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BERICHT/032: Solidarität mit Venezuela - Kundgebung in Hamburg-Ottensen (SB)


Gegen die Aggression des Imperialismus

Solidaritätskundgebung mit Venezuela am 4. August 2010 in Hamburg

Redner der Kundgebung vor Transparenten

Internationale Solidarität in Hamburg "Als Haitianer bin ich Lateinamerikaner. Was in Lateinamerika passiert, betrifft mich auch", erklärte ein Teilnehmer einer Solidaritätskundgebung mit Venezuela, die am 4. August 2010 in Hamburg in der Ottenser Hauptstraße unweit des Altonaer Bahnhofs von mehreren Veranstaltern aus verschiedenen politischen Organisationen, Komitees und Netzwerken organisiert worden war, im Gespräch mit dem Schattenblick. Die große Selbstverständlichkeit, um nicht zu sagen Beiläufigkeit, mit der bei dieser Gelegenheit von diesem wie auch vielen weiteren Anwesenden und Aktivisten die internationale Solidarität bekundet wurde, die ihren vielstimmigen, den Verkehrslärm sowie die berufsverkehrsmäßige Geschäftigkeit des Hamburger Großstadtlebens durchdringenden Ausdruck in zwischenzeitlichen Sprechchören wie "Es lebe die internationale Solidarität!", aber auch "Viva Chávez!" und "Viva Morales!" fand, war keineswegs (allein) dem Zugehörigkeitsgefühl exilierter oder aus Gründen unterschiedlichster Art in Hamburg lebender Menschen aus den lateinamerikanischen Staaten geschuldet.

Angesichts des geringen Interesses, das die Bewohner einer deutschen Millionenmetropole einer politischen Kundgebung entgegenbrachten, die aus aktuellem Anlaß der Solidarität mit Venezuela gewidmet und von ihren Initiatoren unter den Titel "Gegen die Aggression des Imperialismus" gestellt worden war, läßt sich mit der gebotenen Nüchternheit konstatieren, daß nicht eben viele Menschen in der Hansestadt ein politisches Bewußtsein ihr eigen nennen, dessen Basis in der festen Überzeugung zu begründen ist, daß Konflikte, politische Auseinandersetzungen und Kriege - in welchen Teilen der Welt auch immer - nicht Gegenstand geneigter Betrachtung und humanitären Erschauerns sein können, sondern in direktester und unmittelbarster Weise mit den Widersprüchen des eigenen Lebens und Überlebens in Verbindung stehen. An besagter Kundgebung nahmen, gutwillig geschätzt, kaum mehr als 50 Menschen teil, von denen ein Großteil, wie die anwesenden Schattenblick-Redakteure in einer ganzen Reihe vor Ort geführter Gespräche in Erfahrung bringen konnten, selbst aus lateinamerikanischen Staaten stammten.

So war unter den interessierten Kundgebungsteilnehmern, den Initiatoren des Kollektivs "Solidarität mit der Bolivarianischen Revolution", des "Consejo Pro Bolivia HH" und der "Kolumbien-Hilfe Hamburg" sowie den Vertretern der zahlreichen, die Aktion unterstützenden Hamburger Gruppen niemand anzutreffen, der nicht klar Stellung bezogen hätte gegen den Venezuela sowie womöglich auch den übrigen fortschrittlichen Staaten Lateinamerikas durch den US-Verbündeten Kolumbien drohenden Krieg und der eigens gekommen war, um dieser Solidarität sicht- und hörbar Ausdruck zu verleihen. In einer vorab in den einschlägigen Medien der alternativen Presse veröffentlichten Erklärung, die während der Kundgebung zudem als Flugblatt verteilt worden war, hatten die veranstaltenden Gruppen die von ihnen damit verfolgte Absicht auf den Punkt gebracht. "Wir haben uns zusammengetan", so hieß es dort, "um die Bolivarianische Revolution und den Präsidenten Hugo Chávez gegen die Regierung Uribe und den nordamerikanischen Imperialismus zu unterstützen."

Daß es am Kundgebungsort nicht zu einem Menschenauflauf kam, der sich infolge seiner Massierung zu einem Verkehrshindernis oder geschäftsstörenden Großereignis hätte auswachsen können, ist keineswegs den Initiatoren und Aktivisten/Aktivistinnen anzulasten, die wie Medienschaffende fernab der staatsräsonkonformen Konzernpresse generell vor dem Problem standen, Interesse für Fragen, politische Entwicklungen und Zusammenhänge bis hin zur Gefahr eines drohenden Krieges bzw. einer militärischen Intervention in Venezuela wecken zu wollen bei Menschen, die dieses Interesse aus den vielfältigsten Gründen gar nicht aufbringen. Unter Gleichgesinnten einen Konsens darüber herzustellen, wie der vom venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez am 22. Juli gefällte Beschluß, die diplomatischen Beziehungen zum Nachbarland Kolumbien abzubrechen, zu bewerten sei und wie brisant und bedrohlich die jüngste und in ihren möglichen und voraussehbaren Konsequenzen noch längst nicht abgeschlossene Krise anmutet, kann somit eigentlich kaum der primäre Zweck einer solchen Kundgebung sein.

Zwei Hamburger Mitveranstalter der Venezuela-Kundgebung

Hamburger Mitveranstalter der Venezuela-Kundgebung

Das Anliegen, angesichts einer allem Anschein nach von Kolumbien im Zusammenspiel mit den USA, aber auch den EU-Staaten von langer Hand betriebenen Eskalationsstrategie, spätere Militärintervention nicht ausgeschlossen, einem nur mäßig, wenn überhaupt, interessierten Publikum vermitteln und nahebringen zu wollen, wie prekär die Lage ist und wie eng die Interessenverflechtungen zu den westlichen Staaten, selbstverständlich inklusive der Bundesrepublik Deutschland, tatsächlich sind, stellt eine in diesem Rahmen kaum einlösbare Aufgabe dar. Die angebotenen und per Flugblatt wie auch in den Redebeiträgen präsentierten Informationen können - beim besten Willen aller Beteiligten - kaum ausreichend sein, um angesichts einer Totalität medialer Beeinflussung, Des- und Fehlinformation durch die buchstäblich vorherrschenden Presseorgane der Entwicklung eines eigenständigen Urteils, das diesem Anspruch auch gerecht zu werden vermag, eine echte Chance einzuräumen.

Für vorbeieilende Menschen, die, aufmerksam und neugierig geworden durch die aufgestellten Plakate und Transparente, die zwischenzeitlichen Musikeinlagen und dargebrachten Redebeiträge, werden sich, so sie noch nie etwas über das heutige Venezuela, die Bolivarianische Revolution und die kontinentweiten Emanzipationsbestrebungen Lateinamerikas vom fortwährenden Joch der Kolonialisierung gehört haben, eher noch mehr Fragen aufwerfen, als durch eine Kundgebung beantwortet werden könnten. "Wir protestieren gegen die Lügen, die der kolumbianische Botschafter vor der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) über die angebliche Präsenz der kolumbianischen Guerilla in Venezuela verbreitete", hieß es beispielsweise in besagtem Flugblatt. Eingeweihte wissen selbstverständlich, von welchen Lügen hier die Rede ist und wie problematisch, um es vorsichtig auszudrücken, die von kolumbianischer Seite aus gegen Venezuela in Stellung gebrachten vermeintlichen Beweise sind. Doch Uneingeweihte?

