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INTERVIEW/008: Martin Behrsing vom Erwerbslosen Forum Deutschland (SB)


Interview mit Martin Behrsing am 4. Februar 2009 in Bonn

 - © 2009 by Schattenblick
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Schattenblick: Herr Behrsing, ich würde Sie gerne eingangs fragen, wie es dazu gekommen ist, daß sie bei der gestrigen ARD-Sendung "Menschen bei Maischberger" zum Thema "Treibt 'Hartz IV' Millionen Menschen in die Armut?" trotz vorheriger Einladung nicht aufgetreten sind?

Martin Behrsing: Ich habe eine E-Mail bekommen. Man hat sich recht herzlich für das Interview bedankt, das ich vorher gegeben habe, und mir gleichzeitig angeboten, ich möge bitte eine Rechnung ausstellen (lacht). Dann schrieb man, daß man sich zugunsten einer Frau entschieden hätte. Das war die Argumentation.

SB: Ist Ihnen die Dame bekannt, die an Ihrer Stelle aufgetreten ist?

MB: Sie ist mir bekannt und sie gehört der Gewerkschaft ver.di an. Ich will mich jetzt nicht negativ über die Frau äußern. Ich weiß, daß sie in Berlin sehr, sehr engagiert ist. Das war okay. Aber bei mir entstand schon die Frage, ob zumindest unsere Forderungen, wie man Hartz IV überwinden kann, der Sendung überhaupt genehm waren.

SB: Daß man Hartz IV überhaupt überwinden will, ist möglicherweise nichts, das man gerne gehört hätte?

MB: Also zumindest gestern in der Sendung wurde deutlich, daß es eigentlich kein klares Bekenntnis dazu gibt, man will es allenfalls reformieren. Auch wenn man Heiner Geißler hört, der lieber wieder zu alten Zeiten zurückkommen möchte. Ich kenne Heiner Geißler seit den siebziger Jahren und bin natürlich äußerst skeptisch, wenn er zu alten Zeiten zurück will.

SB: Wie empfanden Sie den Verlauf der Sendung ansonsten? Es ging ja wohl um die Frage, wie die Betroffenen zurechtkommen mit Hartz IV.

MB: Leider ging es in dieser Sendung nicht primär darum. Thematisch war es so aufgebaut, aber es blieb ein bißchen der Eindruck haften, daß die Leute den Staat betrügen, und es blieb auch der Eindruck haften, daß die Menschen, wenn sie denn arbeitslos sind, sich halt mit weniger zufriedengeben müssen. Es ging nicht um die Verantwortung der Arbeitgeber, die Arbeitskräfte freisetzen. Die Frage wurde überhaupt nicht gestellt, warum sie denn nicht, nennen wir es ruhig einmal so, die Auslagerungskosten tragen. Es wurde zwar bedauert, daß Arbeitslosenhilfe und Sozialhife abgeschafft wurden. Nach Heiner Geißler war das früher alles prima. Ich bin lange Sozialarbeiter und kenne die Sozialhilfe von früher, die war überhaupt nicht prima. Sie ist vergleichbar mit Hartz IV jetzt.

Heiner Geißler sagte, man müßte sich erst einmal den Forderungen der Wohlfahrtsverbände oder der Gewerkschaften anschließen, was aus unserer Sicht viel zu wenig ist. Menschen bleiben immer noch arm, und Menschen werden auch mit den Mindestlohnforderungen immer noch in Hartz IV bleiben. Da vertreten wir schon eine ganz klare Position: ein Mensch, der arbeitet, der sollte zumindest 100 bis 150 Euro über dem Vermögensfreibetrag liegen, und das entspricht momentan einem Brutto-Stundenlohn von zehn Euro.

Wir orientieren uns als Erwerbslosen Forum mit den Regelsätzen nicht daran, was man immer die Armutsschwelle nennt. Unserer Ansicht nach kann man die Menschen nicht an der Armutsschwelle leben lassen, sondern sie müssen an der Gesellschaft teilhaben können und das geht nicht in Armut, das muß schon darüber sein. Deswegen sagen wir: 500 Euro sollten es schon sein, die man zum Leben braucht. Und für Schulkinder und Jugendliche muß man halt auch einen besonderen Bedarf feststellen, wobei es ohne weiteres sein kann, daß Jugendliche sogar noch mehr Geld brauchen als Erwachsene.

SB: War das Urteil des Bundessozialgerichts zu der 60-Prozent-Regelung für Kinder Thema in der Maischberger-Sendung?

MB: Das nur ganz kurz Thema. Heinrich Alt von der Bundesagentur, der hat das sehr schnell abgebügelt, indem er sagte, das Bundessozialgericht habe nichts über die Höhe gesagt, was ja auch stimmt. Wir bemängeln ja auch an diesem Urteil, daß das Gericht sich gar nicht zu der Höhe geäußert hat, sondern einfach nur gesagt hat, daß das Ganze irgendwie anders geregelt werden muß. Man kann den Bedarf von Kindern nicht am Bedarf von Erwachsenen messen. Aber keine Rede davon, was denn mit den Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren ist? Die sind außen vor.

Man hat nach dem Zweiten Weltkrieg aus gutem Grund mehrere Altersstufen in der Sozialhilfe eingeführt, da man erkannt hat, daß Kinder im Alter von sechs Jahren einen anderen Ernährungsbedarf haben als Erwachsene, als Säuglinge und Jugendliche. Das hat man immer berücksichtigt. Aus gutem Grund, weil man das während der Nazi-Zeit abgeschafft hatte. Da gab es einfach nur zwei Altersgruppen, Punkt. Man hat das 1955 eingeführt, um es dann 50 Jahre später ohne irgendeine wissenschaftliche Begründung wieder abzuschaffen, indem man einfach sagt: 0 bis 14 Jahre 60 Prozent und bis 25 Jahre 80 Prozent. Wir sind der Meinung, das müßte noch vor der Bundestagswahl rückgängig gemacht werden. Es ist einfach zu einer Kürzung gekommen.

