Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

BERICHT/048: Antirep2010 - Gavin Sullivan zum Antiterrorparadigma (SB)


ECCHR-Anwalt warnt vor supranationalen Sicherheitsstrukturen

Vortrag am 10. Oktober 2010 an der Universität Hamburg


Gavin Sullivan arbeitet als Koordinator des Programms Terrorbekämpfung und Menschenrechte beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin. Davor war der gebürtige Australier mehrere Jahre als Rechtsanwalt in Großbritannien für die Kanzleien Leigh Day and Co. in London und Public Interest Lawyers in Birmingham in den Bereichen humanitäres Recht sowie nationale und internationale Antiterrorgesetzgebung tätig. Darüber hinaus hat er öffentliches Recht am Birbeck College, London, gelehrt und anwaltliche Beobachterprojekte bei öffentlichen Demonstrationen in Australien geleitet. Er schreibt gerade an einem Bericht für das ECCHR zum Thema "terror black lists", der noch vor Ende des Jahres erscheinen soll. Auf dem Hamburger Antirepressionskongreß hat Sullivan einen faszinierenden Vortrag mit dem Titel "Der 'War on Terror' und die Versicherheitlichung des Lebensalltages" gehalten.

Gavin Sullivan und Moderator - © 2010 by Schattenblick

Gavin Sullivan (links) und Moderator (rechts)
© 2010 by Schattenblick

Sullivan eröffnete den Vortrag mit einer Thematisierung des Begriffs "Sicherheit" vor dem Hintergrund der weltweit infolge der Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 in den USA enorm angeregten Antiterrorpolitik und deren zahlreicher Maßnahmen, die im nicht geringen Ausmaß zur Entstehung einer "supranationalen Staatsmacht" beitragen, um gleich die Frage in den Raum zu stellen, wie eine "effektive Gegenmacht" auf die Beine gestellt werden könnte.

Er bezeichnete die USA als "Motor des aktuellen, internationalen Sicherheitsparadigmas" und zitierte in diesem Zusammenhang aus deren National Security Strategy (NSS) von 2002: "Je größer die Bedrohung, desto höher ist das Risiko der Untätigkeit - und desto zwingender das Argument, vorbeugend in Aktion zu treten, um uns zu verteidigen, selbst wenn Unsicherheit bezüglich des Zeitpunkts und des Orts des Angriffs des Feinds besteht. ... Unsere erste Priorität ist die Zerschlagung und Zerstörung global agierender Terrororganisationen und der Angriff auf ihre Führung: Kommandostrukturen, Kontrolle und Kommunikation, materielle Unterstützung und Finanzierung. So werden die Planungs- und Operationsfähigkeiten der Terroristen lahmgelegt."

Mit jener These der Notwendigkeit des präventiven, militärischen Handelns, um terroristische Bedrohungen zu beseitigen, hat Washington bekanntlich den Einmarsch in den Irak und den Sturz des "Regimes" Saddam Husseins im Frühjahr 2003 begründet.

Wiewohl es bereits davor Bemühungen in diese Richtung gab, haben die Mitgliedsländer der Europäischen Union die Ereignisse des 11. September 2001 benutzt, um die eigenen nationalen Sicherheits- und Verteidigungstrategien neu auszurichten und sie mit denen der USA in Einklang zu bringen - den "Herausforderungen" des 21. Jahrhunderts wegen, versteht sich. Sullivan zitierte aus dem Weißbuch des Bundesverteidigungsministeriums von 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, in dem es zum Thema der "neuen Bedrohungen" hieß: "Erforderlich ist ein umfassender Ansatz, der nur in vernetzten sicherheitspolitischen Strukturen sowie im Bewußtsein eines umfassenden gesamtstaatlichen und globalen Sicherheitsverständnisses zu entwickeln ist." Auf der EU-Ebene fand eine "ähnliche Reorganisation" statt bzw. beschleunigte sich. In der europäischen Sicherheitstrategie war von "radikal neuen Bedrohungen" die Rede, "welche die traditionellen Konzepte der Selbstverteidigung obsolet" machten; man müßte "bereit zu handeln sein, bevor eine Krise eintrifft"; "Konfliktprävention und Gefahrenabwehr" könnten "nicht früh genug beginnen".

In diesem Zusammenhang verwies Sullivan auf das aus dem Jahr 2004 stammende "Preparatory Action for Security Research Program" der Europäischen Kommission, weswegen man sich, wie er scherzhaft einräumte, nicht schämen müsse, wenn man es nicht kenne; eigentlich sei es nur für Technokraten gedacht. In dem Bericht wurden seitens der EU-Kommission fünf "Prioritätsfelder" bezüglich der Finanzierung von Forschungsprojekten zum Thema "Sicherheit" in den darauffolgenden Jahren identifiziert, um der "neuen Bedrohungen" Herr zu werden, nämlich "Schutz vor Terrorismus und Bekämpfung der organisierten Kriminalität", "Grenzsicherung", "Schutz der kritischen Infrastruktur", "Krisensicherheit" - wie z.B. bei Pandemien - sowie "Integration und Interoperabilität".

Letzteres mag zunächst vage klingen, doch das soll nicht täuschen. Laut Sullivan war gerade die "Interoperabilität" der Kerngedanke derjenigen in den entsprechenden EU-Gremien, die wenige Monate nach den Anschlägen vom Madrid im Frühjahr 2004 die Leitlinien des EU-Forschungsprogramms "Sicherheit" festlegten. Für Sullivan verbirgt sich hinter "Interoperabilität" eine verstärkte Zusammenarbeit bzw. ein Ineinandergreifen von Regierung, Polizei, Einwanderungsbehörde, Militär und Geheimdienst, wobei Kapazitäten und Fähigkeiten der jeweiligen Dienststellen gegenseitig ergänzt wie auch neue Funtionseinheiten gebildet werden. Mit diesem Phänomen geht auch zwangsläufig die Entwicklung einher, daß Verfahrensweisen, die sich beispielsweise bei der Terrorbekämpfung ergeben, schnell auch beim polizeilichen Umgang mit politischen Demonstrationen oder Aktionen oppositioneller Gruppierungen zur Anwendung kommen.

