders verlaufen, hätten inhaltliche Kontrapunkte Konsens und Konsum sabotiert. Wenngleich die Hamburger Kontroverse natürlich mehrfach angesprochen wurde, ohne die es schwerlich zu einer Veranstaltung in diesem Rahmen gekommen wäre, war man doch in der vierten Etage des Hochbunkers derart unter sich, daß man vergeblich Ausschau nach feindlichen Gestalten und Argumenten hielt, die der Verödung und Versandung des spätabendlichen Geplänkels Einhalt geboten hätten.

Flankiert von Bodyguards ... aber kein Feind in Sicht

Flankiert von Bodyguards ... aber kein Feind in Sicht

Security war Trumpf, wobei ausgiebige Einlaßkontrollen natürlich einerseits Standard der Branche sind und andererseits das Gefühl bedienten, es sei Gefahr im Verzug. Nichts war passiert, zumal die finanzielle Sozialselektion eines Eintrittspreises von 10 Euro ohnehin alle armen Schlucker und sonstigen fragwürdigen Existenzen abgeschreckt hätte, die sich in die Selbstfeier der besseren Gesellschaft verirren könnten. Lanzmanns in die Erwähnung seiner Reisepläne eingeflochtener Scherz "wenn ich hier lebend herauskomme" trug denn auch der Gewißheit Rechnung, daß die Wälle und Tore der Festung schon deshalb leichterdings standhalten würden, weil niemand gegen sie anrannte. Daß muskelstramme Kerle jederzeit demonstrativ Präsenz zeigten, mutete unter diesen Umständen fast schon wie ein gewollter Overkill an, der die Gefahr beschwört, um ihre Abwesenheit zu verschleiern.

Die allzu rhetorische Auftaktfrage des moderierenden Max Dax, wie aktuell der Film heute noch sei, gab Lanzmann Gelegenheit, darin enthaltene Bezüge zu Deutschland hervorzuheben. Wie er betonte, handle es sich um keinen Propagandafilm, da er nichts beschönige und alle Widersprüche beim Versuch einer Neustaatengründung zeige. Entscheidend sei seine eigene wahrhafte und empathische Haltung auch bei Dingen, die ihm damals nicht gefielen. Sodann gab er Episoden und Wendepunkte seiner Lebensgeschichte zum besten, die seine Auseinandersetzung mit der eigenen jüdischen Identität und dem Staat Israel nachvollziehbar machen. Gäbe es keine Antisemiten, gäbe es keine Juden, lautete die These Sartres, die Lanzmann nach seinem ersten Besuch Israels im Jahr 1952 für widerlegt hielt. Für ihn sei es ein Schock gewesen zu begreifen, daß Israel eine einmalige Entität mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte sei. Es folgte eine lange Periode persönlicher Reifung, bis er sich in der Lage fand, 1973 mit "Warum Israel" seine Fragen künstlerisch umzusetzen.

Klaus Theweleit verabsolutiert den Blick der Kamera

Klaus Theweleit verabsolutiert den Blick der Kamera

Theweleit fand wenig überraschend einen inneren Zusammenhang in Lanzmanns filmischem Schaffen, der bereits im ersten Werk der Trilogie angelegt sei. Dann hob er als besonderes Moment der Arbeit mit der Kamera hervor, daß diese im Unterschied zu Zeitungsartikeln und Büchern überdauernde Aktualität schaffen könne. Warum sich Theweleit zu dieser nicht nachvollziehbaren These verstieg, wurde deutlich, als er zu seiner Kernaussage vorstieß, angesichts der mitlaufenden Kamera falle alles Ideologische weg, greife Lanzmann nie in die Person seines Gesprächspartners ein. Die abwegige Annahme, eine präsente Filmkamera garantiere eine wertneutrale Widerspiegelung von Realität, soll Lanzmanns Werke offensichtlich von aller Einseitigkeit freisprechen und sie mit einem Wahrheitssiegel unanfechtbar machen.