SB: Der Ausgangspunkt unserer Anfrage an Sie war der KletterPark in Flensburg. Da tut sich ein ähnliches Problem auf, daß Menschen aufgrund persönlicher Eigenschaften, sei es ihres Alters oder ihrer körperlichen Verfassung, auf bestimmte Weise gemaßregelt werden, indem zum Beispiel angeblich Übergewichtige für eine spezielle Arbeit abgestellt werden. Und darüber hinaus, wie ich es verstanden habe, angeleitet werden, dies mit einem Fitness-Training zu verbinden. Wie würden Sie das beurteilen? Geht es bei Hartz IV generell darum, Menschen auf verschiedene Weise in Gruppen zu fassen, an bestimmten körperlichen oder gesellschaftlich-sozialen Kriterien voneinander abzugrenzen?

MB: Ja, es geht bei Hartz IV, das muß man immer wieder sehen, um Marginalisierung. Das stellen wir schon lange fest. Roland Berger wird ja immer wieder in die Arbeitsgemeinschaften eingeladen, um Konzepte zu entwickeln, um die Prozesse letztendlich zu aktivieren. Dies macht er vornehmlich in Köln, weil Köln eine Art Modell-ARGE für die Bundesrepublik ist. Was man dort umsetzt, wird man dann später in der ganzen Bundesrepublik umsetzen.

Roland Berger geht von verschiedenen Langzeitarbeitslosen aus, die es mit Hartz IV eigentlich nicht mehr geben sollte, indem er die Menschen tatsächlich in vier verschiedene Gruppen einteilt. Wenn wir die Arbeitslosen bis 25 unberücksichtigt lassen, dann teilt er die Menschen ein in die Gruppe 25 bis 40 Jahre, die relativ gut qualifiziert ist, weil ein Berufsschulabschluß vorhanden ist. Für die hat er eine Kategorie. Dann hat er für die Menschen eine Kategorie, die keinen Berufsschulabschluß haben, dann hat er eine Kategorie 45 bis 65 Jahre und noch eine Kategorie "Menschen schwerbehindert". Den meisten Beratungsbedarf bekommen die Menschen zwischen 25 und 40 mit Berufsausbildung. Wobei Beratung nicht in dem Sinne zu verstehen ist, daß die Menschen beraten werden, sondern es geht darum, wie man sie schnellstmöglich wieder in einen Job bekommt. Sie werden verstärkt eingeladen, haben eine häufigere Kontaktdichte als zum Beispiel Schwerbehinderte, die man maximal viermal im Jahr einlädt.

Ähnlich sehen Konzepte von Peter Hartz aus, der im November sein Comeback versuchte. Ich habe mir einmal seine Konzepte durchgelesen und war ganz entsetzt, daß da gestandene Psychotherapeuten wie der Professor Hilarion Petzold mitwirken, den man eigentlich aus der integrativen Therapie kennt. Plötzlich hat man das Gefühl, Langzeitarbeitslose sind pathogene Wesen, an die man nur mit genügend tiefenpsychologischen Interviews rangehen muß, dann kann man denen schon beikommen.

Etwas ähnliches passiert auch in Flensburg, wenn man sagt, wir haben hier Übergewichtige, Übergewichtige haben das Problem, daß sie keinen Job bekommen. Natürlich - das gebe ich auch zu - haben es Menschen, die übergewichtig sind, schwerer, einen Job zu bekommen. Aber das ist das ja nicht das Problem an sich, sondern das Problem ist sicherlich die Arbeitslosigkeit, die zu Übergewicht führen kann beziehungsweise, wenn wir uns den Regelsatz ansehen, bedingt, daß man sich nur ungesund, nur schlecht ernähren kann. Für uns ist es dann sehr befremdlich, wenn Übergewichtige ausgerechnet einen Fitness-Park anlegen sollen in Form eines Ein-Euro-Jobs.

Nun wissen wir inzwischen aus anderen Quellen, daß es so schön, wie es in RTL oder in der Presse dargestellt wurde, nicht ist. Der Eindruck, daß das Projekt medizinisch betreut wird und Ernährungsberatung angeboten wird, wird erweckt, wenn Zeitungen und Fernsehen da sind, ansonsten findet das nicht statt. Es gibt keine Eingangsuntersuchung, die Ernährungsberatung beschränkt sich darauf, daß Ernährungszeitschriften ausgelegt werden, die können die Menschen sich durchlesen.

SB: Wie ist es um die Freiwilligkeit bestellt, die bei der Teilnahme an dieser Maßnahme unterstellt wird?

MB: Die Freiwilligkeit, die kennen wir ja zu Genüge. Wir müssen auf der einen Seite sehen, daß es natürlich eine Reihe von Langzeitarbeitslosen gibt, die dringend auf dieses Zusatzgeld angewiesen sind, obwohl sie ganz genau wissen, daß diese Jobs sie nicht weiterbringen. Sie wissen auch, daß sie damit auf der anderen Seite Arbeitsplätze vernichten. Aber sie brauchen einfach das Geld. Die andere Seite der Freiwilligkeit ist halt, daß man bei Hartz IV verstärkt mit Eingliederungsvereinbarungen arbeitet. Optimal sehen die normalerweise so aus: es gibt eine Vereinbarung zwischen der Arbeitsagentur und dem Erwerbslosen, in der festgelegt wird, was jeder selber tut oder was gemeinsam getan wird, um in Arbeit zu kommen. Das wäre ja erst einmal etwas Vernünftiges, wenn das Ganze freiwillig ist. Aber normalerweise werden die Eingliederungsvereinbarungen den Menschen einfach vorgelegt. Sie haben gar keine andere Wahl, als sie zu unterschreiben. Und wenn sie unterschrieben ist, handelt es sich eigentlich um einen Vertrag, der dem Bürgerlichen Gesetzbuch ähnlich ist. Es besteht eigentlich keine Möglichkeit der Anfechtung wie beim Verwaltungsamt. Und die Menschen werden unter Druck gesetzt, indem man ihnen bei Nichtunterzeichnung 30 Prozent Kürzung androht. Und dann werden die Menschen unterschreiben.

Martin Behrsing mit SB-Redakteuren - © 2009 by Schattenblick

Martin Behrsing mit SB-Redakteuren
© 2009 by Schattenblick


SB: Der Begriff des "Kunden" ist schon ein sehr
starker Euphemismus?