Der Schutz der kritischen Infrastruktur klingt zwar relativ harmlos, da er sich unter anderem auf die Sicherung von Kraftwerken oder auf die behördliche Begleitung von großen Antiglobalisierungsprotesten erstreckt, doch soll er nach dem Willen seiner institutionellen Verfechter viel weiter greifen, als sich der Durchnittsbürger überhaupt vorstellen kann. Zum Beleg jener Behauptung zitierte Sullivan aus einem Papier des US-Heimatschutzministeriums von 2004: "The National Plan for Research and Development in the Support of Critical Infrastructure Protection". Dort wurde "kritische Infrastruktur" als "die unterschiedlichen menschlichen und physischen Komponenten, darunter auch im Netzbereich, die effektiv zusammenarbeiten müssen, um den zuverlässigen Fluß an Waren, Leuten und Informationen aufrechtzuerhalten, die für die Lebensqualität unerläßlich sind", definiert. Daraus ergibt sich für Sullivan, daß das Ziel des Schutzes der "kritischen Infrastruktur" in dem "Schutz des logistischen Lebens des liberalen Kapitalismus", wie wir ihn heute kennen, besteht und zwar vor dem, was die Autoren besagten Berichts des US-Heimatschutzministeriums recht allgemeinen als "arglistiges Verhalten, böswillige Aktivitäten und Insidergefahren, die das Leben der Bevölkerung als Ganzes gefährden", bezeichneten.

Nach Ansicht von Sullivan beschränkt sich die Entwicklung der Staatsmacht in Zeiten des Antiterrorkrieges nicht auf die Terrorbekämpfung, vielmehr wird gerade letztere zum Schlüsselelement eines neuen und umfassenden Sicherheitskonzepts erhoben. Daher stellt der Antiterrorkrieg lediglich einen Aspekt einer größeren, neu konzipierten Sicherheitsarchitektur dar. Jene Architektur ist es, welche die Repression sozialer Bewegungen in Hamburg mit der Bekämpfung der illegalen Migration über das Mittelmeer von Afrika nach Europa mit dem Setzen der Namen von mutmaßlichen Al-Kaida-Mitgliedern auf schwarze Listen der EU und anderswo in der Welt verbindet.

Sullivan betonte ausdrücklich, daß das neue Sicherheitsparadigma, wiewohl es auf frühere Konzepte der Terrorbekämpfung fußt, einen wichtigen qualitativen Unterschied aufweist, und zwar die Idee der Vorbeugung, der Prävention. Demnach muß der Staat, weil die neuen Bedrohungen in ihren eventuellen Auswirkungen nicht vollständig einzuschätzen sind und die dahinter liegenden Personen und Kräfte im Verborgenen agieren, präventive Maßnahmen frühzeitig ergreifen, um das Leben seiner Bürger vor Anschlägen zu schützen, anstatt hinterher die Suche nach den Tätern loszutreten. Mit dem Rückgriff auf die Idee der Prävention hat zum Beispiel Tony Blair die Teilnahme der britischen Streitkräfte an der Irakinvasion der USA zum Zwecke des Sturzes des dortigen Baath-"Regimes" gerechtfertigt und postuliert heute eine vom iranischen Atomenergieprogramm und Osama Bin Ladens Al Kaida gleichermaßen ausgehende, inakzeptable und damit gegebenenfalls unter Anwendung militärischer Gewalt zu beseitigende "Bedrohung" des westlichen "way of life".

Gavin Sullivan in einem nachdenklicken Augenblick - © 2010 by Schattenblick

Gavin Sullivan in einem nachdenklicken Augenblick
© 2010 by Schattenblick

Zur Erläuterung des dem Begriff des westlichen "way of life" zugrundeliegenden neoliberalen Weltbildes zitierte Sullivan die Definition der US-Politikwissenschaftlerin Wendy Brown: "Die Fähigkeit des unternehmerischen Subjektes und des Staates, rational über Mittel und Zwecke zu planen, und die Fähigkeit des Staates, die für die Entfaltung des Marktes erforderlichen Bedingungen im In- und Ausland zu sichern, indem er ihre Hindernisse beseitigt, unabhängig davon, ob es sich dabei um islamischen Fundamentalismus oder exzessive, willkürliche Staatssouveränität in Form einer Person wie Saddam Hussein handelt."

Nach Ansicht Sullivans sprengt die Logik des heutigen, vorbeugenden Sicherheitsparadigmas die Grenzen des Nationalstaats und ist daher von Natur aus supranational. Das soll nicht heißen, daß es zwangsläufig auf eine Weltregierung hinausläuft. Gleichwohl schafft es neue supranationale Instanzen und Autoritäten, deren Einfluß auf der nationalstaatlichen Ebene sowohl politisch als auch rechtlich zu spüren ist. In diesem Zusammenhang lobte Sullivan die Analyse Michael Hardts und Antonio Negris bezüglich der sich neu konstituierenden Machtkonstellationen auf der internationalen Ebene infolge der Globalisierung als anregend und hilfreich.

Verfechter des neuen Sicherheitsparadigmas wie George W. Bushs Minister für Heimatschutz Michael Chertoff streben an, durch die Anwendung modernster bürokratischer und technologischer Mittel, entstehende Bedrohungen und Gefahren rechtzeitig zu erkennen und im Keim zu ersticken. An dieser Stelle führte Sullivan das Fazit der von Bush jun. ins Leben gerufenen, "unabhängigen" 9/11-Kommission an, wonach im Sicherheitsapparat der USA im Vorfeld der Anschläge vom 11. September 2001 genügend Einzelhinweise eingetroffen waren; es hätte lediglich an deren Zusammenfassung und der Erkennung der dahinterliegenden Bedrohung gefehlt. Um eine Wiederholung jener Fehlleistung zu vermeiden, würden mit enormem Aufwand potentielle Sicherheitslücken identifiziert und geschlossen und gleichzeitig die Überwachung, die Auswertung und der Austausch von Daten seitens der verschiedenen Behörden vorangetrieben.