Angesichts dieser Umstände ist es kein eben leicht zu bewältigendes Unterfangen, zu vermitteln und plausibel zu machen, aus welchen Beweggründen und aufgrund welcher Hintergründe und Zusammenhänge sich die Kundgebungsorganisatoren und mit ihnen das Gros der Teilnehmer "gegen die nordamerikanischen Militärbasen in Kolumbien, gegen den Militärputsch, der die demokratisch gewählte Regierung von Honduras stürzte und die Verletzung der Souveränität Ecuadors durch die kolumbianische Armee" (Flugblatt) wehren. Für Zuhörende, die, neugierig geworden, einen kleinen Moment verweilen und ihre Aufmerksamkeit dem bunten Treiben widmen, ist dies in so kurzen Worten kaum nachzuvollziehen, wiewohl jedes dieser dürren Stichworte eine eigene, lange Geschichte denen zu erzählen vermag, die ihre Augen und Ohren, ihren Verstand und ihr Empfinden in diesem Sinne längst geöffnet haben. In Rufe wie "Viva Chávez!", "Viva Morales!" wird niemand einstimmen wollen, der mit diesen Namen nichts anzufangen weiß.

Doch spricht all dies gegen öffentliche Veranstaltungen dieser Art? Keineswegs. Es mag sein, daß aus Sicht des hier angesprochenen Imperiums eine solche Kundgebung nicht mehr als ein Fingerschnippen im Wind darstellt. Miguel Gomez, einer ihrer Hauptakteure und der erste Redner, nahm nicht nur zur aktuellen Entwicklung Stellung, die er als den "Versuch eines Krieges gegen Venezuela" bezeichnete, hinter dem die Regierungen der USA und Israels stünden, sondern stellte der Realität einer drohenden Militärintervention durch die herrschenden Eliten beileibe nicht nur Kolumbiens und der USA, sondern auch weiterer westlicher Staaten, die Vision weltweit vernetzter und zueinander solidarisch agierender Menschen entgegen. Diese Idee wurde von vielen Anwesenden geteilt und aufgegriffen. So war in Gesprächen mit interessierten Kundgebungsteilnehmern immer wieder zu vernehmen, daß es nur diese eine Erde gäbe, für die alle Menschen verantwortlich seien und daß kein Mensch frei sein könne, solange ein anderer noch in Ketten läge.

Kleiner Junge auf den Schultern seines Vaters hängt Chávez-Bild auf

Gemeinsam schaffen wir es

Im weiteren Verlauf der Kundgebung wurden, stets unter der gemeinsamen Achse des Protestes gegen die Vorherrschaft von Medien, die mit gezielter Absicht Menschenrechtsverletzungen anprangern, wenn nach Ansicht der von ihnen repräsentierten Interessengruppen mißliebige Regierungen und Bewegungen diskreditiert werden sollen, und geflissentlich schweigen, wenn solche Verbrechen wie in Kolumbien ihrer Meinung nach die "Richtigen" treffen, weitere Konflikte und Brandherde angesprochen und thematisiert, die einen Bezug zu Lateinamerika aufweisen. Gleichwohl stand die aktuelle Krise zwischen Kolumbien und Venezuela an vorderster Stelle, haben diese beiden politisch so ungleichen Staaten bzw. Regierungen von Völkern, die sich als Bruder- bzw. Schwestervölker empfinden, doch eine lange und kontroverse Geschichte, die seit dem Amtsantritt des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez ein extrem hohes Konfliktpotential in sich trägt.

Dies nicht etwa weil, wie die Regierung des scheidenden kolumbianischen Präsidenten Alvaro Uribe glauben machen will, Venezuela linksgerichteten Guerilleros im Grenzgebiet Unterschlupf gewähren würde, sondern weil die innenpolitischen Spannungen in dem von einem bereits seit über fünf Jahrzehnten andauernden Bürgerkrieg gezeichneten Nachbarland schon deshalb nicht nachlassen können, weil sich die im Widerstand zu der herrschenden Elite Kolumbiens stehende Bevölkerung - mit dem gelebten Beispiel einer sozialistischen Entwicklung vor Augen - erst recht nicht mit einem von paramilitärischer Gewalt, offener Korruption und Wahlbestechung sowie von Todesschwadronen verübten Morden an Gewerkschaftern und Oppositionellen gekennzeichneten politischen System abfinden wird.

Nahtlos schließt sich daher an die auf der Hamburger Kundgebung bekundete "Solidarität mit Venezuela" und den Protest gegen die drohende Aggression auch die Forderung nach einem auf dem Wege politischer Verhandlungen gelösten Konflikt in Kolumbien an. So sind Venezolaner, Kolumbianer und Angehörige weiterer lateinamerikanischer Staaten in der gemeinsamen Sorge vereint, daß die von einflußreicher ausländischer Seite aus massiv forcierte Eskalation bis über die Schwelle eines Krieges zwischen ihren Ländern und Völkern getrieben werden könnte. "Völker wie Venezuela oder Kolumbien, sie sind wie meine Brüder oder meine Schwestern", so die Worte eines deutsch-chilenischen Kundgebungsteilnehmers.

Nun wäre Venezuela kaum in der Position, als erster der fortschrittlichen Staaten Lateinamerikas ins Zielfernrohr kriegerischer Absichten seitens einer von den USA militärisch und finanziell, aber auch den Europäern und ihren umtriebigen politischen Stiftungen, um nur die den Militärputsch in Honduras begleitende Friedrich-Naumann-Stiftung zu nennen, unterstützten Kamarilla zu geraten, wäre Caracas nicht zugleich auch Antriebsmotor und eigenes Beispiel einer echten Demokratisierung wie auch sozialistischen Entwicklung. Sinnfälligerweise, und dafür hat die Kundgebung in Hamburg-Ottensen, mag sie auch noch so klein und überschaubar gewesen sein, ihrerseits ein Beispiel geliefert, fällt die praktizierte Solidarität, die Venezuela gegenüber seinen (kooperationswilligen) Nachbarstaaten, aber auch in der gesamten Region an den Tag legt, in nicht minder solidarischer Weise auf Caracas und die bolivarianische Bewegung zurück.