MB: Ja, der Begriff "Kunde" ist sowieso ein Euphemismus. Als Kunde kann ich mir immer den Laden aussuchen, in dem ich einkaufen gehe. Das ist hier schon einmal nicht gegeben. Und das Zweite, das wir sehen müssen, die Menschen sind keine Kunden. Sie beziehen Leistungen.

SB: Sehen Sie eine Alternative für die Erwerbslosen darin, den Vertrag über die Eingliederungsvereinbarung nicht zu unterschreiben?

MB: Also grundsätzlich sollte man diesen Vertrag mit nach Hause nehmen - aber das geht nur, wenn man sich Zeugen mitnimmt, die das bestätigen können, daß man das macht - und einen Gegenvorschlag vorlegen und dann darüber verhandeln. Wobei diese Möglichkeit seit 1.1.2009 so nicht mehr gegeben ist. Die Gesetzeslage hat sich verändert, es wird inzwischen zwar nicht mehr sanktioniert, wenn man sich weigert, eine Eingliederungsvereinbarung zu unterschreiben, aber das Ganze kann direkt als Verwaltungsakt erlassen werden. Und ein Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt dieser Art hat keine aufschiebende Wirkung.

SB: Können Sie das kurz erläutern, was das in diesem
Zusammenhang bedeutet - Verwaltungsakt?

MB: Verwaltungsakt heißt ganz einfach: die Verwaltung erläßt diese Eingliederungsvereinbarung als Verwaltungsakt, und damit entsteht für den Erwerbslosen eine Verpflichtung.

SB: Kein Vertrag mehr, der von beiden Seiten gutgeheißen wird, sondern ein einseitiger Akt?

MB: Das ist ein einseitiger Verwaltungsakt, Vertrag kann man das nicht nennen. Normalerweise kann man einem Verwaltungsakt widersprechen und Widerspruch entfaltet aufschiebende Wirkung. Das heißt, die Verwaltung müßte das Widerspruchsverfahren abwarten, im Notfall sogar ein Gerichtsverfahren. Diese Möglichkeit hat man zum 1.1.2009 per Gesetz abgeschafft, indem es es keine aufschiebende Wirkung mehr gibt. Das heißt, im Zweifelsfall können die Menschen irgendwann später Recht bekommen, aber das nützt ihnen dann nichts mehr. Das hat dann eine ähnliche Qualität wie die Aussage des Bundesarbeitsgerichts vom vergangenen Jahr, laut der Arbeitslose es sich selbst zuzuschreiben haben, wenn sie für Ein-Euro-Jobs eingesetzt wurden, die normale Arbeitsplätze verdrängt haben. Sie können keine Rechtsansprüche daraus entwickeln. Sie können zwar Recht bekommen, aber ein Gehalt können sie daraus nicht einfordern.

SB: Ich möchte noch einmal auf das Beispiel des Flensburger KletterParks zu sprechen kommen. Können Sie sich vorstellen, daß irgendwann in einer Eingliederungsvereinbarung die Bedingung erhoben wird, daß die Betroffenen soundsoviel Kilo abnehmen müssen, um überhaupt eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu haben? Ich übertreibe jetzt vielleicht ein bißchen, aber Übergewichtige werden schnell in eine Ecke gedrängt, in der ihnen, so wie behauptet wird, sie seien selbst an ihrer Arbeitslosigkeit schuld, am Ende gesagt wird, sie seien selber schuld daran, daß sie zu dick sind. Und dann wird das eine mit dem andern begründet. Könnte sich das dahingehend entwickeln, daß irgendwann weitergehende Disziplinierungsmaßnahmen im Rahmen von Hartz IV zur Geltung gelangen?

MB: Natürlich. So etwas passiert ja tagtäglich. Es gibt in allen größeren Arbeitsgemeinschaften sogenannte Sonderabteilungen, die sich um besonders problematische Langzeitarbeitslose kümmern. Seien es psychisch Kranke oder körperlich Behinderte, sie unterliegen bestimmten Auflagen. Das kann bis dahin gehen, daß Urinkontrollen verlangt werden, daß bestimmte psychiatrische Untersuchungen verlangt werden, daß es Nachweise darüber gibt, und ebenso kann das natürlich auch da passieren.

Eine Behörde, die sich um Arbeitslosigkeit kümmert, die hat sich nicht in medizinische Dinge einzumischen. Es gibt immer noch ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, und kein anderer Träger hat sich da einzumischen. Wenn man denn dem Problem beikommen will, hat man dafür genug Rehabilitationsmöglichkeiten. Da ist sichergestellt, daß die Menschen behandelt werden und daß sie nicht sanktioniert werden. Eine Behandlung ist freiwillig, und es ist auch kein Beinbruch, wenn eine Behandlung nicht funktioniert.

SB: Seit dem 1.1.2009 wird ja auch die Förderung eines Hauptschulabschlusses davon abhängig gemacht, ob Aussicht darauf besteht, daß er erfolgreich bewältigt wird. Da stellt sich natürlich die Frage: Wer beurteilt, bei welchem Menschen eine solche Aussicht erfolgversprechend ist und bei welchem nicht?

MB: Ja. Das ist überhaupt die berechtigte Frage, wer beurteilt? Das ist überhaupt in allen Bereichen, die sich mit diesen Dingen beschäftigen, die Frage: wer beurteilt? Das wird die ARGE sicherlich nicht selber machen. Sie wird irgend jemand damit beauftragen. Wir erleben seit Jahren, daß irgendwelche privaten Bildungsträger damit beauftragt werden, zu beurteilen. Wenn man sich einmal fragt, welche Menschen in diesen Bildungsträger-Landschaften arbeiten, welche Qualifikationen sie haben, dann muß zumindest jemand wie ich, der sehr viele Erfahrungen in diesem Bereich gemacht hat, immer wieder feststellen: 80 Prozent der Mitarbeiter sind unzureichend qualifiziert. Sie sind weder in der Lage, eine Diagnose zu stellen, noch gibt es irgendwelche pädagogische Befähigungen.

SB: Drängt sich da nicht der Verdacht auf, daß dem Staat weniger das Wohlbefinden und die Gesundheit der Betroffenen am Herzen liegt als ihre Wiedereingliederung in dem Sinne, daß ihre Arbeitskraft wieder verwertbar wird?

