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INTERVIEW/059: Telefoninterview mit Prof. Dr. Werner Ruf (SB)


Telefoninterview mit Prof. Dr. Werner Ruf am 22. November 2010


Prof. Dr. Werner Ruf ist auf dem Gebiet der Friedens- und Konfliktforschung tätig. Bis 2003 hat er an der Universität Kassel Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik gelehrt. Herr Ruf war für den Bundesausschuss Friedensratschlag am Gegengipfel der internationalen Friedensbewegung zum Gipfeltreffen der NATO-Mitgliedstaaten beteiligt.

Prof. Dr. Werner Ruf - ©  2008 Tanja Hochreuther

Prof. Dr. Werner Ruf
© 2008 Tanja Hochreuther
Schattenblick: Herr Ruf, Sie waren in Lissabon und haben am Gegengipfel der internationalen Friedensbewegung zum NATO-Gipfel teilgenommen. Wie war Ihr Eindruck von den Aktivitäten dort?

Werner Ruf: Das war schon ganz gut, obwohl es natürlich darunter gelitten hat, daß einige Leute nicht einreisen durften, weil die Portugiesen zu dieser spannenden Gelegenheit erst einmal das Schengen-Abkommen außer Kraft gesetzt haben. Aber ansonsten war es schon eine gute Sache, weil quasi alle Repräsentanten der einzelnen europäischen Friedensbewegungen anwesend waren.

SB: Wie viele Kriegsgegner haben den Gegengipfel besucht?

WR: Ich würde die Zahl der Anwesenden auf 140 bis 160 schätzen. Man muß natürlich sehen, daß die Leute das alles aus eigener Tasche bezahlen müssen. Es gibt nicht viel organisatorischen oder finanziellen Rückhalt, so daß es vor allem ein Treffen derer war, die sich in Europa gegen die NATO vernetzen.

SB: Das neue strategische Konzept der NATO wurde ja erst zum Gipfeltreffen öffentlich gemacht. Zuvor konnte man es eigentlich gar nicht richtig besprechen, weil es nur einem auserwählten Personenkreis zur Verfügung gestellt wurde.

WR: Das ist richtig. So hatte sich die Bundesregierung geweigert, dieses als geheim eingestufte Papier den Abgeordneten des Deutschen Bundestages vorab zur Verfügung zu stellen. Erst auf einen interfraktionellen Protest hin durften die Angehörigen des Verteidigungs- und Auswärtigen Ausschusses das Dokument in der Geheimschutzstelle des Bundestages einsehen. Das ist natürlich, wenn man sich als Bündnis zur Verteidigung der Demokratie versteht, schon eine pikante Note.

SB: In der Bundesrepublik wird ja durchaus die Forderung erhoben, über den ursprünglichen Beitritt der BRD zum Nordatlantikpakt neu abzustimmen, da er sich ja inhaltlich verändert hat.

WR: Das ist ein Punkt. Zum andern könnte man durchaus die Möglichkeit in die Debatte einbringen, daß der Austritt aus dem Bündnis nach Artikel 13 des Nordatlantikvertrags möglich ist. Es genügt ein Brief nach Washington, und dann wäre das binnen Jahresfrist wirksam. Das wäre natürlich eine härtere Gangart, doch das sollte man tun. Diese NATO ist ja kein Verteidigungsbündnis, das sich auf das Bündnisgebiet, also die Territorien der Mitgliedsländer, beschränkt, sondern beansprucht, weltweit als Polizist tätig zu werden. Das ist nicht erst seit diesem Gipfel klar, sondern war schon in Strasbourg klar und hat sich in der Praxis spätestens seit dem Jugoslawienkrieg erwiesen. Das ist eine völlig neue Qualität, das hat nichts mehr mit dem alten Bündnis zu tun.

Auch hat die Beschwörung von Bedrohungen aller Art, die in Lissabon noch einmal offiziell gemacht worden ist, nur noch in Grenzen etwas mit Verteidigung zu tun. Wenn die NATO zuständig wird für Cyber-Attacken, für internationalen Terrorismus, für Migrationsbewegungen und dergleichen mehr, dann muß man sich erstens fragen, ob das Aufgaben eines Militärbündnisses oder überhaupt polizeiliche Aufgaben sind. Zweitens halte ich daran für besonders gefährlich, daß im Grunde genommen alles, was in der Welt passiert, ökonomisch, ökologisch, sozial, wie man auf politologisch sagt, versicherheitlicht wird. So wird alles zum Gegenstand militärischer Konfliktbearbeitung, worauf man sich dann wie auf der Speisekarte aussuchen kann, welches Feld man gerade betreten will. Dahinter steht natürlich nicht die Absicht, irgendwelche Konflikte zu lösen, was man mit Militär auch gar nicht kann, sondern die Absicht, für alles und jedes mit militärischen Lösungen geostrategische Interessen durchzusetzen, um es einmal auf den Punkt zu bringen.