Aktivistin macht auf die Lage der hungerstreikenden Mapuches aufmerksam

Aktivistin macht auf Lage der hungerstreikenden Mapuches aufmerksam

Die Kundgebung, unter das Motto "Solidarität mit Venezuela" gestellt, hätte nie und nimmer getrennt gesehen und verstanden werden können von einer Solidarität mit den um ihre Befreiung ringenden Völkern Lateinamerikas sowie der Karibik, um von den übrigen Kontinenten und Konfliktlinien, beispielsweise auch der zwischen Israel und den unter Besatzung lebenden Palästinensern, die in nicht wenigen Redebeiträgen und persönlichen Stellungnahmen Erwähnung fanden, ganz zu schweigen. Der in den Medien vollkommen ignorierte, seit nun bereits 23 Tagen von 53 Mapuche-Indianern durchgeführte Hungerstreik in Chile wurde ebenso thematisiert wie die Lage weiterer politischer Gefangener in vielen scheinbar demokratischen Staaten, und so gehörte selbstverständlich auch ein Appell für Gerardo Hernández, einen in den USA inhaftierten kubanischen politischen Gefangenen, der bis dato schwer erkrankt in Isolationshaft gehalten wurde, auf diese Veranstaltung.

Ganz im Zeichen internationaler Solidarität stand deshalb die Verlesung einer Deklaration der Nationalversammlung Kubas, die zu weltweiter Unterstützung für Hernández aufgerufen hat. Dieser gehört zu den international als "Cuban Five" bekannten fünf Kubanern, die seit September 1998 in US-amerikanischen Gefängnissen inhaftiert sind. Sie hatten rechtsextreme Organisationen in Miami unterwandert, um Anschläge in ihrem Heimatland zu verhindern. Internationale Organisationen wie Amnesty International oder das UN-Komitee gegen willkürliche Verhaftungen werfen den US-Behörden im Fall der fünf Kubaner Menschenrechtsverletzungen und Rechtsbeugung vor. In vielen Ländern der Welt setzen sich Solidaritätskomitees für ihre Freilassung ein. Da diese Deklaration beispielhaft für die internationale Solidarität steht, so wie sie von vielen Menschen auf der Hamburger Kundgebung verstanden wird, dokumentieren wir sie an dieser Stelle auszugsweise in einer Übersetzung der SB-Redaktion:

Deklaration

Seit Mittwoch, den 21. Juli befindet sich Gerardo Hernández Nordelo wieder im "Loch"; diesmal unter so harschen Bedingungen, daß seine Gesundheit und physische Integrität ernsthaft gefährdet sind.

Er ist eingeschlossen in einer äußerst kleinen Strafzelle ohne Ventilation, die er mit einem anderen Gefangenen teilt, wobei er Temperaturen von mehr als 40°C ertragen muß und keinen Kontakt zur Außenwelt hat.

An diesem Vorgehen gegen unseren Genossen nahmen Vertreter des FBI teil, die keinen Zweifel daran ließen, daß Gerardo auf Entscheidung dieser Behörde dieser Strafmaßnahme unterworfen ist.

Während des langen Prozesses gegen die fünf Kubaner haben die US-Bundesbehörden ähnliche Methoden angewendet, um deren Verteidigung zu erschweren und die Justiz zu behindern. Jedesmal, wenn ihre Berufung unmittelbar bevorstand, wurden unsere Genossen im "Loch" isoliert, um es ihnen unmöglich zu machen, mit ihren Anwälten zu kommunizieren. Geschichte wiederholt sich nun, da Gerardo eine Anhörung nach dem Habeas corpus act beantragt hat, die letzte ihm verbliebene Rechtsmöglichkeit im US-Justizsystem, das ihn ungerechtfertigt verurteilt und das barbarische Strafmaß von zweimal lebenslänglich plus 15 Jahre gegen ihn verhängt hat. Während der gesamten zwölf Jahre seit seiner Festnahme haben es die US-Behörden seiner Frau Adriana Perez Oconor nicht gestattet, ihn zu besuchen.
(...)

Wie das US-amerikanische National Committee to Free the Five unter Berufung auf Gerardo Hernández' Rechtsanwalt Leonard Weinglass berichtet hat, ist der Kubaner nun aus dem berüchtigten "Loch" zurück in den normalen Haftbereich verlegt worden. Der Jurist hatte zuvor in einem fünfseitigen Schreiben gegen die Isolationshaft protestiert und den Gefängnisbehörden nachgewiesen, daß sie ihre eigenen Regeln verletzt haben. Das US-Komitee sprach von einem Erfolg der Anwälte und der nationalen wie internationalen Solidaritätsbewegung mit den Cuban Five und dankte allen, die so schnell auf diese Notfallsituation reagiert haben. Nun müsse es darum gehen, den Kampf für die Freilassung aller fünf Gefangenen zu verstärken.

Transparent - Nein zum imperialistischen Krieg in Lateinamerika!

Absage an die Kriegstreiber

Transparent - Gegen Freihandelsabkommen - Wie viele Tote kostet das Recht auf Land?

Freihandel auf den Begriff gebracht

Um interessierten Lesern einen tieferen Einblick in die von vielen Aktivisten wie Kundgebungsteilnehmern zum Ausdruck gebrachten Auffassungen, Überlegungen, Anregungen, Fragen und Stellungnahmen zu vermitteln, hat sich die SB-Redaktion veranlaßt gesehen, diesen Bericht mit einem aus den von ihren Redakteuren geführten Interviews und Gesprächen erstellten Stimmungsbild zu beschließen.

Vor der Präsentation der verschiedenen Interviews und spontanen Kurzgespräche eine wichtige Anmerkung der Redaktion: Zur authentischen Wiedergabe sämtlicher Interviews und wörtlicher Stimmungsreflexionen in dieser Reportage mit verschiedenen Beteiligten und Nicht-Beteiligten sowie zur deutlichen Spiegelung einzelner Meinungen werden wir diese verbalen Begegnungen mit ausdrücklicher Genehmigung der Betroffenen unverändert, d.h. unverfälscht, veröffentlichen.

Einige, nicht selten sehr zugespitzte, Äußerungen bei diesen Spontaninterviews veranlassen uns von der Redaktion, an dieser Stelle deutlich zu unterstreichen, daß sie sich mit der Auffassung der Redakteure und ihren Möglichkeiten, sich zu formulieren, nicht decken müssen.

Da wir der spanischen Sprache nicht mächtig sind, baten wir Blanca, die aus Kolumbien stammt und zu den Organisatorinnen der Veranstaltung gehörte, uns einigen Teilnehmern an der Kundgebung vorzustellen. Unserem Wunsch, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, entsprach sie mit so großem Engagement, daß sich kurze Stellungnahmen oder etwas längere Interviews fast nahtlos aneinanderreihten, wobei sie uns nicht nur Türen öffnete, sondern in Fällen wie dem folgendem auch für uns übersetzte.

Schattenblick: Können Sie Ricardo bitten, sich vorzustellen und zu sagen, welche Organisation er vertritt?

Ricardo: Ich bin Ricardo und repräsentiere eine Bauernorganisation in Tenguagan in Kolumbien, wo die Friedensverhandlungen stattgefunden haben.

SB: Bitte beschreiben Sie doch näher, was Sie in Kolumbien machen und welche Unterstützungsarbeit Sie hier leisten.

R: Ich klage die aktuelle Kriegspolitik und die imperialistische Politik in Kolumbien an - den Krieg, der gegen das Volk gerichtet ist.