MB: Ja, das könnte man so sehen, wobei ich es pessimistischer beurteile. Man hat mit ungefähr sieben Millionen Menschen angefangen, die Hartz-IV-Leistungen bekommen, und wir sind immer noch auf demselben Stand. Das heißt auf der anderen Seite, es war der Politik völlig klar, daß man für diese Menschengruppe nichts Besonderes tun wird, außer daß man sie aus dem Leistungsbezug drängt. Das hat wohl nicht ganz so geklappt, wie man es sich damals vorgestellt hat. Ansonsten sitzt man das Ganze aus, bis der demographische Faktor es richtet. Das Problem der Altersarmut interessiert im Moment noch nicht. Es wird auch noch gar nicht thematisiert. Aber genau das wird ja auf uns zukommen.

SB: Es werden zirka eine Million neue Arbeitslose prognostiziert für 2009, da kann man nicht darauf zählen, daß sich das Problem altersbedingt löst. Mit der anwachsenden Masse an Arbeitslosigkeit muß der Staat ja irgendwie verfahren. Haben Sie eine Vorstellung, wo das noch hinführen könnte?

MB: Das Bundessozialgericht spricht vom physischen Existenzminimum. Es spricht nicht mehr von Teilhabe, da kann man sich denken, worauf das hinauslaufen kann. Das kann durchaus in die Richtung der beiden Chemnitzer Professoren gehen, die der Meinung waren, 134 Euro würden zum Leben ausreichen, mehr braucht der Mensch nicht. Man braucht kein Sprudelwasser, ein Glas Wasser reicht aus. Ein Euro reicht für kulturelle Teilhabe.

SB: Wie werden wohl die Wohnverhältnisse in solchen Fällen aussehen? Ob weiter bezuschußt werden soll oder ob man sich so etwas wie Ghettos vorzustellen hat?

MB: Man wird sich sicherlich Ghettos vorstellen können. Da braucht man ja nur in unsere Nachbarländer zu schauen, ob wir nun Frankreich oder Großbritannien nehmen, insbesondere zu Zeiten Maggie Thatchers. Da konnte man die Ausmaße ganz deutlich sehen. Oder auch in den Vereinigten Staaten ...

SB: Es wurden auch Überlegungen angestellt, die eine Million leerstehenden Wohnungen in Ostdeutschland, die sogenannten Plattenbauten, für Hartz-IV-Empfänger zu verwenden. Haben Sie davon gehört?

MB: Diese Überlegungen, die gab es immer wieder. Man hat das noch nicht politisch durchgesetzt, weil man sich das nicht getraut hat. Es gab genauso hier in NRW im Landkreis Kleve die Überlegung, die ganzen Leute in eine ehemalige britische Kaserne umzusiedeln, weil es da angemessenen Wohnraum gibt, der auch noch gleichzeitig umzäunt ist. Da werden wir sicherlich hinkommen. Das SGB 2 sieht ja ausdrücklich vor, daß der Bundesminister für Arbeit und Soziales ermächtigt ist, die Kosten der Unterkunft pauschal festzulegen. Die Befürchtung besteht, daß er irgendwann von dieser Ermächtigung Gebrauch macht, dann ist es egal, ob die Menschen ihre Hütten bezahlen können oder nicht.

SB: Das Ganze ist ja auch vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung interessant. Wir befinden uns in einer Wirtschaftskrise, die in ihren Ausmaßen noch gar nicht ausgelotet ist. Vor diesem Hintergrund läßt sich die Forderung nach Wiedereingliederung in den normalen Arbeitsmarkt eigentlich gar nicht mehr aufstellen. Die Agenda 2010 wurde ja als Reform des Arbeitsmarkts vor dem Hintergrund aufgelegt, daß es einen Zuwachs an Arbeitsplätzen gibt. Das ist nun nicht mehr gegeben. Gibt es überhaupt irgendwelche politischen Reaktionen auf diese Veränderung? Man müßte als Politiker jetzt eigentlich erklären, wie man sich die Zukunft der Arbeitsmarktreform unter diesen Umständen vorstellt.

MB: Wenn wir uns die aktuelle politische Landschaft anschauen, dann kann man eigentlich nur noch staunen. Wenn unsere Bundeskanzlerin von der Verstaatlichung von Banken redet, dann heißt das auf der anderen Seite, daß die Politiker im Moment kopflos sind. Man hält zwar noch krampfhaft an diesem neoliberalen System fest, aber gleichzeitig merkt man, daß es einem aus der Hand gleitet. Wenn man die Zukunft verändern will, dann müßte man eigentlich zur Kenntnis nehmen, daß das neoliberale System, aber auch unsere soziale Marktwirtschaft - sie beruht ja eigentlich auf dem neoliberalen System - gescheitert ist.

Das konnte auch gar nicht aufgehen, das kann allenfalls funktionieren, wenn es einen geschlossenen Markt gibt, wie er jahrelang in der westlichen Welt existierte. Spätestens mit der Öffnung der Märkte und dem Eindringen anderer Länder konnte das ganze System nicht mehr funktionieren. Die Auswüchse wurden ja immer schlimmer. Erst die Finanzkrise, jetzt die Wirtschaftskrise. Ich bin nicht überzeugt davon, daß wir nur eine Million Arbeitslose bekommen werden und daß das Problem dieses Jahr bewältigt werden wird. Ich denke, wir werden mit der Wirtschaftskrise bestimmt vier, fünf Jahre ganz heftig zu tun haben.

SB: Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Entrechtung von Hartz-IV-Empfängern und die gegen sie eingesetzten Kontrollmethoden? Könnte man sagen, daß die unter dem Vorwand des Leistungsmißbrauchs durchgeführten Maßnahmen die darüber hinausgehende Funktion haben, die nicht mehr erwerbsfähige Bevölkerung generell einzuschüchtern und unter Kontrolle zu halten?