Hermann Gremliza sucht vertraute Jagdgründe auf

Hermann Gremliza sucht vertraute Jagdgründe auf

Wenig später durfte dann auch Hermann Gremliza vom Leder ziehen, wobei er Deutschland allen Ernstes zu einem Land erklärte, in dem eine antiisraelische Berichterstattung Hochkonjunktur habe:

"In Israel findet eine kleine Demonstration statt gegen die Blockade des Gazastreifens. Darüber berichtet die Tagesschau um 20 Uhr nicht als Nachricht, sondern als Film, und interviewt den Anführer dieser Demonstration, Uri Avnery, der sich darüber beklagt, daß so gut wie niemand zu dieser Demonstration gekommen ist. Am Tag darauf im Heute Journal wieder ein Film, (...) der ausführlich ihr Anliegen darstellt. Nun habe ich gar nichts gegen die Verbreitung von Nachrichten, aber das kam mir so vor, als würde, sagen wir mal, bei NBC eine Aufmachermeldung laufen, die die Besetzung des Audimax in Hamburg durch 25 Studenten zum Inhalt hat inklusive Film und Interviews. Ich will damit sagen, daß die Gier nach Nachrichten, in denen Kritik egal welcher Art an Israel geübt wird, fast unstillbar zu sein scheint und über jede sonst einigermaßen eingehaltene professionelle Einstellung hinausgeht. Sie finden das in unzähligen Beispielen, die wir ja in Konkret dokumentiert haben (...). Das wirft ein Bild auf dieses Land."

Nachdem Gremliza die Präferenzen der hiesigen Medienlandschaft in Sachen Nahost vollständig auf den Kopf gestellt hatte, formulierte er eine Pseudokritik an Lanzmanns Film: "Da gibt es ein kleines Erstaunen in einem Punkt. Als ich mir diesen Film angesehen habe, habe ich gedacht: Wo sind die Palästinenser? Wo ist die Hamas? Damals natürlich nicht virulent. Wo ist die PLO? Wo sind die Kader, die mit Sprengstoffanschlägen kämpfen, wo ist das alles? Das tritt in diesem Film seltsam in den Hintergrund." Während sich Lanzmann schon damals für nicht zuständig erklärt hat, die Palästinenser zu Wort kommen zu lassen, und auf der Hamburger Veranstaltung wie selbstverständlich den Satz fallen ließ, Israel sei "ein Land, in dem nur Juden leben", ist das Gremliza noch längst nicht genug: Er vermißt die Verteufelung der Palästinenser und ihre Reduzierung auf bloße Attentäter.

... für Palästinenser nicht zuständig?

... für Palästinenser nicht zuständig?

Nachdem sich Lanzmann auf das Argument zurückgezogen hatte, er könne und wolle nicht beide Seiten des Konflikts gleichzeitig darstellen und habe aus diesem Grund sogar ein Angebot Rabins ausgeschlagen, einen Film über den Unabhängigkeitskrieg zu drehen, eilte ihm Theweleit zu Hilfe:

"In 'Tsahal' gibt es eine längere Passage mit Palästinensern im Gazastreifen an den Kontrollen, an den Checkpoints, wie sie ihre Koffer auspacken müssen, wie sie ihre Kleider durchsuchen lassen müssen, um nach Israel zu kommen und zurück. Und Claude Lanzmann redet dann mit ihnen. Wenn man mit Leuten spricht, wenn die Kamera dasteht, verschwindet auch die Feindschaft. Gerade Claude Lanzmann zeigt an der Stelle, daß es möglich ist, auch in der Situation mit den Palästinensern zu sprechen. (...) Es gibt eine Vielzahl des Sprechens, die nicht propagandistisch wirkt, weil das Sprechen des andern immer genügend berücksichtigt wird. Die Palästinenser mit denen er spricht, können reden. Die Soldaten im Gazastreifen reden auch, die sagen 'o Gott, o Gott, wir werden mit Steinen beworfen von kleinen Kindern und müssen auch auf sie schießen. Wir wollen das nicht, ab und zu treffen wir einen, aber eigentlich ist uns das unangenehm. Sie sagen sogar, wenn wir an der Stelle der Palästinenser wären, würden wir genauso handeln. (...) Es geht nicht primär um den Feind. Wir befinden uns hier in einer Klemme und müssen uns kriegerisch verhalten. (...) Film ist ein Medium, das Menschen und Verhältnisse verschönt, weil er an Traum grenzt oder sogar ein Traum ist, selbst wenn man überwiegend - in Anführungszeichen - dokumentiert. Was die Dokumentarfilme Lanzmanns an sich haben, ist diese Seite Traum von Friedlichkeit, einfach durch die artistische Arbeit, die da gemacht wird, ganz unabhängig davon, ob ich die politischen Standpunkte der Palästinenser teile oder nicht."