SB: In welchem Zusammenhang steht dies zum aktuellen Anlaß, der uns heute hier zusammengeführt hat, nämlich die Situation Venezuelas?

R: Kolumbien ist heute mit seinen sieben US-amerikanischen Militärstützpunkten eine große Gefahr für ganz Lateinamerika.

Ricardo und Blanca

Ricardo und Blanca

Nachdem wir Ricardo gedankt hatten, bot es sich an, gleich einige Fragen an Blanca selbst zu richten.

Schattenblick: Können Sie Ihre Organisation vorstellen? Welche Gruppe vertreten Sie?

Blanca: Wir haben uns hier mit ein paar Leuten zusammengetan, um gemeinsam etwas gegen den Konflikt zwischen Kolumbien und Venezuela zu unternehmen. Unsere kleine Gruppe, die sich auf Grund der aktuellen Situation gebildet hat, nennt sich "Solidarität mit der Bolivarianischen Revolution". Es handelt sich um einen Zusammenschluß mehrerer Gruppen, die hier in Hamburg schon länger aktiv sind.

SB: Können Sie etwas mehr zur Situation in Venezuela und Kolumbien erzählen?

B: Präsident Uribe scheidet am 7. August aus dem Amt und sein ehemaliger Verteidigungsminister Santos wird dann der neue Präsident Kolumbiens. Der noch amtierende Präsident Uribe wurde von den Amerikanern unter Druck gesetzt, ein Chaos zu hinterlassen. Deshalb hat er bei der Organisation der amerikanischen Staaten dieses Video vorgestellt, das angeblich die Präsenz der kolumbianischen Guerilla in Venezuela belegt. Das venezolanische Sicherheitsministerium weist diese Vorwürfe zurück und unterstreicht auf Grund eigener Untersuchungen, daß es sich um eine Lüge handelt. Das kennen wir ja auch aus dem Irak, wo behauptet wurde, Saddam Hussein verfüge über chemische Waffen, was nicht der Fall war.

SB: Nun waren ja die angeblichen Beweise recht veraltet. Wissen Sie, ob die kolumbianische Regierung an irgendeiner Stelle aktuellere Fotos oder Beweise vorgelegt hat?

B: Nein, das war nicht der Fall. Die kolumbianische Regierung hat auch behauptet, daß die Opposition Verbindungen zur Guerilla unterhalte, was ebenfalls nicht stimmt und wofür es keinerlei Beweise gibt. Der noch amtierende Präsident Uribe will einen Konflikt heraufbeschwören und hinterlassen. Da er nicht für eine dritte Amtszeit kandidieren durfte, kommt nun Santos zum Zuge. Santos wurde nach Washington beordert und hat dort erklärt, wenn er Präsident wird, wird er das mit Chávez, mit Morales und mit der Guerilla sofort beenden.

SB: Santos hat ja behauptet, er möchte die Beziehungen zu Venezuela normalisieren. Was halten Sie davon?

B: Das ist alles nur eine Farce, eine Lüge. Santos hat ja damals den Auftrag gegeben, in Ecuador zu bombardieren. Santos ist im Grunde noch schlimmer als Uribe. Er will angeblich gute Beziehungen zu Venezuela haben, aber er hat dieses Abkommen unterschrieben, daß sieben amerikanische Militärstützpunkte in Kolumbien errichtet werden. Was ist das für eine gute Beziehung, die er da aufbauen will? Das ist doch alles Lüge! Das sagt er für die europäische Presse, für die Menschenrechtsorganisationen, damit alle ganz ruhig sind, damit die da in Ruhe weiterhin morden und Massaker verüben können.

Blanca blickt ernst und konzentriert

Blanca ernst und konzentriert

SB: Wo Sie die europäische Presse ansprechen - der Zusammenhang zu den USA ist ja bekannt - wie schätzen Sie die Einflußnahme der europäischen Staaten auf den Konflikt in Lateinamerika ein?

B: Die europäischen Staaten, Merkel und all die anderen, haben Verträge abgeschlossen mit afrikanischem Palmöl und Sojaanbau, damit die Leute hier öko und grün autofahren können. So schätze ich das ein, daß die nichts anderes interessiert. Die interessieren die Menschen nicht, die gehen über Leichen. In Kolumbien sind fünf Millionen Menschen vertrieben worden wegen Soja, wegen Palmöl, wegen Ölbohrungen. Sie vertreiben die Leute und führen die Megaprojekte durch. Dort werden dann afrikanische Palmen angebaut oder es wird nach Öl gebohrt oder es werden Metalle entdeckt, die man für Handys benötigt.

Habt ihr gehört, was in Palästina passiert ist? Da wurde doch Uribe in die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen berufen. Könnt ihr euch das vorstellen? Das sind alles nur Institutionen, um die Menschen zu beruhigen. Aber den Menschen, der nicht lesen und schreiben kann, der ein Arbeiterkind ist wie ich, uns tötet man einfach.

SB: Und wie sind Sie nach Deutschland gekommen, wenn ich fragen darf?

B: Wir mußten damals fliehen. Ja, vor vierzig Jahren. Ich bin seit vierzig Jahren hier.

Auf unsere Bitte, noch mehr von ihrer persönlichen Lebensgeschichte zu erzählen, lud uns Blanca zu einer Veranstaltung am 20. August in Hamburg ein. Unter dem Motto "Zurück zu meinen Wurzeln" wird sie von einer Reise berichten, die sie erstmals seit 40 Jahren wieder nach Kolumbien geführt hat, das sie einst als 12jährige fluchtartig verlassen mußte.

Transparent - Wir verurteilen Uribes Angriff gegen Venezuela!

Uribes Abschiedsgeschenk

Transparent - US-Militärbasen raus aus Kolumbien! Nein zum Imperialismus!

Brückenkopf der Hegemonialmacht in Südamerika

Wir dankten Blanca für dieses Gespräch, dem sich im Laufe der Kundgebung eine ganze Reihe weiterer aufschlußreicher Unterhaltungen anschließen sollten, die wir nicht zuletzt auf Grund ihrer tatkräftigen Unterstützung führen konnten. Dazu gehörte auch ein Interview mit Miguel Gomez von der Bremer "Initiative für die Freiheit der Völker Lateinamerikas" (ILPAL).

Schattenblick: Auf welche Weise unterstützen Sie hier in Deutschland mit Ihrer politischen Arbeit die lateinamerikanische Bewegung?

Miguel Gomez: Ich komme aus Venezuela und wohne in Bremen. Dort bin ich in der ILPAL aktiv, einer Initiative für die Freiheit der amerikanischen und karibischen Völker.

Miguel Gomez mit Übersetzerin Joanna

Miguel Gomez mit Übersetzerin Joanna

SB: Wie schätzen Sie die Situation in Venezuela und Kolumbien in dem aktuellen Konflikt ein?