MB: Ich meine, bisher besteht noch keine Gefahr, daß man Erwerbslose kontrollieren muß, weil sie für den Staat gefährlich sind. Das weiß man seit Maggie Thatchers Zweidrittel-Gesellschaft, in der ein Drittel ruhig in Armut leben kann. Das wird nicht gefährlich. Erst wenn dieses eine Drittel zunimmt, dann kann es gefährlich werden. Ich denke, die ganzen Kontrollen dienen eher dazu, erst einmal zu marginalisieren, aber auch Menschen aus dem Leistungsbezug zu drängen. Und sie haben natürlich für Menschen, die noch Arbeit haben, eine ganz wichtige Funktion, weil man immer wieder Arbeitslose vorführen kann. Letztendlich geht es darum, Arbeitnehmer gegen Erwerbslose auszuspielen. Das bestimmt ja auch die politische Debatte, wenn Politiker davon sprechen, daß es jemandem, der arbeitet, besser gehen soll als jemandem, der nur staatliche Leistungen bekommt.

Man spielt die Menschen wirklich gegeneinander aus, selbst Familien, die sieben, acht Kinder haben, zieht man als Beispiel hervor, wie gestern bei Maischberger. Selbst Menschen, die sehr gut verdienen, werden, wenn sie sieben, acht Kinder haben, immer auf Sozialleistungen angewiesen sein, weil es einfach ein enorm hoher Kostenfaktor ist. Das ist einfach nicht zulässig. Wenn, dann sollte man Durchschnittsfamilien einladen. Die Kontrollen dienen einerseits dazu, Leistungen einzusparen, und haben auf der anderen Seite einen Vorführeffekt.

SB: Haben sie Weitergehendes zu dem von Ulla Jelpke bekanntgemachten Vorfall erfahren, daß Erwerbslose vom Verfassungsschutz angesprochen wurden, ob sie ihm als Informanten zuarbeiten oder dort sogar eine Karriere anstreben wollen? Dabei wurde ja überlegt, möglicherweise Leistungskürzungen gegen Menschen geltend zu machen, die darauf nicht eingehen wollten.

MB: Die Bundesagentur hat inzwischen dazu Stellung genommen und das zumindest soweit eingeschränkt, daß man die Arbeit für so wichtige Ministerien freiwillig machen sollte. Aber grundsätzlich funktioniert die Logik das Sozialgesetzbuches 2 so. Sollten Menschen eine derartige Stelle ablehnen, werden sie sanktioniert. So hat es im letzten Jahr eine Entscheidung des Landessozialgerichts NRW dazu gegeben, daß ein Fotograf eine Stelle in einem Rüstungsbetrieb nicht annehmen wollte, in dem er als Industriefotograf arbeiten sollte. Er mußte die Kürzungen hinnehmen. Man argumentierte damit, daß er ja nicht unmittelbar mit Krieg zu tun hätte, er würde ja nur Fotos machen. Ähnlich hatte die ARGE Dresden einmal argumentiert, die Arbeitslose zu Massenveranstaltungen der Bundeswehr eingeladen hatte, und die Menschen, die nicht hingegangen sind, wurden sanktioniert.

SB: Perfide.

MB: Es ist perfide. Es ist gut, daß solche Sachen immer relativ schnell öffentlich gemacht werden. Noch ist unsere Politik nicht so weit, daß sie einfach sagt: wir ziehen das jetzt durch.

SB: Besteht Ihr Engagement im Erwerbslosen Forum in erster Linie darin, Öffentlichkeit für solche Vorfälle zu schaffen? Handelt es sich um einen Diskussionsrahmen, oder bieten sie auch praktische Maßnahmen an?

MB: Als Erwerbslosen Forum machen wir natürlich sehr viel Öffentlichkeitsarbeit, aber wir möchten uns jetzt nicht anmaßen, daß wir die Öffentlichkeitsarbeit für alle Erwerbslosen machen. Das machen wir weiß Gott nicht, sondern wir machen sie für uns. Wir haben sicherlich einen großen Anteil an solchen Diskussionen, weil wir mittlerweile eine der größten Initiativen in Deutschland sind. Darin sehen wir eigentlich auch unsere Aufgabe, immer wieder den Finger in die Wunde zu legen, zur Diskussion anzuregen. Das ist der eine Teil des Erwerbslosen Forums, der andere Teil entspricht der Gründungsidee, Menschen Hilfen an die Hand zu geben, wie sie sich gegen dieses Unrecht ganz konkret wehren können. Darin besteht auch ein sehr großer Teil unserer Arbeit.

SB: Sind Sie konkret über Mitgliedschaft organisiert, oder ist es eher ein informeller Zusammenhalt?

MB: Man kann sagen, daß das Erwerbslosen Forum eher ein Netzwerk ist. Wir haben keine Mitgliedschaften oder ähnliches. Das widerstrebt uns auch ein wenig, weil wir schon möchten, daß Initiativen, die sich uns anschließen, ihre Identität behalten. Manchmal werden wir auch als Dienstleister für andere betrachtet.

SB: Um noch einmal darauf zurückzukommen: leisten Sie in dem Rahmen auch praktische Hilfe, indem Sie Erwerbslose zur ARGE begleiten oder in dem Sinne beraten?

MB: Wir machen beides. Wir begleiten Erwerbslose zur ARGE. In Köln kann das schon mal passieren, daß 40 Leute mit zu einem Sachbearbeiter gehen, da setzen wir regelmäßig immer am Monatsanfang, wenn die Menschen ohne Geld dastehen, mit anderen Gruppen zusammen Zahltage durch. Wenn wir dann mit genügend Menschen auftauchen, dann wird gezahlt. Aber das haben wir auch schwer erkämpfen müssen. Im letzten Jahr haben wir es geschafft, gegen drei Hundertschaften der Polizei zwei Tage lang die ARGE zu besetzen. Und seitdem läuft das einigermaßen. Wir machen das auch woanders. Mittlerweile haben sich in vielen Städten in Deutschland Gruppen gebildet, die Begleitung anbieten, das ist eine wichtige Sache.

Zum andern bieten wir auch konkrete Hilfe bei der Rechtsdurchsetzung an. Sei es Rechtsberatung, sei es, daß Menschen sich über das Internet an uns wenden. Wir haben ein sehr großes Internetforum, wo sehr viel ausgetauscht wird. Wir bieten da alles an Informationen an, was man brauchen kann, auch mit konkreten Hilfestellungen. Man hat schon oft versucht, uns wegen unerlaubter Rechtsberatung dranzubekommen, aber bisher ist das noch nie gelungen (lacht).