Ein Traum von Friedlichkeit ... Filmkunst für bourgeoise Abgeklärtheit

Ein Traum von Friedlichkeit ... Filmkunst für bourgeoise Abgeklärtheit

Da "Tsahal" die israelischen Streitkräfte verherrlicht und das Hohe Lied des Panzers Merkava singt, sprengt die Unterstellung, Lanzmanns Kamera und vereinzelte Gespräche mit den an Checkpoints gedemütigten Palästinensern bringe die Feindschaft zum Verschwinden, jedes erträgliche Maß. Als habe es das Massaker im Gazastreifen und zahllose andere Greueltaten nie gegeben, schwadroniert Theweleit von versehentlich getroffenen Kindern, was den Soldaten "unangenehm" sei. Ausgerechnet im Zusammenhang mit Lanzmanns rückhaltloser Bewunderung der israelischen Kriegsmaschinerie von einem "Traum von Friedlichkeit" zu sprechen, unterschreitet das Niveau jeder ernstzunehmenden Argumentation.

Anschließend erinnerte sich Theweleit daran, daß 1973 ein Auftritt des israelischen Botschafters vom SDS verhindert wurde. Hätte er das damals gewußt, wäre er sofort ausgetreten, ereiferte sich der Kulturtheoretiker im Versuch, seiner politischen Vergangenheit abzuschwören: Es handle sich um "idiotischen Antisemitismus", und wer so etwas vertrete, sei kein Linker, sondern de facto ein Rechtsradikaler.

Fortgeschrittenes Stadium sinnentleerter Apologie

Fortgeschrittenes Stadium sinnentleerter Apologie

Das hörte Lanzmann gern:

"Ich bin mit Klaus Theweleit völlig einverstanden. Was mich verblüfft, ist der Rollenwechsel: Aus den Israelis werden die Schlächter und Henker, aus den Palästinensern die völligen Opfer stilisiert. Wenn Leute, die kommen, um sich diesen Film anzuschauen, von einer israelischen Armee aus dem Kostümfundus empfangen werden, die dann das Publikum beschimpft als Schweinejuden, was ja eine der klassischen Nazibeschimpfungen ist, so ist das genau das, was ich mit diesem Rollenwechsel meine. Das ist aber nicht neu, das haben wir schon in Entebbe erlebt. Es findet eine absolute Verteufelung Israels statt. Bei bestimmten Leuten reicht es, daß man den Namen Israel erwähnt, dann gehen die ab. (...) Wir müssen klarstellen, daß der israelische Staat gezielte Angriffe macht und nicht einfach in die Zivilbevölkerung reinschießt",

verknüpfte Lanzmann die Rangelei vor dem Hamburger B-Movie mit Entebbe und der angeblich sauberen und legitimen Kriegsführung des israelischen Staats.

Umgeben von Antisemiten ... wer hält Gremlizas politischer Moral stand?