Sullivan machte darauf aufmerksam, daß sich "präventive Sicherheit" nicht nur über die Ausübung exzessiver, abschreckender Staatsgewalt in Form der Einrichtung und des Betriebes von geheimen Vernehmungszentren der CIA im Ausland oder des Sonderinternierungslagers auf dem Gelände des US-Marinestützpunktes Guantánamo Bay auf Kuba, der Praxis der außergewöhnlichen Überstellungen, der Anwendung von Folter, des Rückgriffs auf geheimdienstliche Erkenntnisse, entfaltet, sondern auch in hochregulativen Eingriffen in das Alltagsleben des Durchschittsbürgers ihren Niederschlag findet, wie das Sammeln und Auswerten von Daten über den Geld-, Telefon- und Internetverkehr sowie über die Reisetätigkeit eines jeden einzelnen. Dabei wird nach Anomalien gesucht, wodurch man unter Verdacht, ein potentieller Selbstmordattentäter zu sein, geraten kann, nur weil man eine einfache Karte für eine bestimmte Flugroute mit Bargeld bezahlt hat. Nach Meinung Sullivans hat die Linke die Bedeutung der bürokratisch-technologischen Erneuerungen, die von erheblicher Dauer sein dürften, unterschätzt.

Für den Juristen aus Berlin stellt ein weiterer Aspekt der Vorgehensweise des "präventiven Sicherheitsapparats" einen grundlegenden Bruch mit der bisherigen rechtlichen Tradition dar, da die Verdachtsmomente nicht auf potentieller oder tatsächlicher Schuld, sondern auf Kontakten basieren. Man müsse nicht gegen geltende Gesetze oder Sicherheitsbestimmungen verstoßen, um ins Visier der Polizeibehörden zu geraten, sondern es genügt allein die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, daß man etwas gegen die bestehende neoliberale kapitalistische Ordnung unternehmen könnte, oder die Tatsache, daß man mit jemanden, der dies tut oder tun könnte, in Verbindung gebracht wird.

Daraus folgt für Sullivan der vielleicht wichtigste Aspekt des auf Verdachtsmomenten und Verbindungen basierenden präventiven Sicherheitsparadigmas, nämlich daß die ihm entwachsenen neuen Formen der Staatsgewalt in diametralem Widerspruch zum herkömmlichen westlichen Justizsystem stehen, im Rahmen dessen Verdächtige bis zum gerichtlichen Nachweis des Gegenteils als unschuldig zu gelten haben. Das erklärt, warum in den letzten Jahren westliche Regierungen im Umgang mit "Terrorverdächtigen" ein Bogen um die strafrechtlichen Institutionen gemacht und statt dessen auf administrative, zivilrechtliche Maßnahmen zurückgegriffen haben, die ursprünglich zur Behandlung von illegalen Migranten gedacht waren. In schneller und flexibler Reaktion auf irgendwelche, nicht weiter hinterfragbare Bedrohungen haben Minister Verdächtige ohne Anklageerhebung internieren lassen oder unter Hausarrest gestellt, Migranten, die aufgrund ihres vermeintlich "schlechten Charakters" als potentielle Bedrohung der nationalen Sicherheit eingestuft wurden, in ihre Heimatländer abgeschoben, sowie mutmaßliche Verbindungsleute des "internationalen Terrorismus" auf sogenannte schwarze Listen gesetzt und ihr Vermögen beschlagnahmt beziehungsweise eingefroren.

Die Verdachtsmomente in solchen Fällen basieren nicht auf stichhaltigem und überprüfbarem Beweismaterial der Polizei, sondern lediglich auf Geheimdiensterkenntnissen, die vor Gericht vermutlich keinen Bestand hätten und deren Ursprung beziehungsweise Zustandekommen dubios ist. In einem 2009 veröffentlichten Bericht urteilte die International Commission of Jurists über die moderne staatliche Antiterrorpraxis wie folgt: "Solche Maßnahmen sind qualitativ anders als frühere vorbeugende Maßnahmen wie die Observierung. Sie dienen nicht der Informationsgewinnung zwecks strafrechtlicher Verfolgung, sondern statt dessen belegen sie den Betroffenen mit Sanktionen oder Restriktionen. Folglich tragen sie zur Entstehung eines parallelen Justizsystems bei und unterminieren auf die Weise den Rechtsstaat." Ergänzend fügte Sullivan hinzu, daß das "Parallelsystem der Staatsgewalt" "als primäres Ziel nicht die strafrechtliche Verurteilung von terroristischen Straftätern, sondern permanente Störung und die fortgesetzte Rechtfertigung für extralegale Staatsintervention gegen Verdächtige und Risikogruppen hat".

Gavin Sullivan wringt mit den Händen - © 2010 by Schattenblick

Das Thema wird bearbeitet
© 2010 by Schattenblick

Nach der theoretischen Erörterung des mit dem globalen Antiterrorkrieg einhergehenden Paradigmenwechsels auf regierungsbehördlicher Ebene, wandte sich Sullivan den konkreten Fällen, mit denen er bei seiner Arbeit beim ECCHR befaßt ist, zu, um die Auswirkungen dieser bedrohlichen Entwicklung näher aufzeigen zu können. Als erstes befaßte er sich mit dem Phänomen der "schwarzen Listen" (Im Englischen spricht man auch von "black listing", das heißt Personen "auf eine schwarze Liste zu setzen"). Derzeit vertritt Sullivan vier Männer, deren Namen seit 2004 auf der nach Resolution 1267 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen im Jahr 1999 ins Leben gerufenen Taliban- und Al-Kaida-Liste stehen. Es gibt derzeit zwei schwarze Listen beziehungsweise Sanktionsregime; die nach Resolution 1267 und die nach 1373. Letztere wurde am 28. September 2001 vom UN-Sicherheitsrat verabschiedet und verpflichtet alle Mitgliedsstaaten unter Androhung von Strafmaßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus - unter anderem durch die Einfrierung von Konten und das Beschlagnahmen von Vermögenswerten. Parallel zu den UN-Resolutionen haben die meisten Staaten sowie die EU eigene "schwarze Listen" kreiert, welche die Namen mutmaßlicher Terroristen enthalten.