SB: An dem neuen strategischen Konzept der NATO fällt auf, daß unter dem Titel "Krisenmanagement" die zivilmilitärische Zusammenarbeit in einem Ausmaß betont wird, wie es in den bisherigen strategischen Entwürfen der NATO nicht der Fall war.

WR: Die zivilmilitärische Zusammenarbeit ist schon seit längerem festgelegt worden. Was das konkret bedeutet, sehen wir an Afghanistan, wo eine ganze Reihe von NGOs, die sich nicht in den Dienst des Militärs nehmen lassen wollen, ihre Arbeit beendet haben. Letztlich entscheiden die Militärs, was an ziviler Aufbauarbeit geleistet werden soll, und das wird dann unter den Schirm der NATO gestellt.

SB: Das neue strategische Konzept enthält keinen Hinweis darauf, daß Kriegseinsätze zuvor durch den UN-Sicherheitsrat mandatiert werden müssen.

WR: Die NATO hat im selben Papier erklärt, daß sie auf dem Boden der UN-Charta agiert. Das kann sie offensichtlich tun, ohne sich noch ein Mandat einzuholen. Das ist erstens eine Ungeheuerlichkeit und zweitens natürlich ein Türöffner für Militärinterventionen allenthalben. Wenn man die sogenannten neuen Risiken und Gefahren einbezieht, dann ist die NATO planetarisch zuständig für alles, was in ihrem Interesse liegt.

SB: Das Verhältnis zwischen USA und EU wird in der neuen NATO-Strategie besonders hervorgehoben, so daß man den Eindruck erhalten könnte, daß die EU fast zu einem Instrument der NATO werden soll?

WR: Das sehe ich nicht ganz so. Daß die Kooperation jetzt so weit gediehen ist, hat meiner Ansicht nach zwei Seiten. Zum einen ist die EU sicherlich der schwächere Partner. Es scheint mir ganz klar zu sein, daß die USA versuchen wollen, die EU zu instrumentalisieren bzw. vor ihren Karren zu spannen. Dahinter steht natürlich die spannende Frage, ob die USA inzwischen so weit sind, daß sie um ihren hegemonialen Status fürchten müssen und deswegen mit einem anderen, leider Gottes auch militärischen, Partner wie der EU Kooperation gegen den dritten aufsteigenden Großmachtkomplex - China und das, was um China herum mit der Schanghaier Organisation zur Zusammenarbeit zusammenhängt - suchen. Das sind schon gefährliche Entwicklungen. Auf der anderen Seite gibt es offensichtlich in der NATO, so wie sie sich bisher verstanden hat, eine Krise. Wenn man unterm Strich zusammenzählt, was in der strategischen Planung jetzt drinsteht, dann ist es eigentlich nichts Neues. Das sind die Dinge, die schon lange laufen, das sind die Dinge, die schon lange mal da oder dort so erklärt und jetzt nur systematisiert zusammengefaßt worden sind.

SB: Die USA sind in den Irakkrieg mit einer "Coalition of the willing" gezogen und haben die NATO nicht in Anspruch genommen, weil sie diesen Krieg sonst möglicherweise nicht so hätten führen können ...

WR: Und weil sich eben zwei verweigert haben, Frankreich und Deutschland.

SB: Wenn man im neuen strategischen Konzept liest, wie wichtig der Lissabon-Vertrag für die NATO ist, und man die zivilmilitärische Zusammenarbeit in diesem Kontext betrachtet, stellt sich die Frage, ob die USA tatsächlich in größerem Ausmaß Wert auf die zivilen und administrativen Fähigkeiten der Europäischen Union oder der EU-Staaten legen, um sie im Rahmen ihrer geostrategischen Pläne einzusetzen?

WR: Das tun sie zweifellos, aber sie legen offensichtlich auch Wert auf die militärischen Fähigkeiten der EU. Das ist neu und läßt auch das Berlin-Plus-Abkommen in einem ganz anderen Licht erscheinen. Bisher war Berlin Plus eine recht komische Konstruktion, da die EU Einrichtungen der NATO nutzen konnte, aber das letzte Wort darüber bei der NATO lag. Unter Ziffer 32 des strategischen Konzepts der NATO wird nun zum ersten Mal deutlich gesagt, daß "eine aktive und effektive Europäische Union zur Sicherheit überall im euroatlantischen Raum beiträgt. Deshalb ist die EU ein einzigartiger und wesentlicher Partner für die NATO"! Ein Partner also schon fast auf der Ebene der Ebenbürtigkeit.