So ermuntert, mochte auch Gremliza nicht zurückstehen, der in mehr als der Hälfte aller Deutschen verkappte oder offene Antisemiten sieht:

"Mir ist unwohl bei diesen 15 Prozent. (..) Es kaschiert etwas, was in der Gesellschaft insgesamt los ist. Es ist ja nicht so, daß das der antisemitische Kern der deutschen Gesellschaft ist. Pustekuchen. Der Antisemitismus dieser Gesellschaft geht über die ganze Breite des politischen Spektrums über alle Ebenen und macht auf die Gesellschaft bezogen nicht 15 Prozent, sondern wenn man es einigermaßen hart definiert, was Antisemitismus ist, geht es über die 50 Prozent weg. Und nur weil viele gelernt haben, daß man sich so oder so besser nicht äußert, weil es dem Export schadet und man viel Ärger kriegt und weil man sonst vielleicht doch mal wie Herr Hohmann aus der Fraktion geschmissen wird, halten die meisten die Schnauze. Untergründig, wenn man sich ihre Reden anguckt, enthält die Struktur ihres Denkens all das, was man zu Recht als Antisemitismus definieren muß. (...) Es geht weiter bei der Linkspartei, wenn der außenpolitische Sprecher der Linkspartei, die beiden, die dafür zuständig sind (...) sich bei der Hisbollah und bei der Hamas die Klinke in die Hand geben und mit ihren Erkenntnissen, was für ungeheure Widerstandskämpfer das seien, mit denen man ins Geschäft kommen müsse, nach Hause zurückkehren, dann zeigt das, wenn diese Partei solche Leute nicht loswerden kann, daß auch dort ein weit über 50 Prozent reichendes antisemitisches Denken herrscht."

Begeisterungsstürme blieben aus ... Skandal ohne Substanz

Begeisterungsstürme blieben aus ... Skandal ohne Substanz

Dem Publikum gefielen die markigen Worte, weshalb es hier lebhaften Szenenbeifall gab, der freilich sofort wieder einem untergründig aufkeimenden Unmut wich: Die Parolen sind genannt, laßt uns endlich nach Hause gehen, schienen die Zuschauer das Ende der Darbietung anzumahnen. In der Sesselrunde der zu einem Disput niemals gelangten Debattenteilnehmer breitete sich Ratlosigkeit aus, als die Veranstaltung ohne rechten Abschluß zu bröckeln drohte. Also erklärte man die Sache kurzerhand für beendet, was gewiß das beste war, da an diesem Abend ohnehin keine nennenswerte inhaltliche Debatte geführt wurde, deren abruptes Ende zu bedauern gewesen wäre.

Projektionen eines falschen Bewußtseins?

Projektionen eines falschen Bewußtseins?

Mut zur Unbescheidenheit ... die neokonservative Offensive lahmt

Die zahlreichen Stellungnahmen, Analysen und Positionsbestimmungen, die zu der verhinderten Vorführung des Films "Warum Israel" am 25. Oktober 2009 verfaßt wurden, markieren einen beklagenswerten Zustand der Linken nicht nur in Hamburg. Nach 20 Jahren antinationaler Ideologieproduktion ist von dem emanzipatorischen Ansinnen der Auseinandersetzung mit nationalistischer und rassistischer Suprematie kaum mehr geblieben als ein Etikettenschwindel, mit dem bourgeoise Klasseninteressen als fortschrittliches Anliegen eskamotiert werden. Während die vollends manifest gewordene, seit langem schwelende Krise des Kapitalismus den Herrschenden allen Anlaß dazu gibt, die Legitimationsressource nationaler Identität zu mobilisieren, um den dominanten Kapitalmachtfraktionen neuen Expansionsraum zu verschaffen und das berechtigte soziale Aufbegehren in ihre Bahnen zu lenken, werden gerade diejenigen Kräfte der radikalen Linken, die diesem Widerstand Fundament und Richtung geben könnten, mit dem Taschenspielertrick systematischer Begriffsverwirrung als neue Faschisten denunziert.