SB: Und von der Polizei hatten Sie keine weiteren Repressalien zu befürchten?

MB: Nein, die Polizei war damals anwesend, aber wir waren Gott sei Dank so geschickt und haben dafür gesorgt, daß das Fernsehen zugegen war. Ein Arbeitsloser wurde von der Polizei ziemlich rüde angefaßt, und das hatte das Fernsehen aufgenommen. Der Kommissar wollte dann doch nicht, daß in der Arbeitslosenagentur Arbeitslose verprügelt werden. Inzwischen ist keine Polizei mehr anwesend.

SB: Wie beurteilen Sie die Mobilisierungsfähigkeit von Erwerbslosen allgemein, ob sie nun auf eine Weise betroffen sind, wie Sie es beschrieben haben, oder auch darüber hinaus als politische Bewegung?

MB: Die Aktionen, die wir gemacht haben, klappen vor Ort, wenn man Erwerbslosen konkret hilft. Dann kann man sie mobilisieren. Sie politisch zu mobilisieren ist äußerst schwer. Nehmen wir nur das Beispiel, daß man eine Großdemo in Berlin plant. Dann scheitert das bei 90 Prozent der Erwerbslosen daran, daß sie schlicht kein Geld haben, dorthin zu gelangen. Zum andern müssen wir einfach sehen, daß nur ein Bruchteil der Arbeitslosen überhaupt über moderne Kommunikationsmittel verfügt. Die meisten haben kein Internet beziehungsweise können nicht damit umgehen. Oder sie sind, das muß man auch sagen, politisch nicht aktiv. Politisch aktiv werden die meisten erst, wenn sie selber Probleme haben, es wird ihnen geholfen und dann fangen sie an, sich zu wehren.

Es hat einen ganz einfachen Grund, warum das bei Arbeitslosen so ist: sie sind keine homogene Gruppe, sondern sie kommen aus unterschiedlichsten sozialen Bezügen. Arbeitslosigkeit bedeutet ja am Anfang erst einmal, daß es bloß nicht bekannt sein darf, daß man arbeitslos ist. Wenn man das verbergen will, dann geht man nicht mehr aus dem Haus, und die Menschen vereinsamen quasi. Es hat 2003, 2004 einen guten Aufschwung mit den Montagsdemos, den großen Anti-Hartz-Demos in Berlin gegeben. Es war ein Hoffnungsschimmer, wozu auch beigetragen hat, daß der DGB 2004 mit eingestiegen ist. Es hätte etwas werden können, aber nachdem der DGB wahrscheinlich von der SPD die Weisung erhalten hat, sich doch bitte nicht mehr daran zu beteiligen, war es vorbei. ATTAC ist ja merkwürdigerweise zeitgleich mit dem DGB ausgestiegen.

SB: Sie sprachen das Verhältnis zwischen Lohnarbeitern und Erwerbslosen an. Kann man generell sagen, daß die Gewerkschaften ziemlich einseitig orientiert sind?

MB: Ja, natürlich. Erwerbslose sind keine zahlenden Mitglieder, oder wenn sie zahlen, dann sind das nur ganz geringe Beiträge. Sie sind uninteressant. Mächtige Gewerkschaften wie die IG-Metall, die IG-Bergbau-Chemie und andere setzen regelmäßig die höchsten Lohnforderungen durch. Deswegen haben sie kein großes Interesse an den Erwerbslosen, das ist nicht ihre Klientel. Ihnen geht es einfach darum, hohe Lohnforderungen durchzusetzen. Das machte es auch innerhalb des DGB so schwer, daß überhaupt ein Mindestlohn zustande kam, weil eine IG-Metall Angst davor hat, daß ihre Löhne durch den Mindestlohn abgesenkt werden. Das muß man einfach vor diesem Hintergrund sehen. Ein anderer Hintergrund ist natürlich, daß sehr viele Funktionäre gerade auf der mittleren und der hohen Ebene SPD-Mitglieder sind.

SB: Könnte man im Rahmen dieses Konflikts sagen, daß die Erwerbslosen von heute dem Lumpenproletariat des 19. Jahrhunderts entsprechen? Dieses wurde ja von der linken Arbeiterschaft als politisch unzuverlässig erachtet.

MB: Ja, sie werden auch allenthalben immer wieder dazu gemacht. Wenn der ehemalige Parteivorsitzende der SPD Kurt Beck vom abgehängten Prekariat spricht, dann bedeutet das schon etwas. Bei der Linkspartei - da gibt es ja dieses berühmte Klaus-Ernst-Papier zur Mindestsicherung - merkt man auch, daß Langzeitarbeitslose für sie keine so große Rolle spielen. Wenn man auf Veranstaltungen der Linkspartei geht, dann stößt man vielleicht an der Basis, wo relativ viele Leute mit Hartz-IV-Bezügen sind, auf Interesse, aber sonst sind andere Themen wesentlich wichtiger.

SB: Die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen dieser Abschiebung in die Armut und letztendlich dauerhaften Ausgrenzung sind doch beträchtlich. Können Sie sich vorstellen, daß sich das Ganze zu einem größeren gesellschaftlichen Konflikt zwischen den Ausgegrenzten und dem Rest der Menschen entwickelt?

MB: Es wird sich dazu entwickeln. Wenn nicht in Deutschland, dann wird sich das zumindest in unseren europäischen Nachbarländern schneller entwickeln. Es mag an der deutschen Mentalität liegen, daß das nicht so schnell geht, aber dann wird der Funke überspringen. In Griechenland haben sich Jugendliche gewehrt, die besonders heftig unter der Arbeitslosigkeit leiden, die besonders verarmt sind. Es wird nicht lange dauern, dann wird das in Italien überschwappen und in Frankreich auch. Wenn wir uns zumindest junge Menschen in diesen Ländern angucken, dann geht es denen noch wesentlich schlechter als jungen Menschen bei uns. Das wird natürlich bei uns auch zunehmen, dann wird das Ganze überschwappen.

