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BERICHT/031: Lüge und Wahrheit über Wiederaufbau und Landwirtschaft in Afghanistan (SB)


Ein Vortrag von Rasaq Qadirie am 14. Juli 2010 in Hamburg


Der anwachsende Hunger und die Verteuerung essentieller Lebensmittel sind Ausdruck eines globalen Sozialkampfs, der einem Sechstel der Menschheit die Verfügbarkeit über ausreichende Ernährung vorenthält und selbst in den reichsten Industrienationen die Spaltung der Gesellschaft vertieft, die in wachsenden Teilen der Verarmung überantwortet wird. Die Triebkraft kapitalistischer Wertschöpfung ist das ausschließliche Interesse, den Wert der menschlichen Arbeit daran zu bemessen, wieviel Nutzen er denjenigen erbringt, die sich ihren Mehrwert aneignen. Dies führt nicht nur zu einer räuberischen Aneignung des Produkts ihrer Arbeit, sondern auch zur Durchsetzung einer globalen Mangelordnung, die sich im Eigentumsanspruch auf die Reproduktionsbedingungen des Menschen wie auch das fruchtbare Land samt Pflanzen und Tieren begründet. So mündet die Sicherung künftigen Überlebens elitärer Minderheiten in die Zerstörung potentieller Lebensgrundlagen einer Mehrheit der Menschheit.

Publikum und Anschauungsmaterial beim Vortrag

Publikum und Anschauungsmaterial beim Vortrag

Entgegen dem Versprechen, auf Grundlage hochtechnologisch organisierter landwirtschaftlicher Produktion den Hunger der Welt zu besiegen, führt der Mangel als konstituierendes Moment der Ökonomie zu einem Prozeß der Verknappung und Vernichtung. Rentable Kapitalverwertung in den Metropolen, welche die Profitrate der Kapitaleliten und das Einkommen ihrer staatlichen Funktionsträger sichert, beruht auf einem Zwangsverhältnis: Das Gefälle zwischen der Produktivität der Volkswirtschaften wird nicht verringert, sondern zementiert und die Menschen in den Armutsländern verhungern, weil der Lohn ihrer Arbeit unter das zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft erforderliche Niveau gedrückt wird.

Die Globalisierung der Nahrungsmittelproduktion erzwingt einen neoliberalen Strukturwandel, der einen exportorientierten Anbau einfordert und die kleinbäuerliche Existenzweise millionenfach vernichtet. Zahllose Menschen können ihre Ernährung nicht mehr aus dem eigenen Anbau bestreiten und müssen daher Lebensmittel kaufen, deren hohe Preise an das Weltmarktniveau gekoppelt sind. Für die Mehrzahl der Bewohner armer Länder, deren geringfügiges Einkommen lediglich eine schlichte Grundernährung zuläßt, ist damit das Ende der Ernährungssicherheit verbunden.

Der Klimawandel forciert durch Wüstenbildung, Versteppung, Wassermangel und andere katastrophale Prozesse den dramatischen Verlust landwirtschaftlich nutzbarer Böden. In dieser verödenden Welt treiben die Ausweitung der Fleischproduktion, steigende Preise der für Feldwirtschaft und Düngemittelerzeugung zentralen Ressourcen Erdöl und Erdgas, die Monopolstrukturen der Saatgutproduzenten und die Erzeugung von Agrosprit die Verknappung und Teuerung von Nahrungsmitteln voran, von der selten die Erzeuger, wohl aber die Nutznießer der Kapitalakkumulation profitieren. Preissteigerungen an den internationalen Rohstoffbörsen füllen die Taschen der Investoren, deren zunehmendes Interesse an Nahrungsmitteln unmittelbar mit deren prinzipieller Verknappung zusammenhängt. So gehen die materiellen Bedingungen der Agrarproduktion und die Wertschöpfung am Finanzmarkt Hand in Hand, wenn es gilt, Verfügung über Lebensmittel nach Maßgabe ihres Mangels zu erlangen.