So wird auf der Basis einer willkürlichen Gleichsetzung völlig unterschiedlicher Ausgangspositionen die nationale Reaktion eines seine Besitzstände verteidigenden Bürgertums mit dem von seinem Akkumulationsregime betroffenen Subproletariat aus Erwerbslosen und Migranten anhand formaler Vergleichbarkeiten in eins geworfen. Der von Antideutschen häufig auf ihre politischen Gegner angewendete Begriff des "Volksmobs" schreibt diesen allein deshalb, weil sich Menschen in ihrem Klasseninteresse solidarisch zeigen, ein völkisches, mithin nazistisches Bewußtsein zu. Die Anwendung dieses demagogischen Affronts auf unterdrückte Bevölkerungen in aller Welt dient sich der zivilisatorischen Suprematie an, mit der imperialistische Akteure wie die USA seit dem Untergang des Systemgegners ein neues Feindbild konstruieren, um ihre globale Kriegführung zu legitimieren. So geraten Menschen, die als Asylbewerber und Flüchtlinge in der Bundesrepublik häufig einen ungesicherten Aufenthaltsstatus haben, ins Visier einer vorgeblichen Linken, wenn sie die Kämpfe gegen die Okkupationsmächte in ihren Herkunftsländern unterstützen. Im Ergebnis zeigt sich, daß Antideutsche als fünfte Kolonne kapitalistischer Großmächte fungieren, deren Offensive zur weltweiten Durchsetzung ihrer Verwertungsinteressen nicht vor den eigenen Bevölkerungen haltmacht. Sich um die Zersetzung einer linken Gegenbewegung verdient zu machen, verspricht höchsten Lohn, der nicht geringer zu schätzen ist, wenn er vielleicht erst nach einigen Jahren ausgezahlt wird.

Mit der erklärten Abkehr antideutscher Vordenker vom Ziel der Verwirklichung des Kommunismus zeigt sich, daß die Denunziation einer angeblich verkürzten Kapitalismuskritik, die zwischen Produktiv- und Finanzkapital unterscheidet, als strukturell antisemitisch niemals anders gemeint war denn als Mittel zur Desavouierung jeglicher Kapitalismuskritik. Wiewohl es zutrifft, daß die Krise des Kapitals nicht aus finanzkapitalistischer Spekulation entstanden, sondern Ergebnis des grundlegenden Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit ist, nimmt die Reduzierung der marxistischen Analyse des Kapitalverhältnisses auf psychologische Dispositionen, die auf die Schuldzuweisung an die Adresse des Juden abonniert sind, eine bürgerliche Kehre, mit der eine Theorieproduktion gesichert werden soll, die die eigenen Privilegien schützt, indem sie von politischer Praxis ausgeklammert werden.

Die Abstraktion von der schlichten materiellen Teilhaberschaft am herrschenden Akkumulationsregime läßt sich desto überzeugender als ein Produkt überlegener Moral ausweisen, indem Maximalpositionen adressiert werden, von denen aus sich alles andere zum eigenen Vorteil sortieren läßt. Mit dem Postulat der Unvergleichlichkeit jüdischen Leids läßt sich dementieren, daß auch der Staat Israel daran gebunden ist, internationale Standards des rechtlichen und politischen Verkehrs einzuhalten. Dieser Ausnahmezustand legitimiert Vorgehensweisen willkürlicher Art, wie sie typisch sind für die machiavellistische Außerkraftsetzung demokratischer Verfahren und humanistischer Werte. Nur wenn man die industrielle Massenvernichtung des europäischen Judentums ihrer materiellen Triebkräfte enthebt, kann man sich als Deutscher mit der Umwertung eigener Schuld in den Aktivposten besonderer Handlungsvollmacht zu einer moralischen Supervision aufschwingen, mit der sich die Welt im eigenen Interesse ordnen und das Konto der davon Betroffenen auch noch mit den dabei entstehenden Verlusten belastet werden kann.