Für die Betroffenen macht es wenig Unterschied, ob sich ihre Namen auf einer nationalen, europäischen oder internationalen Liste befinden, denn die Folgen sind praktisch die gleichen. Ihre Bankkonten werden gesperrt und die Bewegungsfreiheit und die Reisemöglichkeiten werden stark eingeschränkt, was sich auf ihr Leben und das ihrer Familien "verheerend" auswirkt und was auch nach Meinung Sullivans auch der Zweck der Sanktionen ist. Ein Jahr nach den Anschlägen auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam war die Resolution 1267 vom UN-Sicherheitsrat verabschiedet worden. Darin wurden alle UN-Mitgliedsstaaten aufgefordert, sämtliche Finanzwerte einzufrieren, aus denen direkt oder indirekt die Taliban Nutzen ziehen könnten. Auf dem Weg sollte Druck auf die Taliban-Regierung ausgeübt werden, Osama Bin Laden, den mutmaßlichen Drahtzieher besagter Anschläge, an die USA auszuliefern. Zu diesem Zweck wurde bei den Vereinten Nationen in New York auch ein entsprechender Anti-Terror-Ausschuß eingerichtet, dessen Mitglieder seitdem die Aufgabe haben, eine schwarze Liste von Personen, Gruppen oder Entitäten, die mit den Taliban etwas zu tun hätten, aufzustellen und zu führen. Am 19. Dezember 2000 wurde die Liste durch Resolution 1333 ergänzt, bei der es um Personen, Gruppen etc. ging, die mit Osama Bin Laden in Verbindung stehen sollen.

Am 16. Januar 2002 kam die UN-Resolution 1390 dazu, die nach Einschätzung Sullivans von großer Bedeutung war, weil damit erstmals auf die Notwendigkeit verzichtet wurde, den geographischen Aufenthaltsort der Personen oder Gruppen, gegen die die Sanktionen gerichtet waren, zu benennen. Zum ersten Mal existierte ein Schwarze-Liste-Sanktionsregime von globaler Reichweite und unbefristeter Dauer gegen alles und jeden, die irgendetwas mit Bin Laden, Al Kaida oder den Taliban zu tun haben könnten. Innerhalb von nur drei Jahren hatte sich ein Bestrafungsmechanismus, der sich ursprünglich gegen die politische Führung eines einzigen Landes richtete, zu einem Sanktionsregime zur Verwendung gegen mutmaßliche "Terrornetzwerke" und ihre Anhänger weltweit entwickelt. Das Regime verschaffte den Vereinten Nationen bis dahin beispiellose Befugnisse, was die Identifizierung und die Verfolgung der betroffenen Personen und Gruppen betrifft.

Als das Sanktionskomitee im Jahr 2001 erstmals die schwarze Liste veröffentlichte, enthielt sie die Namen von 162 Personen und sieben Entitäten, letztere hauptsächlich Banken und Wohltätigkeitsorganisationen, die in Verdacht standen, über sie würden Al Kaida oder die Taliban finanziell unterstützt werden. Seitdem ist die Liste nur noch gewachsen. Im Juli 2010 standen darauf 443 internationale Terrorverdächtige - 311 wegen angeblicher Verbindungen zu Al Kaida und 132 zu den Taliban. Ein Großteil der Namen wurde auf Antrag der USA unmittelbar nach den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Arlington auf die Liste gesetzt. Aber auch andere Staaten wie Deutschland und Großbritannien sind sehr aktiv bezüglich der Nominierung verdächtiger Personen für eine Aufnahme in die schwarze Liste.

Nach Meinung Sullivans sind die Kriterien, nach denen jemand auf die Liste kommen kann, extrem weit gefaßt. Gemäß der entsprechenden UN-Resolutionen deuten folgende Handlungen oder Aktivitäten darauf hin, daß eine Person, eine Gruppe, ein Unternehmen oder eine Einrichtung mit dem internationalen Terrorismus islamistischer Prägung in Verbindung steht:

" ... die Beteiligung an der Finanzierung, Planung, Erleichterung, Vorbereitung oder Begehung von Handlungen oder Aktivitäten durch, zusammen mit, unter dem Namen oder im Namen von oder zur Unterstützung der Al Kaida, Osama bin Ladens oder der Taliban oder einer ihrer Zellen, Unterorganisationen, Splittergruppen oder Ableger; die Lieferung, der Verkauf oder die Weitergabe von Rüstungsgütern und sonstigem Wehrmaterial an diese; die Rekrutierung für diese oder die sonstige Unterstützung ihrer Handlungen oder Aktivitäten der Al Kaida, Osama bin Laden oder den Taliban verbundenen Personen, Gruppen, Unternehmen oder Einrichtungen ..."