MG: Hinter diesem Versuch eines Krieges gegen Venezuela stehen die Regierungen der USA und Israels. Viele wissen, daß die mächtigen Länder wie zum Beispiel die USA und England, sämtliche Alliierten, also die Verbündeten der USA und auch Israels, versuchen, sich der Reichtümer der Welt zu bemächtigen. Es ist traurig, daß sich Deutschland an dem Krieg gegen Afghanistan beteiligt. Die reichen Länder produzieren die größte Menge an Waffen, und sie benötigen Kriege auch deshalb, um diese Waffen verkaufen zu können. Das hat sich eigentlich immer wiederholt, daß die mächtigen Länder in Waffen investieren und künstlich Kriege produzieren, um diese Waffen verkaufen zu können und Profit zu machen.

Kürzlich ist der Präsident Brasiliens, Lula, mit dem türkischen Präsidenten zusammengetroffen. Die beiden haben gemeinsam verhindern wollen, daß die USA den Iran angreifen. Trotzdem wurden von den USA Kriegsschiffe in den Persischen Golf gesandt. Auch bei diesem Kriegsvorhaben geht es wieder um das Ziel, sich des Erdöls im Persischen Golf zu bemächtigen.

SB: Es bestehen politische Verbindungen zwischen dem Iran und Venezuela. Manche Menschen vertreten die Auffassung, daß die Kriegsgefahr gegen den Iran auch die Kriegsgefahr gegen Venezuela steigern würde, weil es da einen Zusammenhang gäbe. Wie sehen Sie das?

MG: Es geht eigentlich immer um das gleiche, um den Profit, der halt irgendwie durch Kriege erreicht werden soll. So ähnlich ist das auch mit Korea gewesen: Es wird ein künstlicher Krieg in Korea produziert, obwohl die Koreaner eigentlich gar kein Interesse daran haben. Die Verbindung, der Zusammenhang ist auf jeden Fall Erdöl. Erdöl, und vielleicht auch der Versuch zu spalten oder eine Vereinigung, die die betroffenen Länder stärken würde, zu stören.

Engagierte Worte des venezolanischen Aktivisten

Engagierte Worte des venezolanischen Aktivisten

SB: Welche Rolle spielt Kolumbien bei der aktuellen Gefahr für Venezuela?

MG: Zur Zeit der Bolivarianischen Revolution, ungefähr im 19. Jahrhundert, als die Befreiungsbewegung von Simón Bolívar begonnen hatte, haben die reichen spanischen Eroberer oder deren Nachkommen in Kolumbien, aber auch in anderen lateinamerikanischen Ländern [1] Oligarchien gebildet. Seit dieser Zeit sind sie geblieben, sie haben sich bis heute gehalten. Was jetzt in Kolumbien passiert, hängt mit den Oligarchien zusammen. Die USA benutzen den Konflikt zwischen ihnen und der kolumbianischen und lateinamerikanischen Bevölkerung. Der aktuelle kolumbianische Präsident, Uribe, ist einer der Vertreter dieser Oligarchie. Er möchte so eigentlich den ganzen Reichtum für seine eigene herrschende Klasse haben. Das ist der Grund, warum Kolumbien bzw. die kolumbianische Regierung mit den USA gegen Venezuela zusammenarbeitet.

SB: Versprechen Sie sich irgendetwas von dem bevorstehenden Wechsel im Amt des Präsidenten - ab Samstag ist es der frühere Verteidigungsminister Juan Manuel Santos? Wie schätzen Sie das ein?

MG: So wie sich das anhört, verspreche ich mir wenig davon. Santos hat schon öffentlich gemacht, daß er mit den Plänen weitermachen und die gleiche Politik verfolgen wird. Und das ist ein bißchen traurig, weil in Südamerika gerade eine neue Bewegung entstanden ist, bei der verschiedene Länder versuchen zusammenzuarbeiten, zum Beispiel auch Bolivien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien. Die haben eigentlich gerade versucht, so ein Kollektiv zu erschaffen oder sind dabei, es zu tun. Doch es gibt drei Länder, die sich da ein bißchen raushalten. Das sind Mexiko, Peru und Kolumbien. Das sind genau die drei Länder, die auch mit den USA zusammenarbeiten.

SB: Da könnte man fast von einem Stellvertreterkrieg sprechen, sollte es denn dazu kommen. Kolumbien würde sozusagen im Auftrag der USA oder auch der übrigen westlichen Staaten diese Rolle einnehmen, ohne daß diese selber in Erscheinung treten.

MG: Das funktioniert schon immer so. Manipulationen im Namen der Demokratie, der Freiheit. Aber im Grunde genommen sind das völlig ignorante Regierungen, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen.

SB: Ignorant ist auch ein Stichwort für die Menschenrechtsfrage. Nun sind gerade in Kolumbien Massengräber entdeckt worden. Es gab bereits Untersuchungen dazu, gegen die sich Präsident Uribe sehr stark ausgesprochen und die er als "terroristisch" angefeindet hat. Diese Untersuchungen wurden von der EU mitunterstützt, doch eine Reaktion ist von dieser Seite bislang ausgeblieben. Wissen Sie etwas darüber?

MG: Es gibt da eine wichtige Sache. Die EU hat viele Verbindungen zu und gemeinsame Interessen mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Deswegen spielt die EU auch keine Hauptrolle in diesem Konflikt. Sie hat da nicht so viel zu sagen. Die Europäer würden eigentlich nie etwas gegen den Willen der USA sagen, weil sie ein ähnliches Interesse haben bzw. mit diesen verbunden sind. Der Krieg gegen den Irak war ein Beispiel dafür. Und so ähnlich ist das auch mit dem Krieg gegen Afghanistan. Die USA führen den Krieg und die EU macht mit und schickt Truppen dahin.

SB: Gibt es zum Abschluß noch etwas, was Sie den Menschen, die hier in Deutschland an Venezuela und Kolumbien und der Entwicklung in Lateinamerika interessiert sind, sagen wollen?

MG: Für mich wäre es sehr wichtig, daß die nicht kontrollierten Medien, die keine manipulierten Informationen weitergeben, sich vernetzen, zum Beispiel jetzt euer Medium mit den lateinamerikanischen Befreiungsmedien, zum Beispiel ILPAL. Denn ich habe die Erfahrung gemacht, daß Informationen in Deutschland, aber auch in Spanien und Italien, sehr manipuliert werden. Die Regierungen aus einigen lateinamerikanischen Ländern, in denen sich etwas bewegt, so zum Beispiel die von Hugo Chávez [2], von Lula und von Evo Morales, arbeiten mit der Bevölkerung zusammen. Sie haben es nicht nötig, die Menschen anzulügen.

Und zum Schluß möchte ich sagen: Wir leben alle auf dem gleichen Planeten, und der Planet ist unser gemeinsames Haus. Deswegen betrifft ein Problem, das die einen haben, auch die anderen und ist indirekt auch ein Problem jener, die nicht direkt betroffen sind. Und so, wie die EU sagt, untereinander gibt es keine Grenzen, sollte es auf der ganzen Welt keine Grenzen geben.

SB: Wir bedanken uns für dieses Gespräch.