Eine sich ästhetischer und psychoanalytischer Kriterien bedienende Weltanschauung, die bei aller Komplexität ihrer Theoriebildung dennoch bei der simplen, an die Überinstanz moralischer Verfügungsgewalt appellierenden Bewertung, daß das eine falsch und das andere richtig sei, anlangt, wäre nicht weiter tragisch, wenn sie im Spiegelkabinett selbstverliebter Monologe verbliebe. In der Unauflöslichkeit sozialer Gegenseitigkeit bedarf es jedoch immer des anderen, um die Kompetenz der eigenen Überlebensstrategien unter Beweis zu stellen. Deren immanente Haltlosigkeit, das Leid des andern zu produzieren und doch stets von ihm verschont zu bleiben, schafft stetigen Bedarf an aggressiver Selbstbehauptung. Angesichts der Verstiegenheit, die Welt der eigenen Begrifflichkeit untertan zu machen, anstatt ihre Verhältnisse auf kritische Weise in Frage zu stellen, kann es nicht verwundern, wenn Juden von Nichtjuden mit dem Brandmal des Antisemitismusstigmas gezeichnet werden.

Nur wer den eigenen moralischen Rigorismus zum verbindlichen Maßstab für alle anderen zu erheben trachtet, befindet sich auf der Straße des Erfolgs. Wer hingegen Außenseiterpositionen bezieht, weil er sich als Gattungswesen begreift und das, was dem andern an Gewalt und Unrecht zugefügt wird, zur eigenen Sache macht, verkörpert die Antithese des sozialdarwinistischen Überlebenskampfes. Die Durchdringung der radikalen Linken mit neokonservativer Ideologie ist um so spektakulärer, als deren Argumentationen und Konstrukte hanebüchener kaum sein könnten. Die gelangweilte Überheblichkeit der Runde um Claude Lanzmann, deren Teilnehmer es nicht einmal für notwendig erachteten, sich um eine überzeugende Begründung ihres Eindreschens auf linksradikale Positionen zu bemühen, demonstrierte, daß man den Gegner eigentlich schon tot und begraben wähnt. Ein Rudiment längst überwundener Streitbarkeit, das mit der Macht medialer, ideologischer und politischer Hegemonie endgültig zu erledigen den Aufwand kaum zu lohnen scheint.

Diese Haltung, die sich im Fußvolk der antideutschen Szene in der inhaltlichen Unbestimmtheit lediglich schicker und provokanter Parolen spiegelt, läßt eine Schwäche der neokonservativen Offensive erkennen, die von ihren Trägern schon deshalb kaum ernstgenommen wird, weil ihr Insistieren auf gesellschaftliche Anerkennung keine Verbindlichkeit zuläßt, die ihr politisches Bekenntnis auf eine antagonistische kämpferische Praxis übertrüge. Als Bewegung oder Strömung mögen die Antideutschen im Aufwind sein, als den zentralen gesellschaftlichen Konflikt, den Kampf um soziale Emanzipation, bearbeitende politische Kraft sind sie jedoch schon jetzt Episode. Eine Bundesrepublik, die aufs engste mit den USA und Israel zusammenarbeitet, bedarf ihrer ebensowenig wie eine EU, in der die Krisenregulation supranational moderiert wird, während das Nationale als Popanz irregeleiteter Massen fungiert. Als Produkt bourgeoisen Klasseninteresses ist sie für die Befriedung des ausgegrenzten Subproletariats irrelevant, so daß sich ihr Existenzzweck auf die Delegitimation einer Linken reduziert, die sich nicht auf der Schiene parlamentarischer Einbindung herrschaftsförmig zurichten läßt.

Es gibt daher keinen Grund, zurückzustecken und der neokonservativen Offensive Raum zu geben. Sie kann viel mehr zu einer Rekonstitution linken Selbstverständnisses genutzt werden, indem man ihren angeblich fortschrittlichen Anspruch ernstnimmt und an der Verachtung, mit der sie politisch unterdrückte und ökonomisch ausgebeutete Menschen belegt, bemißt. Anlässe wie der Streit um den Film "Warum Israel" bieten sich daher an, um vom Beliebigen des gesellschaftlichen Spektakels auf das Wesentliche der kritischen Auseinandersetzung mit ihm zu kommen.

Alfred Hrdlicka 'Marsyas I' - Mahnmal gegen Krieg und Faschismus, Albertinaplatz Wien

Alfred Hrdlicka "Marsyas I"
Mahnmal gegen Krieg und Faschismus, Albertinaplatz Wien

21. Januar 2010