Jeder UN-Mitgliedsstaat kann einen Namen zur Aufnahme in die schwarze Liste vorschlagen. Sullivan kritisierte das Verfahren als "erstaunlich undurchsichtig": Im Grunde genommen segnet der Ausschuß den Antrag der jeweiligen Regierung einfach ab, ohne ihn auf seine Stichhaltigkeit zu überprüfen. Alle Staaten sind verpflichtet, den Sanktionen Geltung zu verschaffen. Die meisten Anträge basieren auf Geheimdiensterkenntnissen, die weder die Betroffenen noch die Gerichte jemals zu sehen bekommen werden. Darüber hinaus haben weder die Betroffenen eine Möglichkeit, dem Ausschuß entlastendes Material vorzulegen, noch gibt es einen Mechanismus, wie man von der Liste wieder herunter kommt, wenn man schon einmal auf sie gesetzt worden ist. Man kann zwar einen Antrag stellen, aber die Beratungen des Ausschusses sind geheim, und wenn dessen Mitglieder den Antragsteller weiterhin für ein "Risiko" oder einen "Gefährder" halten, bleibt man auf der Liste, ohne jede Angabe der Gründe für die Entscheidung. Es hat einige kleine Verbesserungen aufgrund politischen Drucks sowie infolge einiger juristischer Klagen gegeben, doch wird nach einer von Sullivan zitierten Stellungnahme des Appellationsgerichts von England und Wales "dem Betroffenen nicht die geringste Chance auf ein faires Verfahren zuteil". Deshalb bezeichnet der Australier das UN-Gremium und seine Arbeitsweise als "ein paralleles System der präventiven Sicherheit".

Bezog sich das gerade Erläuterte hauptsächlich auf die Auswirkungen der Al-Kaida-Taliban-Liste nach UN-Resolution 1267, so hob Sullivan als nächstes den gewaltigen Entwicklungssprung auf der supranationalen Ebene hervor, der mit der Verabschiedung von Resolution 1373 einhergegangen war. Diese wenige Tage nach den Flugzeuganschlägen verabschiedete Resolution schreibt allen UN-Mitgliedsstaaten vor, daß sie nicht nur den "Terrorismus", sondern auch die Unterstützung desselben zu kriminalisieren das heißt unter Strafe zu stellen haben. Darüber hinaus waren die Konten all derjenigen, die in Verdacht standen, terroristische Straftaten zu begehen oder dabei in irgendeiner Art unterstützend mitzuwirken, einzufrieren und ihr Vermögen zu beschlagnahmen. Damit war aus einer Strafmaßnahme, die sich ursprünglich gegen Osama Bin Laden, dessen Schwager, den einäugigen Mullah Muhammed Omar, und ihre engsten Kampfgefährten im wilden Paschtunistan richtete, plötzlich ein Instrument internationalen Ausmaßes geworden, mit dem jede Regierung mißliebige Personen oder Gruppen zu "Terroristen" respektive "terroristischen Vereinigungen" erklären konnte, auf daß sie überall auf der Welt verfolgt werden müßten.

Gavin Sullivan gestikuliert - © 2010 by Schattenblick

Mahnende Worte
© 2010 by Schattenblick

Sullivan erinnerte in diesem Zusammenhang daran, daß man zwischen 1936 und 1981 auf der internationalen Ebene 109 mögliche Definitionen des "Terrorismus" diskutiert hatte, sich jedoch nie auf eine endgültige hatte einigen können. Für diesen Umstand gibt es zwei Hauptgründe. Erstens herrscht Uneinigkeit darüber, wie man die staatliche Anwendung militärischer Gewalt gegen Zivilisten klassifiziert. Die einen sprechen von "Staatsterrorismus", die anderen von "Kollateralschäden". Zweitens streitet man ebenso erbittert darum, wie weit nach internationalem Gesetz das Recht nicht-staatlicher Akteure auf bewaffneten Widerstand in Rahmen des Kampfes um Selbstbestimmung reicht - das heißt das alte Der-Terrorist-des-einen-ist-der- Freiheitskämpfer-des-anderen-Argument. Das Fehlen einer letztgültigen Definition des "Terrorismus" erlaubte es den einzelnen Regierungen, gemäß der eigenen Nationalinteressen die eigene Interpretation anzuwenden und sie innerhalb der eigenen Jurisdiktion und unter Berufung auf internationale Abkommen eventuell darüber hinaus zur Geltung zu bringen. Das beste Beispiel hierfür ist die regelmäßig erneuerte Terrorliste des US-Außenministeriums. Durch das Schwarze-Liste-Regime der Vereinten Nationen wurde über Nacht aus legitimen Widerstandsgruppen, die gegen Fremdherrschaft oder Diktatur kämpften, "terroristische Vereinigungen". So droht zum Beispiel allen Leuten, die den Kampf der PKK in der Türkei oder der LTTE auf Sri Lanka finanziell oder auf andere Weise unterstützen - was auf weite Teile der kurdischen respektive tamilischen Diaspora im Ausland zutrifft -, auf der UN-Terrorliste zu landen. Darum gilt Resolution 1373 nach Meinung nicht weniger Staatsrechtsexperten als das drakonischste Sanktionsregime, das der UN-Sicherheitsrat jemals hervorgebracht hat.

2004 wurden Sullivans Mandanten in Italien im Rahmen einer von den Polizeibehörden dort groß inszenierten Operation gegen den islamistischen "Terrorismus" verhaftet und angeklagt. Die vier Männer, allesamt arme Einwanderer aus Tunesien, hatten sich bis dahin am Rande der Schattenwirtschaft durchgeschlagen. Ihre Inhaftierung erfolgte auf der Basis von neuen Antiterrorgesetzen, die in Italien nach dem 11. September 2001 verabschiedet worden waren und denen zufolge man sich durch die Unterhaltung "subversiver Kontakte zum Zwecke des internationalen Terrorismus" strafbar macht. Die Staatsanwaltschaft warf den Männern vor, einer kriminelle Bande anzugehören, die Autoschieberei, Dokumentenfälschung, Beihilfe zur illegalen Einwanderung sowie Steuerhinterziehung betreibe (Sullivan erntete viel Gelächter seitens des Publikums mit der ironischen Bemerkung, er hätte nicht gedacht, daß Steuerhinterziehung in Italien ein besonders schweres Verbrechen sei). Darüber hinaus wurde seitens des italienischen Staates die These verfochten, die kriminelle Bande sei Teil einer terroristischen Verschwörung, mittels derer salafistische Militante in Nordafrika, die angeblich Teil des Al-Kaida-"Netzwerkes" seien, finanziell und logistisch unterstützt würden. Auf der Basis dieser Behauptung landeten die Tunesier auf der UN-Terrorliste.