Miguel Gomez im Gespräch mit SB-Redakteurin

Miguel Gomez im Gespräch mit SB-Redakteurin

Die Auffassung, daß die Probleme eines Landes nicht von jenen des gesamten regionalen Umfelds zu trennen seien, unterstrich auch der Haitianer Yves D., mit dem wir über die aktuelle Lage in seiner Heimat sprachen.

Schattenblick: Könnten Sie uns sagen, wie sie nach Deutschland gekommen sind?

Yves D.: Ich lebe in Haiti und komme alle drei Monate nach Deutschland, da meine Familie in Hamburg wohnt.

SB: Und warum nehmen Sie an der heutigen Veranstaltung teil?

YD: Weil ich als Haitianer ein Lateinamerikaner bin. Was in Lateinamerika passiert, betrifft mich auch, und die Probleme Haitis sind auch Teil der Probleme Lateinamerikas. Das heißt, zuerst war es der Kolonialismus, und nach dem Kolonialismus der Neokolonialismus mit allen Problemen, die heute an der Tagesordnung sind.

SB: Wie ist gegenwärtig die Lage in Haiti?

YD: Die Lage in Haiti ist im Moment sehr kritisch, weil die Haitianer sechs Monate nach dem Erdbeben noch auf die Gelder warten, die zum Wiederaufbau versprochen wurden. Bisher sind nur drei Prozent der Gelder, die versprochen wurden, in Haiti angekommen. Deswegen ist es sehr schwierig, Pläne zum Wiederaufbau des Landes nicht nur zu entwickeln, sondern auch umzusetzen.

SB: Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Kommission, in der auch Bill Clinton sitzt? Sind das Menschen, die Haiti wirklich helfen wollen, oder haben sie andere Absichten?

YD: Wenn man den Fall Clintons thematisiert, sollte man sich zuerst daran erinnern, daß Clinton Präsident der USA war, als diese der haitianischen Regierung eine neoliberale Politik aufgezwungen haben, die dazu geführt hat, daß z.B. die Reisproduktion der Bauern in Haiti wegen der Politik vernichtet wurde, die unter Clinton von den USA durchgeführt wurde. Und heutzutage, wenn Clinton Mitglied dieser Kommission ist, muß man auch wissen, daß diese Kommission eigentlich die Führung der Politik im Lande hat. In Haiti sagt man, daß man jetzt unter einem Protektorat steht, und auch die Pläne für den Wiederaufbau des Landes nicht jene sind, die nach dem Willen des haitianischen Volkes ausgearbeitet worden sind, sondern nach dem Willen der USA.

Insofern sind die Haitianer der Meinung, daß es nicht gut aussieht für die Zukunft des Landes, wenn in einer Kommission, die über die Zukunft Haitis entscheiden muß, jemand wie Clinton sitzt, der ein ehemaliger Präsident der USA ist. Es gibt auch andere Mitglieder in dieser Kommission, nicht nur Ausländer, sondern auch Haitianer. Aber wir sind der Meinung, daß die Haitianer in dieser Kommission nicht so viel Gewicht haben wie Clinton, denn man muß wissen, daß Clinton nicht nur Abgesandter des Generalsekretärs der UNO ist, sondern auch Mitglied einer Kommission, die von Obama selbst ins Leben gerufen wurde. Die Haitianer sind daher sehr mißtrauisch, welche Rolle Clinton in dieser Kommission spielt.

SB: Können die Haitianer ihrer eigenen Regierung vertrauen und welche Rolle spielt Präsident Préval in diesem Zusammenhang?

YD: Erstens befindet sich Préval schon am Ende seiner Regierungszeit, weil im November Präsidentschaftswahlen stattfinden. Zweitens - und das hat nicht nur mit der Person Prévals etwas zu tun - herrscht eine spezielle strukturelle Situation im Land. Jeder Präsident, der Haiti unter den heutigen Umständen regiert, hat keine große Bewegungsfreiheit, und das gilt besonders für Préval. Er hat es versäumt, nach dem Erdbeben einen nationalen Konsens zu schaffen. Er hätte z.B. alle politischen Parteien, alle politischen Strömungen zu einer nationalen Versammlung einladen müssen, um nationale Pläne zum Wiederaufbau auszuarbeiten. Das hat er nicht getan. Und er hat das auch nicht zufällig versäumt, denn er ist mit der jetzigen Situation zufrieden, in der das Land in immer größere Abhängigkeit vom Ausland gerät. Deswegen sind wir sehr kritisch gegenüber der Rolle, die Préval als Präsident spielt.

Das Problem wird auch nicht aus der Welt geschaffen sein, wenn ein neuer Präsident gewählt wird, der nicht den Willen des haitianischen Volkes vertritt. Im Hinblick auf die Wahlen im November gibt es schon jetzt viele Aktionen hinter den politischen Kulissen, um einem Mann zur Präsidentschaft zu verhelfen, der in der Lage sein wird, die Interessen des Auslandes besser zu vertreten als die nationalen Interessen des haitianischen Volkes selbst.

SB: Es gibt Stimmen, wonach Aristide im Falle seiner Rückkehr nach Haiti sofort zum Präsidenten gewählt würde, weil er immer noch starken Rückhalt habe. Wie schätzen Sie das ein?

YD: Ich glaube das nicht, weil er im Moment eine Partei in Haiti hat, die in verschiedene Strömungen gespalten ist. Außerdem ist Aristide in den Augen des Volkes nicht mehr der Mann, der in der Lage wäre, die Situation Haitis zum Besseren zu entwickeln. Es gäbe sicherlich noch Anhänger Aristides, aber man kann nicht sagen, daß er über dieselbe Popularität verfügt, die er z.B. 1990 bei seiner ersten Wahl genossen hat.

SB: Was müßte Ihrer Meinung nach geschehen, um den Willen der Haitianer zum Ausdruck zu bringen?

YD: Was meiner Meinung nach geschehen sollte, wäre zuerst eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden. International gesehen war das nach jeder Katastrophe der Schritt, der gemacht worden ist, um alle politischen Kräfte in einem Land zusammenzuführen, damit der Wiederaufbau des Landes nicht mehr als die Sache einer Partei oder eines Clans, sondern als Sache der gesamten Nation betrachtet wird. Das ist in Haiti nicht geschehen, aber es kann noch geschehen, wenn man beispielsweise jemanden wählen würde, der einsähe, daß man langfristig gesehen, wenn man das Land wieder aufbauen will, unbedingt zu einem nationalen Konsens kommen sollte, weil die Aufgaben, die auf der Tagesordnung stehen, so riesig sind, daß keine Partei im Land allein so etwas schaffen kann.

SB: Eine abschließende Frage: Welche Rolle spielen die Hilfsorganisationen in Haiti? Kritiker werfen ihnen ja vor, daß sie mit ihren dicken Geländewagen sehr viel Geld verbrauchen, aber relativ wenig tun. Kann man das so pauschal sagen?