Eine Chance sehe ich wirklich nur darin, daß man sich zumindest in Europa grundlegende Gedanken macht. Es war zum Beispiel ein Fehler, die Sozialversicherung derart abzubauen. Ganz im Gegenteil - man hätte sie stärken müssen. Es spricht ja nichts dagegen, warum nicht Menschen 10 Jahre Arbeitslosengeld bei 90 Prozent der Bezüge bekommen können. Ich habe erfreulicherweise gestern noch ein sehr interessantes Beispiel gesehen: drei Krankenschwestern, die nach Schweden gegangen sind, sprachen davon, wie sie nach Beendigung des Arbeitsalltags entspannt nach Hause gingen, was sie in Deutschland seit Jahren nicht erlebt hätten. Wenn es ein Land wie Schweden gibt, in dem die Mentalität vorherrscht, daß jeder nur das leistet, was er kann, wo Pausen ganz wichtig sind und wo Menschen einfach abgesichert sind, dann zeigt das, daß es geht. In skandinavischen Ländern werden hohe Löhne gezahlt, es gibt eine sehr hohe soziale Absicherung, man hat die geringste Armutsquote, was will man eigentlich mehr? Es scheint zu gehen, wenn man fordert, die Sozialversicherung zu stärken, den öffentlichen Dienst zu stärken. Aus meiner Sicht wäre es eine grundlegende Forderung, daß die Arbeitslosen durch die Versicherung und nicht durch staatliche Fürsorgeleistungen abgedeckt werden.

SB: Könnte ein Konflikt darin bestehen, daß die BRD als wirtschaftsstarkes Land Einfluß geltend macht auf andere Länder, weil die Sozialbeiträge in der BRD kürzer gehalten werden als beispielsweise in Schweden oder in anderen Nachbarländern?

MB: Diesen Konflikt sehe ich nicht. Die BRD war zumindest, was die radikalen Kürzungen angeht, mit den Hartz-IV-Gesetzen relativ spät dran, da waren andere Länder schon weiter. Es ist einfach ein europäisches Problem, wobei die skandinavischen Länder sich von vornherein abgegrenzt haben, indem sie bei ihrem System geblieben sind. Von daher sehe ich nicht das Problem, daß die Bundesrepublik sich da besonders hervortun wird. Der Konflikt wird eher von der EU mit Entscheidungen geschürt, letztendlich alles, was bei uns noch sozial und vergesellschaftet ist, bis hinein in den Bildungsbereich zu privatisieren.

SB: Ich hätte noch eine Frage zu etwas spezielleren Thema der Bedarfsgemeinschaft. Wie beurteilen Sie die sozialen Auswirkungen dessen, daß Menschen auf ihre Beziehungen hin überprüft werden und auf die Art und Weise, wie sehr sie für den anderen einstehen. Wie beurteilen Sie das in Bezug auf die Solidarität unter Erwerbslosen?

MB: Also erst einmal zum Begriff der Bedarfsgemeinschaft: ich halte es schlichtweg für einen Rechtsbruch, was man da eingeführt hat. Man kann auf der einen Seite nicht eine Bedarfsgemeinschaft einführen und das Individualitätsprinzip verlassen, wenn man auf der anderen Seite den Bedarfsgemeinschaften nicht die gleichen Rechte einräumt wie verheirateten Menschen. Und sei es nur steuerrechtlich, sei es krankenversicherungsrechtlich. Das geht nicht. Die Bedarfsgemeinschaften sind natürlich ganz prima eingeführt worden, man spart damit enorme Kosten, das ist der einzige Grund. Man hat sich nicht getraut, so weit zu gehen, daß auch Verwandte noch mit einspringen müssen, aber das wird sicherlich der nächste Schritt sein, daß Verwandte, Großeltern, Onkel plötzlich auch dafür zuständig sind.

Das ist natürlich auch eine Sache, die dringend rückgängig gemacht werden muß, sonst werden wir in Zukunft unter Arbeitslosen immer mehr Menschen haben, die alleinstehend sind. Die meisten Langzeitarbeitslosen sind jetzt schon alleinstehend, denn wenn man solche Zwangsgemeinschaften schafft, dann macht das jede Beziehung kaputt. Man berücksichtigt natürlich auf der anderen Seite auch nicht, daß Menschen Lebensentwürfe haben. Wenn Menschen den Lebensentwurf haben, daß jeder für sich selber aufkommt, dann kann man nicht per Gesetz plötzlich zu einer Zwangsgemeinschaft gemacht werden.

SB: Man kann also durchaus sagen, daß Lebensformen wie Wohngemeinschaften oder darüber hinausgehende Gruppenbildungen dadurch völlig unmöglich gemacht werden?

MB: Sie werden unmöglich gemacht. Nehmen wir die seit 1. Januar geltende Wohngeldregelung: Menschen, die wohngeldberechtigt sind und in Wohngemeinschaften wohnen, machen einen regelrechten Spießrutenlaufen durch, bis sie ihre Ansprüche an Wohngeld durchsetzen können.

SB: Eine Frage noch zu dem "Überflüssigen". Gibt es diese Aktivisten inzwischen in mehreren Städten in Deutschland? Gehen die Aktionen sozusagen auf eine größere Idee zurück, an der mehr Leute teilhaben?

MB: Die Überflüssigen sind eigentlich eine Bewegung aus Frankreich, wo Arbeitslose damit in Erscheinung getreten sind, daß sie gezeigt haben: wir sind überflüssig, die Industrie hat uns überflüssig gemacht. Daraus haben sich Aktionen entwickelt, zu denen es auch in Deutschland in vielen Städten kommt. Das Merkmal der Überflüssigen besteht darin, sich nicht so zu organisieren, daß man sich untereinander kennt, daß jemand anders Einblick in die Strukturen hat, weil sie zum Teil Aktionen machen, die den Staatsschutz auf den Plan rufen könnten. Wenn man ihrer dann habhaft werden könnte, wäre es ein Leichtes, strafrechtliche Sachverhalte zu konstruieren.