Beim ersten Prozeß 2004 gegen die italienische Al-Kaida-Zelle - so wurde der Fall dort von Medien und Politik weitestgehend kolportiert - wurden die Nordafrikaner in allen Anklagepunkten schuldig gesprochen. Die Männer haben das Urteil, was die herkömmlichen kriminellen Straftaten betrifft, akzeptiert. Sie wehrten sich dennoch vehement gegen den Vorwurf, "Terrorhelfer" zu sein, und gingen deshalb in diesem einem Punkt in die Revision. Beim Revisionsprozeß 2005 wurden sie freigesprochen. Das Appellationsgericht in Mailand stellte fest, daß es keinerlei stichhaltige Beweise für eine Verbindung der Tunesier zu irgendwelchen Salafisten in Nordafrika gab und daß folglich der Vorwurf, sie seien Mitglieder einer Al-Kaida-Zelle, unbegründet war. Das Urteil fiel so eindeutig zugunsten der Kläger aus, daß die Staatsanwaltschaft ihrerseits darauf verzichtet hat, die Sache weiter zu verfolgen und die nächsthöhere Instanz anzurufen.

Dessen ungeachtet stehen fünf Jahre später die Namen dieser Männer immer noch auf der UN-Terroristenliste. Ihre Bankkonten und Vermögenswerte sind immer noch gesperrt und ihre Reisemöglichkeiten stark eingeschränkt. Der Grund für diesen Umstand ist, daß der italienische Staat irgendwann gegen sie den Terrorismusverdacht ausgesprochen hat. Obwohl ein italienisches Gericht den Verdacht im strafrechtlichen Sinne ausgeräumt hat, bleibt er aus Sicht des zuständigen UN-Ausschusses immer noch im Raum - nach dem Motto, man konnte ihn nicht beweisen, aber an den Erkenntnissen der Geheimdienste könnte doch irgendetwas dran gewesen sein. Die Tatsache, daß gegen jemanden wegen des Terrorverdachts ermittelt wurde, reicht aus, um die Eintragung auf die schwarze Liste bestehen zu lassen. Und weil die Aufnahme auf die Liste als vorübergehende, präventive Maßnahme gilt, gibt es für die Betroffenen nicht die üblichen Einspruchsmöglichkeiten, wie man sie von der Strafprozeßordnung her kennt. Gegen diese Ungerechtigkeit kämpfen Sullivan und das ECCHR an und versuchen derzeit, die Namen der Tunesier von der Terrorliste sowohl der Vereinten Nationen als auch der Europäischen Union entfernt zu bekommen.

Gavin Sullivan schaut hoch - © 2010 by Schattenblick

Solidarität - auch mit den Terror-"Verdächtigen"
© 2010 by Schattenblick

Für Sullivan verkörpern solche Fälle die "schlimmsten Exzesse" des von ihm beschriebenen Paradigmas der "präventiven Sicherheit". Sanktionen werden als vorübergehend verhängt, die jedoch unbefristet andauern können. Darüber hinaus ist die Aufnahme auf eine Terrorliste dazu konzipiert, das wirtschaftliche Leben der Betroffen und deren Familien völlig lahmzulegen - unabhängig davon, ob diese aus ihren meist spärlichen Einkünften den "Terrorismus" fördern könnten oder jemals gefördert haben. Die Gelisteten können keiner geregelten Arbeit nachgehen, keine Wohnung mieten und kein Geld, bis auf ein für das physische Überleben notwendiges Minimum, das auch noch staatlicherseits strengstens kontrolliert wird, annehmen. Darüber hinaus macht sich jeder, der einem gelisteten Terrorverdächtigen "materielle Hilfe direkt oder indirekt zukommen läßt", selbst strafbar.

Zur Erläuterung dessen, was in solchen Zusammenhängen als "indirekte materielle Unterstützung" des "Terrorismus" verstanden werden kann, führte Sullivan den Umgang der Behörden in England mit einigen muslimischen Einwanderern an, die unter Terrorverdacht stehen, von 2001 bis 2005 inhaftiert worden waren und gegen die nach der Freilassung von seiten des britischen Innenministeriums deshalb sogenannte "control orders" verhängt wurden, die im Grunde genommen Hausarrest bedeuten. Die britische Regierung hat eine ganze Reihe von Regularien erlassen, die unter anderem zur Folge hatten, daß die Sozialhilfezahlungen an die Ehefrauen der betroffenen Männer zunächst in Sperrkonten umgeleitet wurden. Zugriff auf das Geld bekamen die Ehefrauen erst, nachdem sie deswegen geklagt hatten. Daraufhin wurde ihnen vom Finanzministerium eine Sonderlizenz zur Verwendung der gesperrten Gelder und späterer Einzahlungen erteilt. Zur Begründung des hartherzigen Umgangs mit den Frauen, die mit dem Geld - es handelte sich, wie man sich leicht vorstellen kann, um verhältnismäßig geringe Summen - lediglich die eigenen Grundbedürfnisse sowie die ihrer Kinder und ihrer unter Terrorverdacht stehenden Ehemänner befriedigen wollten, argumentierten die Vertreter der britischen Regierung vor Gericht, daß allein die Bereitstellung einer gemeinsamen Mahlzeit, an der gelistete Personen teilnehmen und sich davon ernähren könnten, den Tatbestand der Terrorunterstützung darstelle.

Infolge des Rechtsstreits hatten die Behörden ein gewisses Einsehen und ließen die besagten Konten entsperren. Dafür wurde die Verwendung der Gelder auf Pound und Penny akribisch kontrolliert. Es gab zudem eine Ausgabenbegrenzung auf das absolute Existenzminimum - nicht mehr als zehn Pfund (umgerechnet 15 Euro) pro Familienmitglied pro Tag. Für sämtliche Ausgaben mußten die Ehefrauen monatlich eine durch Quittungen und Kontoauszüge belegte Aufstellung vorlegen, die von den Behörden auf mögliche Unstimmigkeiten überprüft wurde. Im April dieses Jahres hat eine Gruppe von Ehefrauen von gelisteten Al-Kaida-Verdächtigen in Großbritannien mit ihrer Klage vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Luxembourg gegen diese Art der Bevormundung gewonnen.