Für eine Agrargesellschaft wie die Afghanistans, das kaum über industrielle Wirtschaftsstrukturen verfügt und dessen Bevölkerung in hohem Maße vom Ertrag der Subsistenzwirtschaft abhängt, sind die eingangs angerissenen weltweiten Verwertungsprozesse bei der Nahrungsmittelproduktion von existentieller Bedeutung. Kriegsgeschehen und politische Scharaden drohen jedoch in der medialen Rezeption des Konflikts am Hindukusch die ökonomischen und sozialen Folgen der dauerhaften Okkupation durch westliche Mächte auszublenden. Den Blick auf diesen zerstörerischen Aspekt der Kriegsführung und Besatzung zu lenken, ist daher aufschlußreich und nicht minder unverzichtbar wie die Erörterung geostrategischer oder dem Zugriff auf Bodenschätze dieser Weltregion geschuldeter Analysen.

Rasaq Qadirie trägt vor

Rasaq Qadirie trägt vor

Auf Einladung der roten reporter in der ag medien.hamburg der Partei Die Linke berichtete am Abend es 14. Juli im Magda-Thürey-Zentrum in Hamburg-Eimsbüttel der Geologe und Landwirtschaftsexperte Rasaq Qadirie über die Lebensverhältnisse in seiner afghanischen Heimat unter besonderer Berücksichtigung traditioneller Anbauweisen, deren zunehmender Zerstörung sowie seiner persönlichen Forschungsarbeit und Initiativen zur Wiedergewinnung einer nachhaltigen Ernährungsgrundlage. Wie es in der einführenden Moderation der Veranstaltung hieß, sei diese dem Wunsch geschuldet, einer massiven Kampagne der Desinformation über Afghanistan, welche die hiesige Presselandschaft dominiert, radikale Aufklärung entgegenzusetzen. Die Medienmaschine laufe heute so geschmiert, daß es selbst den dort Tätigen zunehmend schwerfalle, deren Mechanismen und Inhalte zu durchschauen. Wie die Irakkriege gezeigt hätten, handle es sich bei den modernen Feldzügen um regelrechte Lügenfabriken, die sich der Interpretationshoheit vollkommen zu bemächtigen versuchten.

Das gelte auch für Afghanistan, wo sich zahllose Unwahrheiten um die Kriegsführung und deren Folgen rankten. So werde insbesondere der Wiederaufbau als positiv konnotierte Formel vorgehalten, die ausländische Soldaten als Freunde und Helfer präsentiert. Unerwähnt bleibe freilich, wie im Troß des Wiederaufbaus vor allem US-amerikanische Unternehmen ihre Profitinteressen durchsetzen. In jeder Gesellschaft sei die Ernährung von elementarer Bedeutung. Das gelte in besonderem Maße für Afghanistan, das als Agrarland vielfach von Subsistenzwirtschaft geprägt sei. Man wolle in dieser Veranstaltung einerseits zeigen, was Profitinteressen in diesem Land anrichten, und andererseits einen Ansatz vorstellen und erörtern, der sich die Rückgewinnung afghanischer Eigenständigkeit auf die Fahne geschrieben hat.

Rasaq Qadirie, der in Afghanistan aufgewachsen ist und in Deutschland das Studium der Geologie absolviert hat, ist in den zurückliegenden Jahren immer wieder in sein Heimatland gereist, für das sein Herz schlägt. Sein beständiger Wunsch, eines Tages dauerhaft dorthin zurückzukehren, hat der Krieg bislang verhindert, dessen Ende er aus nur zu verständlichen persönlichen Gründen wie auch im Interesse aller Afghanen ersehnt. Qadirie hat sich intensiv mit Fragen der afghanischen Landwirtschaft befaßt, wobei er seine Forschungsansätze in verschiedenen Projekten praktisch umsetzt. Er bezeichnet sich als Aktivisten und ordnet sein Engagement einem notwendigen und umfassenden Prozeß afghanischer Selbstbestimmung zu, die unter der langjährigen Besatzung vollends zu Grabe getragen zu werden droht.