SB: Findet da vielleicht sogar etwas wie eine europäische Integration von außen, nämlich durch die USA, statt? Könnte es durch den Anspruch der USA, die EU stärker zu nutzen, zu einer tieferen europäischen Integration im Sicherheitsbereich oder im militärischen Bereich kommen?

WR: Ich denke, die wäre sowieso gekommen, nur ist dieser Zungenschlag, den ich gerade benannt habe, neu. Bisher war auch von großen Teilen des Sicherheitsestablishments in den USA immer der Punkt vorgeschoben worden, "wir müssen der Hegemon bleiben, die dürfen ein bißchen, wenn sie wollen". Jetzt rückt die EU doch in einen partnerschaftlichen Status, in dem sie ernst genommen wird und ihr, so glaube ich, die militärische Integration nicht von außen aufgedrängt wird. Die EU hat jetzt viel mehr freien Raum, sich selbst als Militärmacht weiterzuentwickeln. Das ist natürlich eine gefährliche Sache, weil man, wenn man sich die europäische Sicherheitsstrategie von 2003 durchliest, dort fast die gleiche, teilweise wortwörtliche Sprachregelung vorfindet wie in diesem Dokument, wenn es darum geht, äußere Krisen zu bewältigen, bevor sie Einfluß auf uns nehmen, bevor sie außer Kontrolle geraten. Dabei fällt auch zweimal das Wort, daß dafür auch präventives Eingreifen notwendig sei. Das ist die EU selbst gewesen, das waren nicht die USA, die diese Papiere verabschiedet haben.

SB: Seit dem Rücktritt von Horst Köhler wegen seiner Äußerung zu wirtschaftlichen Belangen der Kriegsführung hat sich ja im Grunde genommen eine Art neue Offenheit in diese Richtung entwickelt?

WR: Ja, wobei ich immer noch nicht verstanden habe, warum der gute Horst Köhler deswegen zurückgetreten ist. Er hat ja nur gesagt, was schon seit November 1992 in den sicherheitspolitischen Richtlinien steht, was ähnlich im Verteidigungsweißbuch von 2006 anklingt und was Herr Guttenberg jetzt noch einmal ganz deutlich unterstrichen hat. Das ist ja nichts Neues gewesen, das ist die alte Geschichte. Auch da ist es spannend zu sehen, daß dieser Anspruch der EU oder auch einzelner Staaten der EU, ihre Rohstoffzuflüsse und so weiter militärisch abzusichern, schon auch mit den Interessen der USA und der NATO im Ganzen konfligieren kann.

SB: In der Studie "Peak Oil" des Zentrums für Transformationsforschung der Bundeswehr wurde die Dringlichkeit der Rohstoffversorgung inklusive der Möglichkeit, daß die demokratische Verfaßtheit der Gesellschaft durch soziale Verwerfungen letztlich generell in Frage zu stellen sein könnte, in großer Offenheit ausgesprochen. Wie beurteilen Sie solche Entwicklungen im konzeptionellen Apparat der Sicherheitsexperten?

WR: Das ist eigentlich der Konsens aller Sicherheitsexperten. Die Frage ist, mit welchen Bündnissen oder mit welchen Alleingängen das letztendlich durchgesetzt werden wird. Ich bin fest davon überzeugt, daß die Bundeswehr oder die Bundesrepublik alleine so schnell keinen militärischen Alleingang machen wird, aber man hält schon einmal den Anspruch vor. Das ist ein ganz, ganz entscheidender Punkt und eine ganz neue Qualität. Da wird nicht mehr das Grundgesetz befragt oder dem Grundgesetz entsprechend gehandelt, da erhebt man nach 60 Jahren endlich den Anspruch, voll souverän zu sein und mitspielen zu können, das halte ich für eine ungeheuer gefährliche Entwicklung.

SB: Es gibt durchaus ein Interesse Israels, sich in der NATO zumindestens formal zu integrieren. So existieren bereits Formen der vorgeordneten Partnerschaft ...

WR: ... und gewaltige Waffenlieferungen und so weiter.

SB: Gibt es Ihrer Ansicht nach reale Chancen, daß Israel eines Tages in die NATO aufgenommen wird, oder glauben Sie, daß die Widersprüche zu groß sind?