Wie die US-Behörden selbst zugeben, haben sie nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September zwecks Einfrierung von Konten mutmaßlicher Al-Kaida-Militanten und -Unterstützer so rasch wie möglich eine "neue Rechtskonstruktion" auf der Basis von Geheimdiensterkenntnisse kreiert, von denen man wußte, daß sie vor Gericht keinen Bestand hätten. Weil die Vermögenswerte lediglich eingefroren und nicht für immer beschlagnahmt wurden, konnte man die Schwelle der Beweislast relativ niedrig ansetzen und das Netz der Verdächtigen weit spannen. In diesem Zusammenhang jedoch von "Einfrierung" zu sprechen, als handele es sich um eine vorübergehende Maßnahme, ist nach Ansicht Sullivans eine Täuschung. Die Vermögenswerte des Staates Kuba in den USA sind bereits seit fast einem halben Jahrhundert "eingefroren". Von daher war das neue System als etwas konzipiert worden, das dauerhaften Charakter haben sollte.

Sullivan brachte seine Sorge zum Ausdruck, daß die Linke die Bedeutung der Terrorlisten weder begriffen noch ausreichend diskutiert. Ihm zufolge ist innerhalb von wenigen Jahren ein supranationales, extralegales, paralleles und einzigartiges System der Repression ins Leben gerufen worden. Das Leben seiner Mandanten und vieler anderer Menschen sei von einem UN-Gremium auf dem Kopf gestellt worden, das vor 1999 nicht existierte; drastische Maßnahmen seien auf der Basis von Informationen verhängt worden, in die die Beschuldigten keinen Einblick haben und gegen die sie folglich keinen Einspruch einlegen können; auf der Basis der Auflistung gelten sie auf der ganzen Welt als "Terroristen", können nirgendwo reisen, keine Geschäfte tätigen, während alle ihre materiellen Kontakte kriminalisiert werden; darüber hinaus sei es unheimlich schwierig, wenn nicht sogar fast unmöglich, die Aufnahme in die Liste rückgängig zu machen. Was den supranationalen Aspekt des Systems betrifft, so machte Sullivan darauf aufmerksam, daß die Geheimdiensterkenntnissen, deretwegen seine Mandanten verhaftet und später auf Antrag des italienischen Staates in die UN-Terrorliste eingetragen wurden, aus den USA kamen und daß dies in den meisten derartigen Fällen auch zutrifft.

Gavin Sullivan lacht - © 2010 by Schattenblick

Der "Antiterrorkrieg" - Kein Grund zur Resignation
© 2010 by Schattenblick

Auf das Phänomen eines sich in Entstehung befindlichen transatlantischen, supranationalen Sicherheitsraums ging Sullivan in einem weiteren Fall noch ausführlicher ein. Vor belgischen Gerichten hat das ECCHR eine Verfassungsklage gegen das 2007 zwischen der EU und den USA getroffene Abkommen über den Austausch von Flugpassagierdaten - Passenger Name Records (PNR), zu deutsch Passagierregister - laufen. 2006 wurde die Existenz eines bereits Jahre zuvor von der Regierung in Washington an den US-Flughäfen und Grenzübergängen eingeführten computergestützten Programms namens Automated Targeting System (ATS) zur Beleuchtung des Hintergrunds aller Passagiere und Frachtgüter, die vom Ausland in die USA kommen - und zwar noch am besten vor der Ankunft an der amerikanischen Grenze - bekannt. Zur Begründung erklärte das US-Heimatschutzministerium, beim ATS-Programm gehe es um die Erfassung von Daten zwecks rechtzeitiger Identifizierung von Anomalien oder Mustern, deren Auftreten im Personen- und Warenverkehr vom Zoll und anderen Behörden früher vielleicht nicht ausreichend beachtet worden wären, aber von Bedeutung sein könnten.

Bereits 2004 hatten Washington und Brüssel das Passenger Name Record Data Transfer Agreement abgeschlossen. Das US-EU-PNR-Abkommen hatte zur Folge, daß die Luftlinien seitdem über jeden Passagier, der von der EU in die USA fliegen will, noch vor dem Abflug 34 Angaben wie Name, Wohnort, Geschlecht, Telefonnummer, Kreditkartennummer, Auswahl aus der Bordverpflegung und frühere Reisetätigkeit an die amerikanische Einwanderungsbehörde übermitteln müssen. Anhand dieser Daten wird für jeden potentiellen Flugreisenden ein Profil erstellt und das ihm innewohnende Risikopotential eingeschätzt.

Das Ergebnis des Verfahrens ist die Aufteilung aller Personen, die in die USA reisen wollen, in drei Kategorien: "akzeptables Risiko", das bedeutet, daß man das Flugzeug nach dem Einchecken ungehindert betreten darf; "unbekanntes Risiko", weswegen man am Flughafen sorgfältig überprüft werden muß; und "inakzeptables Risiko", was bedeutet, daß man nicht nur die Maschine nicht betreten darf, sondern auch noch von der Polizei am Flughafen abgefangen werden soll. Für Sullivan funktioniert das System auf zwei Ebenen. Auf der ersten werden bereits straffällig gewordene oder gesuchte Personen identifiziert und dem Justizwesen des jeweiligen Landes übergeben. Doch auf der zweiten Ebene werden auf Basis der Datenauswertung neue Informationen - nämlich ein Profil oder eine Einschätzung des von jedem Passagier ausgehenden Gefahrenpotentials - erstellt. Die Basisdaten und die daraus entstandenen Profile werden von den US-Behörden abgespeichert, was bedeutet, daß später in anderen Zusammenhängen auf sie zurückgegriffen werden kann. Die US-Regierung hat erklärt, sie gehe davon aus, daß man jeweils nach Ablauf von 15 Jahren auf die Datensätze wird verzichten können und sie deshalb vernichtet werden. Doch weil es sich hier um keine kategorische Festlegung handelt, muß man davon ausgehen, daß die Informationen auf ewig abgespeichert werden. Hinzu kommt, daß die Daten nicht im Besitz der US-Einwanderungsbehörde bleiben, sondern mit anderen amerikanischen Ministerien und Regierungseinrichtungen wie den Geheimdiensten geteilt sowie eventuell an ausgewählte ausländische Staaten übermittelt werden.