Vor allem aber ist Rasaq Qadirie kein Angehöriger der afghanischen Eliten, für die der Besuch einer deutschen Schule, ein Auslandsstipendium und ein Studium in einem westlichen Land selbstverständliches Privileg und Voraussetzung der Rückkehr in eine hochdotierte und einflußreiche Position ist. Er stammt aus einfachen Verhältnissen und mußte sich Bildung gegen heftige Widerstände erkämpfen, so daß er von Diskriminierung und Feindseligkeit sowohl in seiner Heimat, als auch in Deutschland und Kanada, wo er längere Zeit gelebt hat, abendfüllend erzählen könnte. Seine Zuhörer bei der Hamburger Veranstaltung, welche die zweite in einer Reihe war, die den Referenten durch mehrere deutsche Städte führt, profitierten von seiner lebensgeschichtlichen Kenntnis beider Welten: Er blickt nicht aus der Ferne einer im Ausland saturierten Emanzipation von den afghanischen Verhältnissen mit elitärem Blick zurück, sondern hat den Kontakt zu den Arbeitern, Handwerkern und Bauern in seinem Heimatland nicht verloren. Daher spricht er nicht aus westlicher Sicht von einer Basisbewegung, die es in Afghanistan zu fördern gelte, sondern agiert als genuiner Akteur derselben.

Wenn er im Rahmen seiner Initiative "Mein kleiner wundervoller Garten" praktisch mit Saatgut experimentiert oder der ebenfalls von ihm gegründeten Kampagne "Saving the Seed" umfassende Ansätze landwirtschaftlicher Produktion erforscht und umsetzt, arbeitet er buchstäblich Hand in Hand mit den Trägern überlieferten Wissens zusammen, das zum allergrößten Teil mündlich und im alltäglichen Umgang weitergegeben wird. Reißt diese Kette durch Landflucht und Entfremdung der Nachkommen ab, droht unwiederbringlich verlorenzugehen, was der Anbau von Nahrungsmitteln unter den spezifischen Bedingungen dieses Landes an bemerkenswerten Errungenschaften hervorgebracht hat. Die Versorgung auf Grundlage ausländischer Erzeugnisse ist nach Überzeugung Qadiries ein sozialimperialistischer Vernichtungsprozeß, der die Afghanen einer Existenz aus eigenen Kräften beraubt.

Durch reichhaltiges Bildmaterial unterstützt, das er selbst auf seinen Reisen unter nicht selten abenteuerlichen Umständen angefertigt hat, gewährte der Referent seinen Zuhörern einen ebenso analytischen wie lebenspraktischen Blick auf Geschichte, Ressourcen und Techniken der afghanischen Landwirtschaft, die in essentiellen Elementen zu bewahren und seinen Landsleuten zurückzubringen er sich zum Anliegen gemacht hat. Er dokumentierte das Elend der Kinder, die in verseuchten Gewässern Kabuls nach Eßbarem suchen, sich in mühseliger Arbeit notdürftig durchzuschlagen versuchen oder in ländlicher Umgebung stundenlange Fußmärsche als Wasserträger bewältigen müssen, ohne ihre kostbare Fracht auf den Heimweg zu verlieren.

Magda-Thürey-Zentrum von innen

Magda-Thürey-Zentrum von innen

Er zeigte auch die reichhaltige Fülle der Getreidesorten, Gemüse und Früchte, die nicht selten von hohem Nährwert sind und wertvolle Inhaltsstoffe enthalten, die oftmals zur Verhütung von Krankheiten oder als Therapeutika hilfreich sind. So kontrastierte er beispielsweise gehaltvolle einheimische Brotfladen mit amerikanischen Importprodukten, wobei letztere nicht nur wenig sättigend sind, sondern zu Verdauungsproblemen führen. Ähnlich verhält es sich mit eingeführten Mehlsorten und Getreideerzeugnissen, die unter der Bevölkerung Allergien und andere Leiden hervorrufen. Die Wiedergewinnung der ursprünglichen Anbau- und Ernährungsweise, das wurde auf anschauliche Weise deutlich, ist keine marginales Beiwerk, sondern das zentrale Element der Überlebenssicherung.

Wie Rasaq Qadirie zu berichten wußte, zählte Afghanistan in der Frühzeit menschlicher Kulturgeschichte zu den Wiegen des Ackerbaus. Noch vor hundert Jahren fand die Forschung mehr als 113 wilde Getreidesorten sowie 100 Arten von Weintrauben im Land und Ende der 1930er Jahre wurden nicht weniger als 28 Karottensorten angebaut. Afghanistan birgt eine ungeheure Vielfalt an Nutzpflanzen, die auch unter extremen Bedingungen gedeihen und beträchtliche Erträge liefern. Wer sich aus westlicher Sicht ein durchweg ödes Land vorstellt, das allenfalls Mohn für die Opiumproduktion in enormen Mengen hervorbringt, sitzt einem folgenschweren Irrtum auf: Kürbisse, Melonen und Tomaten, Granatäpfel, Maulbeeren, Feigen und Aprikosen, Pistazien, Mandeln und Walnüsse, Rosinen, Morcheln und vieles mehr zeugen von einem Nahrungsreichtum, dessen Rückgewinnung unter traditionellen oder daraus abgeleiteten Anbauweisen die Menschen ernähren könnte.