Ich persönlich halte die Aktionen, die sie machen, für sehr gut, weil sie sehr gezielt auf etwas aufmerksam machen. Es dürfte ruhig etwas mehr sein. Wir müssen einfach einmal abwarten, ob sich etwas entwickelt. Es scheint sich auf jeden Fall zu zeigen - was ich jetzt nicht den Überflüssigen zuschreiben will -, daß es durchaus Menschen gibt, die sich gewisse Sachen nicht mehr gefallen lassen. In dieser Woche ist es im Main-Kinzig-Kreis, eigentlich die Vorführkommune für Hartz IV, wo Landrat Pipa schon vor Hartz IV etwas ähnliches mit der Sozialhilfe eingeführt hat und die sehr große sogenannte Arbeitsqualifizierungsbeschäftigungsgesellschaft in allen Bereichen mit Ein-Euro-Jobbern tätig ist, zu einer heftigen Zerstörung gekommen. Überall stand "1-Euro-Jobs abschaffen".

Ich würde so eine Form der Gewalt nicht gutheißen, aber wir müssen auf der anderen Seite sehen, es gibt tatsächlich wieder Menschen, die zu anderen Aktionsformen greifen. Und es kann durchaus sein, daß wir damit rechnen müssen, daß das öfter passieren wird.

SB: Darf ich Ihnen zum Abschluß noch eine persönliche Frage stellen: Was motiviert Sie, diese Arbeit zu machen, die Sie ja sicherlich recht umfassend anfordert?

MB: Also ich habe in den neunziger Jahren mit Arbeitslosen gearbeitet. Ich habe eigentlich auf der Seite gesessen, Menschen zu helfen, wieder in Arbeit zu kommen, in Qualifizierungsmaßnahmen - damals hieß das noch Arbeitsamt, das die Sachen zumindest bezahlt hat. Da ging es aber auch wirklich darum, zuerst festzustellen, was braucht ein Mensch, der arbeitslos ist, um wieder in Arbeit zu kommen. Und es ging nicht darum, wie kommt der am schnellsten wieder aus der Leistung raus. Damals dauerten die Qualifizierungsmaßnahmen lange, da träumen die Menschen heute von. Ich habe zum Beispiel Menschen in Qualitätssicherung ausgebildet, das waren Maßnahmen, die gingen zwölf Monate, die dauern heute vier Tage, Punkt.

Damals hat Johannes Gerster das Arbeitsamt übernommen und fing mit dem Arbeitsamt 2000 an. Dann gab es das Job-AQTIV-Gesetz, da habe ich mich aus dieser Arbeit zurückgezogen. Ich bin Sozialarbeiter von Beruf, ich habe, was unseren Sozialstaat angeht, anderes kennengelernt. Mit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze war für mich klar, da etwas zu tun. Ich war am Anfang selbst von Hartz IV betroffen. Das heißt, ich bin es eigentlich immer noch, ich beziehe ergänzende Hartz-IV-Leistungen, weil das Gehalt einfach nicht reicht. Aber der Hauptantrieb ist für mich ganz einfach, ich will so eine Entwicklung unseres Staates nicht.

SB: Hat sich der Zusammenschluß im Erwerbslosen Forum aus dieser Arbeit ergeben, oder wie haben Sie sich assoziiert?

MB: Wir waren damals zehn Menschen. Wir kannten uns mit Sozialrecht ganz gut aus und wir haben damals gesagt: wir müssen den Menschen etwas an die Hand geben. Kein Rechtsanwalt war damals schon so weit mit diesen Gesetzen. Die haben da ja alle erst 2005 angefangen, wir hatten uns schon 2004 damit beschäftigt. Wir haben dann 2005 im Zuge der Clement-Debatte, als er Arbeitslosen parasitäres Verhalten vorgeworfen hat, unser Feld in Form von Öffentlichkeitsarbeit erweitert. Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß es nicht reicht, etwas im Internet zu machen, sondern wir müssen konkret wieder etwas vor Ort machen, auf die Straße gehen und den Menschen helfen, sich dagegen zu wehren, darauf aufmerksam zu machen. So ist das Erwerbslosen Forum eigentlich entstanden.

SB: Arbeiten Sie immer noch in dieser Konstellation zusammen?

MB: Einige sind nicht mehr dabei. Das liegt in der Natur der Sache, es sind aber viele Neue dazugekommen. Das Ganze hat sich inzwischen sehr viel mehr professionalisiert, als es am Anfang war. Wir haben inzwischen wesentlich mehr Erfahrung als am Anfang.

SB: Gibt es regelmäßige Treffen, bei denen man sich auch mit Personen aus anderen Städten im Erwerbslosen Forum austauscht?

MB: Wir treffen uns schon regelmäßig in Abständen, auch immer wieder in anderen Zusammenhängen. Das Erwerbslosen Forum steht ja nicht ganz allein dar. Wir sind auch in viele andere Organisationen eingebunden, also trifft man sich immer wieder, etwa um Strategien abzusprechen. Dabei soll jeder Eigenständigkeit haben.

SB: Glauben Sie persönlich, daß die Maßnahmen, von denen sie vorhin meinten, daß sie vor der nächsten Bundestagswahl vom Tisch sein müßten, wirklich abgeschafft werden?

MB: Wir sind nicht so ganz unoptimistisch. Wir haben ja eine Bündnisplattform damals aufgebaut und haben inzwischen zahlreiche Unterstützer. Ich kann ein paar prominente Namen nennen: da ist zum Beispiel Professor Hickel oder Friedrich Hengsbach. Daß die Bundesregierung im Zuge des Konjunkturpaketes zumindest den Sieben- bis Dreizehnjährigen eine Erhöhung des Regelsatzes auf 70 Prozent zugesteht, ist sicherlich auch auf den Druck dieser Bündnisplattform zurückzuführen. Jetzt gilt es einfach, diesen Druck auszubauen. Wir hoffen, daß wir demnächst einen sehr, sehr prominenten Schirmherrn bekommen, über den Bundesregierung nicht so ohne weiteres hinweggehen kann. Namen kann ich im Moment leider noch nicht nennen, aber es bahnt sich etwas an.

SB: Herr Behrsing, vielen Dank, daß Sie sich die Zeit für dieses ausführliche Interview genommen haben.

Die 'PAUKE' in Bonn - © 2009 by Schattenblick


11. Februar 2009