2006 hat das EU-Parlament das Abkommen unter anderem wegen mangelnden Datenschutzes kritisiert und ein EU-Gericht es für unzulässig erklärt. Daraufhin haben die EU und die USA 2007 ein neues, verbessertes Abkommen geschlossen, gegen das das ECCHR derzeit in Belgien die bereits erwähnte Verfassungsklage verficht. Sullivan warnte in diesem Zusammenhang vor der weit verbreiteten Annahme, die USA hätten der EU das System des Passagierdatenaustausches aufoktroyiert. Er machte geltend, daß die EU-Kommission in diesem Prozeß stets als gleichwertige Partnerin der US-Regierung agiert hat. Die EU hat inzwischen PNR-Abkommen mit Australien und Kanada geschlossen und bereitet derzeit die Einführung eines europa-internen Passagierdatensystems vor, dessen Datensätze mit denen des Schengener Informationssystems (SIS) zusammengeführt werden sollen. Letzteres enthält bereits 28 Millionen Datensätze und rund eine Million Warnmeldungen über "Personen von Interesse". Bei letzteren handelt es sich hauptsächlich aber nicht ausschließlich um Nicht-EU-Bürger, die als Gefahr für die öffentliche Ordnung oder als Bedrohung nationaler Sicherheit gelten. Der offizielle Zweck des kommenden EU-Passagierdatensystems sei nach offiziellen Angaben "die Durchführung von personenbezogenen Risikoeinschätzungen, die Gewinnung von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen und die Identifizierung von Verbindungen zwischen bekannten und unbekannten Personen".

Für diejenigen, die nach einem solchem Vortrag gemeint hätten, der Vormarsch Big Brothers wäre nicht aufzuhalten, hatte Sullivan zum Schluß eine wirklich ermutigende Geschichte parat. Er berichtete vom Fall des Abousfian Abdelrazik, der hierzulande kaum bekannt ist, jedoch in Kanada hohe Wellen geschlagen hat. Der 1962 in Sudan geborene kanadische Bürger war 2003 mit Frau und Kindern in sein Herkunftsland gereist, um die kranke Mutter zu besuchen. Auf Ersuchen der kanadischen Geheimdienste wurde er von den sudanischen Behörden gefangengenommen und drei Jahre lange inhaftiert und gefoltert. Während dieser Zeit ist sein kanadischer Reisepaß abgelaufen. Nach der Freilassung 2006 weigerten sich die kanadischen Behörden, Abdelrazik einen neuen Paß auszustellen, weil sein Name inzwischen auf die UN-Terrorliste nach Resolution 1267 gesetzt worden war. Daraufhin traten linke Aktivisten, Gewerkschaftler und Bürgerrechtler eine Kampagne los, bei der sie nicht davor zurückschreckten, für Abdelrazik eine Karte für den Rückflug nach Kanada zu kaufen - ungeachtet der Tatsache, daß das nach den UN-Bestimmungen der "materiellen Hilfe" eines Terroristen gleichkam. 2009 hat der Oberste Gerichtshof Kanadas die Regierung in Ottawa wegen der Verletzung der Bürgerrechte Abdelraziks aufs Schärfste verurteilt und die Rückführung des Mannes aus dem Sudan angeordnet. Derzeit klagt Abdelrazik gegen den kanadischen Staat auf Schadensersatz in Millionenhöhe, während er gleichzeitig versucht, seinen Namen von der UN-Antiterrorliste streichen zu lassen.

Herbstliche Parklandschaft im Hamburger Uni-Viertel Rothenbaum -  © 2010 by Schattenblick

Hamburg in Herbst - eine heile Welt?
© 2010 by Schattenblick

Bisher erschienen:


BERICHT/047: Antirep2010 - Moshe Zuckermann würdigt Rosa Luxemburg (SB)
BERICHT/046: Antirep2010 - Staatliche Repression gegen sozialökologische Bewegungen (SB)
BERICHT/045: Antirep2010 - Tobias Pflüger konterkariert Europas Weltmachtstreben (SB)
BERICHT/044: Antirep2010 - Staatliche Repression gegen die antikapitalistische Linke (SB)
BERICHT/043: Antirep2010 - Sabine Schiffer nimmt Islamfeindlichkeit in den Medien aufs Korn (SB)
BERICHT/042: Antirep2010 - Will Potter zu "Green Scare" in den USA (SB)
BERICHT/041: Antirep2010 - Yossi Wolfson streitet gegen Illegalisierung (SB)
BERICHT/040: Antirep2010 - Heinz-Jürgen Schneider zum Terrorverdikt im politischen Strafrecht (SB)
BERICHT/039: Antirep2010 - Der "War On Terror" und moderner Faschismus (SB)

INTERVIEW/056: Antirep2010 - Yossi Wolfson, Menschenrechtsanwalt und Tierschützer (SB)
INTERVIEW/055: Antirep2010 - Tobias Pflüger, Friedensaktivist und Politiker der Linkspartei (SB)
INTERVIEW/054: Antirep2010 - Michael Schiffmann kämpft um das Leben Mumia Abu-Jamals (SB)
INTERVIEW/053: Antirep2010 - Thomas Wagner, Kultursoziologe und Autor (SB)
INTERVIEW/052: Antirep2010 - Will Potter, US-Journalist und Autor "The New Green Scare" (SB)
INTERVIEW/051: Antirep2010 - Moshe Zuckermann, israelischer Soziologe und Autor (SB)


3. November 2010