YD: Es gibt zwei Arten von Hilfsorganisationen. Wir bekommen Hilfe von verschiedenen Ländern, darunter auch Kuba und Venezuela, wie auch von den Nichtregierungsorganisationen. Unter den NGOs gibt es traditionelle, aber auch progressive Organisationen. Worüber die Haitianer nachdenken ist der Umstand, daß viele dieser Hilfsorganisationen, die aus den USA, aber auch aus Europa kommen, über viel Geld verfügen, aber eine Politik machen, die mit der Regierung des Landes selbst überhaupt nicht abgesprochen wird. Im Moment gibt es wohl mehr als tausend Nichtregierungsorganisationen, und jede dieser Organisationen hat ihre eigenen Pläne. Es gibt keine Koordinierung der Aktionen dieser Hilfsorganisationen. Deswegen sind wir Haitianer sehr mißtrauisch, was die Aktionen dieser Hilfsorganisationen betrifft. Und solange sich daran nichts ändert und es zu keiner Koordinierung der Politik dieser Hilfsorganisationen kommt, ist nicht daran zu denken, daß diese Organisationen wirklich einen Beitrag nicht nur zum Wiederaufbau des Landes, sondern auch zur Entwicklung des Landes leisten könnten.

SB: Wir bedanken uns für dieses Gespräch.

Gelebte Solidarität aus persönlicher Lebenserfahrung vermittelte uns auch ein deutsch-chilenischer Unterstützer, mit dem wir während der Kundgebung ins Gespräch kamen.

Ein Deutsch-Chilene versteht sich als 'Bürger der Welt'

Ein Deutsch-Chilene versteht sich als "Bürger der Welt"

Schattenblick: Sie sind Chilene. Können Sie sich bitte vorstellen und erzählen, wie Sie nach Deutschland gekommen sind?

Chilene: Mein Vater war ein alter Deutscher aus Hamburg, der nach Kriegsende nach Chile ging. Später sind wir zurückgekommen. Als Achtjähriger kam ich nach Deutschland und kehrte 1990 nach Chile zurück, wo ich zehn Jahre lebte. Ich habe geheiratet, und meine Kinder sind dort geboren, was für mich eine sehr gute Erfahrung war. Was mich betrifft, bin ich immer noch chilenisch und weiß, was der Begriff Solidarität bedeutet. Jetzt lebe ich seit sieben Jahren in Deutschland, nun schon fünf Jahre in Hamburg und besitze einen deutschen Paß.

Wenn ich nach Deutschland fahre, sagen mir die Leute: "Du bist nicht deutsch, du bist aus Chile." Es ist immer dasselbe, denn wenn ich in Chile war, sagten die Leute zu mir: "Nein, tut mir leid, du bist nicht Chilene, du bist Deutscher." Ich bin lieber ein Bürger der Welt, das ist besser. Aber immer für die gleiche Welt, für das Volk und für alle, damit sie das verstehen und schon als Kinder lernen.

SB: Wie schätzen Sie denn die heutige Regierung in Chile ein?

C: Ab dem Jahr 1973 war es eine Diktatur. Heute hat der Staat eine demokratische Maske, aber am Ende ist es immer das gleiche. Ich respektiere die Revolutionen, weil für mich klar ist, daß es immer eine kleine Elitegruppe der Reichen ist, die über die Industrie und die gesamten Ressourcen wie Kupfer verfügt, das wir in die ganze Welt verschenken.

SB: Viele Menschen sind in Sorge, daß sich die Verhältnisse zurückbewegen könnten, seit Präsident Piñera im Amt ist, der als Pinochet-Anhänger gilt.

C: Ja, ja, ja - das ist eine supergute Maske. Demokratie, das ist eine große Lüge, nicht? Alle Leute wissen, daß er in jener Zeit mit der Diktatur zusammen war. Wie kann es geschehen, daß im Süden Chiles, in Temuco, das ist die Grenzstadt, dort fängt das Mapuche-Land an, 53 Politiker seit 123 Tagen gefangengehalten werden? Seit 123 Tagen! Aber wo sind diese Nachrichten? Ich habe sie nie gesehen, doch jene über die politischen Gefangenen in Kuba habe ich überall gesehen in den Massenmedien. Jetzt sind in Chile 53 Mapuches, politische Gefangene, in den Hungerstreik getreten, seit 23 Tagen.

Und wo ist diese Nachricht? Das ist alles manipuliert. Es sind 53 gefangene Mapuches, also indianische politische Gefangene, die seit 23 Tagen im Hungerstreik sind, und trotzdem erfährt man hier nichts in den Medien und im Gegensatz dazu wird die ganze Zeit darüber geredet, daß es in Kuba politische Gefangene gebe. Das ist eindeutig eine ideologische Position der Medien, diese Probleme in Lateinamerika so zu behandeln.

SB: Daß Sie heute hier sind, zeigt ja, daß Sie sich auch für Kolumbien und diesen Konflikt interessieren und dazu Stellung nehmen. Wie sehen Sie den Zusammenhang?

C: Ich kann nicht glauben, was die US-amerikanische Regierung da treibt. Wie ist das möglich? Völker wie Venezuela oder Kolumbien, die wie meine Brüder oder meine Schwestern sind, haben ihren Weg aus der Diktatur gemacht. Was denken diese Leute? Was mischen sich diese Leute ein, wie in Vietnam? Was soll das? Das ist eine sehr gefährliche Situation. Und warum? Weil Venezuela Öl hat! Jeder weiß, was in Afghanistan passiert ist. Afghanistan ist von der deutschen Bundeswehr in einer imperialistischen Aggression angegriffen worden - diese Leute arbeiten für die Wirtschaftsinteressen.

Das ist ein Problem für diese Menschen, sie sind manipulierte Massen. Die Leute möchten den Krieg nicht - no más guerra [keinen Krieg mehr, Anm. d. SB-Redaktion] - aber der Krieg ist immer da, jeden Tag. Viele Raketen, viele Kinder sind gestorben, 30.000, glaube ich. Jedes Jahr sterben neun Millionen Kinder an Hunger. Einerseits wird so viel Geld ausgegeben für die Waffen, um Krieg zu führen, und andererseits gibt es so viele Menschen, die in Höhlen in den Bergen in Armut leben.

Ich habe schon von meinem Großvater, einem alten Deutschen gelernt, daß der ältere seiner Brüder und eine Schwester in der Zeit des Krieges in dieser Stadt an Hunger gestorben sind. Die Leute hier haben vergessen, was in dieser Zeit geschehen ist. Und ich denke, das ist nicht gut.

SB: Es behaupten ja viele Kritiker, Präsident Chávez arbeite heimlich mit der FARC-Guerilla zusammen.

C: Die FARC sind eine revolutionäre Bewegung, die die Armen unterstützt, die arme Landbevölkerung und die unterdrückten Menschen - die Bevölkerung, die zum Teil massakriert wird durch einen terroristischen Staat. Ja, das ist eine Narco-Oligarchie, die in Kolumbien regiert. Die FARC sind keine Terroristen, sie sind eine revolutionäre Bewegung wie Che Guevara oder Simon Bolívar. Das ist die Wahrheit. Die authentischen Terroristen sind die USA und die Leute in Washington oder die deutsche Regierung, das ist meine Meinung!