Unter dem Stichwort "Monsanto" kritisierte der Referent die verheerenden Eingriffe westlicher Agrokonzerne, die unter Lockangeboten oder schlichtweg Zwang örtlicher Machthaber Abhängigkeiten schaffen, die für die kleinbäuerlichen Produzenten unbezahlbar und daher existenzvernichtend wie auch ruinös für die Böden sind. Setzt man die importierten Saaten, Dünger und anderen kostspieligen Hilfsmittel ab, bedarf es je nach den Umständen bis zu zwanzig Jahren vorsichtiger Belebung der Böden, bis der frühere Zustand der Fruchtbarkeit wiederhergestellt ist. Dieses Beispiel unterstrich in aller Deutlichkeit, um welchen Vernichtungsprozeß es sich bei einem solchen Übergriff durch westliche Agrokonzerne handelt.

Hingegen läßt sich Landwirtschaft in Afghanistan auf Grundlage der mineralhaltigen Böden und unter Einsatz traditioneller Bewässerungstechniken so sparsam und nachhaltig betreiben, daß Ernten mit erstaunlich geringem Wasserverbrauch und ohne künstlichen Dünger möglich sind. Was westlicherseits als vorgeblich unverzichtbarer Fortschritt aufgezwungen und leider oftmals auch von NGOs im Rahmen sogenannter Hilfsprojekte implantiert wird, mutet demgegenüber wie eine aus Ignoranz und Bösartigkeit geborene Barbarei an. Rasaq Qadirie berichtete in diesem Zusammenhang von Extrembeispielen wie importierten Holsteiner Kühen, die sich in dem zentralasiatischen Land nicht ernähren konnten, oder inkompetent ausgeführten Brunnenprojekten, die zur großflächigen Verseuchung des Grundwassers führten.

Grundsätzlich bestritt Rasaq Qadirie, daß in Afghanistan ein Wiederaufbau stattfindet, der diesen Namen verdient. Ruinen, verwüstete Straßen und wuchernde Elendsquartiere in Kabul, Kriegsinvaliden, Bettler und Hungernde auf den Straßen, unterernährte Kinder, die keine Schule besuchen können, und viele eindrückliche Bilder mehr belegten diese nachvollziehbare These des Referenten. Ein verschwindend geringer Bruchteil des Militäretats der Besatzungsmächte für Afghanistan reichten seines Erachtens aus, um seinen Landsleuten tatsächlich ein Leben in Würde zu ermöglichen. Alle ausländischen Soldaten und Helfer würden im Schnitt mit sechs Flaschen sauberen Wassers pro Tag versorgt. Allein von dem dafür ausgegebenen Geld könnte man Afghanistan zweimal aufbauen, so die prägnante These Qadiries.

Afghanistan ist ein Land von der doppelten Größe Deutschlands, in dem jedoch nur 28 Millionen Menschen leben. Da lediglich zwölf Prozent der Bodenflächen bewirtschaftet werden, sei es unter Rückgriff auf einheimische Ressourcen und deren sorgsamen Ausbau prinzipiell möglich, zu vollständiger Selbstversorgung überzugehen, wenn dies den Afghanen gestattet würde. Was die Menschen in seiner Heimat wollen, ist laut Qadirie in einfachen Worten zu beschreiben: Sie wollen essen, endlich wieder ohne Angst leben und nicht schikaniert werden, weder von Soldaten, noch von ausländischen "Helfern", die in ihren teuren Geländewagen den Weg durch die Menge erzwingen. Die Afghanen, so fügte Rasaq Qadirie gleichsam als angemessenes Schlußwort der angeregten Diskussion nach dem Vortrag hinzu, seien durchaus in der Lage, ihr Land selbst zu verteidigen, sofern es ihnen gelänge, sich zu einigen und nicht gegeneinander ausspielen zu lassen.

Magda-Thürey-Zentrum in Hamburg-Eimsbüttel

Magda-Thürey-Zentrum in Hamburg-Eimsbüttel

23. Juli 2010