Ich treffe viele Menschen aus Südamerika, die die Hoffnung haben, daß sich etwas zum Positiven verändern kann. Zum Beispiel ist Blanca, eine der Organisatorinnen der heutigen Veranstaltung, eine, die den Glauben hat, daß sich etwas verändern kann. Und ich finde es gut, die Leute zu unterstützen, die diesen Glauben haben.

SB: Vielen Dank für dieses Gespräch.

Platz der Kundgebung in Hamburg-Ottensen

Kundgebungsort mit Blick auf Transparente

Wo wir der Übersetzung bedurften, stand uns auch Joanna zur Seite, die hochkonzentriert bei der Sache war, um den mitunter widerborstigen Sprachklippen immer wieder ein gemeinsames Verständnis abzuringen. So konnte es nicht ausbleiben, daß wir zuguterletzt natürlich auch von ihr wissen wollten, woraus sich ihr Engagement speist.

Schattenblick: Wir würden gerne einige persönliche Eindrücke von Menschen festhalten, die sich für Venezuela und diesen Konflikt interessieren. Sind Sie selbst Lateinamerikanerin?

Joanna: Nein, ich bin keine Lateinamerikanerin, ich bin eine Weltenbürgerin - so würde ich mich bezeichnen.

SB: Bitte erzählen Sie doch ein bißchen mehr dazu.

J: Also gut. Ich studiere Spanisch, das muß ich vielleicht doch dazu sagen, und ich habe mich früher ziemlich viel mit Mexiko auseinandergesetzt, mit der Politik des Landes und auch mit der Befreiungsbewegung in Mexiko. Venezuela als Land, so wie es sich jetzt mit der Regierung von Präsident Chávez entwickelt, finde ich faszinierend, weil ich den Eindruck habe, daß die Regierung wirklich an der Seite der Menschen steht, die dort leben, und sich von den Mächtigen wie den USA und sämtlichen europäischen Ländern nicht vereinnahmen läßt. Durch meine Auseinandersetzung mit den lateinamerikanischen Ländern ist mir bekannt, daß die US-Regierung sehr viel unternommen hat, um die Länder abhängig zu machen, die Regierungen abhängig zu machen. Und trotzdem erfahre ich auch immer wieder etwas Neues. Zum Beispiel wußte ich vor einigen Jahren noch nicht, daß die Pinochet-Diktatur auch von der US-Regierung und der CIA organisiert und unterstützt wurde. Das hat mich sehr schockiert.

SB: Der Zusammenhang ist ja auch viel enger als man das normalerweise denken würde. Diese Länder scheinen ja weit weg zu sein, und trotzdem sind die Beziehungen und die Einflußnahmen sehr groß. Das gilt auch für die aktuelle Krise, weshalb es wichtig ist, von Deutschland aus aktiv zu werden. So verstehen Sie sicher auch Ihre Arbeit hier?

J: Ja. Und was mir vor allem wichtig ist, Gerechtigkeit, und zwar Gerechtigkeit für alle, nicht nur für uns, die wir hier leben. So, wie das ja auch der eine Kollege vorhin gesagt hat, daß wir eigentlich alle auf dem gleichen Planeten leben und alle miteinander verbunden sind. Es gab da ja auch den wunderbaren Spruch von Audre Lorde: Solange ein schwarzer Mensch oder eine Frau in Ketten liegt, solange sind wir alle nicht frei. Also gehört alles zusammen. Grundsätzlich bin ich der Meinung, daß wir alle die gleichen Rechte haben sollten und alle Menschen glücklich sein sollten auf dieser Erde.

SB-Redakteurin im Gespräch mit Joanna

SB-Redakteurin im Gespräch mit Joanna

In diesem Sinne äußerten sich viele Gesprächsteilnehmer gegenüber dem Schattenblick. Die erhobenen Forderungen und Stellungnahmen deckten sich mit dem schon auf dem Kundgebungsflugblatt aufgeworfenen Appell an "alle politischen und sozialen Organisationen, Menschenrechtsgruppen, Gewerkschaften und Studentenvereinigungen und alle BürgerInnen Europas", die "Entwicklung aufmerksam zu verfolgen und die Souveränität der Völker als ein Menschenrecht zu verteidigen". Auf der Kundgebung in Hamburg-Ottensen waren an diesem sommerlichen Spätnachmittag immer wieder aus den Reihen der Anwesenden auch Stimmen von Unterstützern der sozialistischen Entwicklung Lateinamerikas zu vernehmen, die ihr Engagement dort mit der politischen Realität hier in Verbindung gestellt sehen wollten; sei es, um die von vielen als positives Beispiel nicht ohne Hoffnung für eine etwaige Entwicklung auch hier in Deutschland sowie den anderen EU-Staaten bewertete Bolivarianische Bewegung bekannter zu machen; sei es, um im Zuge dessen das Potential kritischer Zeitgenossen zu stärken, die sich der im allgemeinen recht lautlos voranschreitenden Teilhaberschaft der westlichen Staaten an einer der Linksentwicklung in Lateinamerika entgegengestellten Aggressionsstrategie widersetzen.

Ein solcher Internationalismus war hier wie dort stets ein genuiner und zentraler Bestandteil linker Politik, so daß die Mobilisierung und Präsenz in der Öffentlichkeit im Falle aktueller Konflikte und Bedrohungslagen zu den selbstverständlichen Aktionsformen gehört. Der eklatante Schwund internationalistischen Denkens und Handelns zählt zu den erschreckendsten Symptomen des Niedergangs der deutschen Linken. Diesen Mangel nicht zu beklagen, sondern ihm auch und gerade in Abwesenheit von Politprominenz und Medienpräsenz die Organisierung von der Basis her entgegenzusetzen, war ein erfrischendes Erlebnis praktizierter Solidarität. Die Herkunftsländer Venezuela oder Kolumbien, Chile, Peru oder Haiti traten als Trennungsmerkmale vollständig in den Hintergrund gegenüber den ohne Seitenblicke auf gesellschaftliche Resonanz verfolgten Anliegen von Menschen, die aus der Opposition gegen persönlich erfahrene Ausbeutung und Unterdrückung Kraft schöpfen und Verbindung schaffen.

Mit einfachsten Mitteln - Chávez-Bild auf Pappe tut es auch

Mit einfachsten Mitteln - Solidarität mit Hugo Chávez

Anmerkungen der SB-Redaktion:

[1] Zur Zeit der Befreiungskämpfe unter Bolívar, von 1819 bis 1830, umfaßte Kolumbien, von Historikern zu Unterscheidungszwecken deshalb auch gern "Groß-Kolumbien" genannt, in etwa die Territorien des heutigen Kolumbiens, Venezuelas und Ecuadors. Daß sich die beiden erstgenannten Völker heute als Brüder und Schwestern empfinden, ließe sich somit auch historisch begründen.

[2] Bei den Genannten handelt es sich um die Präsidenten Venezuelas, Brasiliens und Boliviens: Hugo Chávez, Luiz Inácio Lula da Silva und Evo Morales.

11. August 2010