WR: Ich denke, daß es dafür starke Fürsprecher geben dürfte insbesondere in den USA und der Bundesrepublik. Es wäre natürlich fatal, wenn sich die NATO in diese Krisen mithineinwickeln ließe. Man denke nur an die 2000 Kilometer betragende strategische Reichweite der atomwaffenfähigen U-Boote, die die Bundesrepublik an Israel geliefert hat. Was man sich da selbst an Krisenpotential zusammenkocht, das ist mir, wenn man denkt, Politik folge rationalen Kriterien, ziemlich unverständlich.

SB: So ist die Bundesrepublik aufgrund dessen, daß sie im sogenannten Atomstreit mit dem Iran mit den fünf Vetomächten des UN-Sicherheitsrats quasi gleichberechtigt ist, bereits in einem sehr gefährlichen Konflikt engagiert. Wie sehen Sie die Chancen dafür, daß das noch friedlich beigelegt wird, oder fürchten Sie tatsächlich das Schlimmste?

WR: Ich weiß nicht, was ich an diesem Punkt sagen soll. Es deutet vieles, vieles darauf hin, andererseits kann man nur hoffen, daß das nicht wahr sein darf. Ich sehe nicht, daß der Iran mit irgendwelchen Atombomben oder Raketen als Antwort Israel angreifen könnte, aber der Iran kann natürlich ungeheuer viel Schaden anrichten. Denken Sie nur daran, was es heißen würde, die Straße von Hormuz zu sperren, was sie ja auf jeden Fall hinbekommen. Und es hieße natürlich, Krieg gegen ein weiteres islamisches Land zu führen. Wenn wir den Nahen Osten in ein Flammenmeer verwandeln wollen, dann ist es genau das, was zu tun ist. Andererseits hat die Bundesrepublik bei ihrem Streben nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat mit der Regelung "die fünf ständigen Mitglieder plus Deutschland" - warum eigentlich, fragt man sich - schon einen Fuß in die Tür gebracht. Da geht es natürlich auch um Prestigedenken, um nationales Machtstreben. Wenn man den Sicherheitsrat dann braucht, um sich ein Mandat zu beschaffen, dann ist es schon besser, ihm selbst anzugehören.

SB: Sehen Sie angesichts der angeblichen Bedrohung durch den sogenannten islamistischen Terrorismus auch einen Zusammenhang zu außenpolitischen Belangen, oder ist das Ihrer Ansicht nach ein ausschließlich innenpolitisches Problem?

MR: Mit Sicherheit nicht. Wenn wir eine offensive sogenannte Sicherheitspolitik betreiben wollen, dann brauchen wir einen Feind, und der ist uns 1990/1991 abhanden gekommen. Es ist für mich wirklich kein Zufall, daß dieser unsägliche Artikel Samuel Huntingtons 1993 in Foreign Affairs "The Clash of Civilisations" eine solche Publizität gefunden hat, daß seitdem auch der Islam mit Terror assoziiert und als der große Feind aufgebaut wird. Das nutzt innenpolitisch, wenn man die Gesellschaft spalten und populistisch einen Konsens herstellen will, und es ist außenpolitisch ein Programm. Ob da ein Zusammenhang besteht oder nicht, das sollten Sie nicht mich fragen, da müssen Sie vielleicht in der Nähe von München anrufen.

SB: Im Fall der gegen den Iran gerichteten Kriegsgefahr, die maßgeblich von den USA und Israel ausgeht, scheint die Friedensbewegung nicht frei von dem Problem zu sein, sich hier eindeutig zu positionieren.

WR: Das Problem ist vorhanden. Es gibt natürlich, wie Sie wissen, auch in der Linken einige Spurenelemente von Leuten, die um jeden Preis und bedingungslos hinter Israel stehen bis dahin, daß sie mit einem antimuslimischen Rassismus zur rechten Tür wieder herauskommen. Das Problem besteht für mich darin, daß dies politisch eine absolute Katastrophe wäre. Warum versucht man nicht - durchaus im Interesse Israels -, eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten zu schaffen? Man könnte tatsächlich darauf drängen, daß gesprochen wird, daß man auch über die Atomwaffen, die die einen haben und die anderen noch nicht haben, redet! Das wäre eine Möglichkeit, einer friedlichen Lösung ein stückweit näher zu kommen. Aber genau das wird ausgeschlagen. Da, so denke ich, verknüpfen sich politische Solidaritäten und behauptete Loyalitätspflichten eben auch mit Rohstoffinteressen.

SB: Wie sehen sie die Perspektiven des Antimilitarismus im größeren gesellschaftlichen Zusammenhang? Es fällt ja auf, daß - Stichwort Stuttgart S21 und Endlager Gorleben - bestimmte regionale Entwicklungen große Aufmerksamkeit auf sich ziehen, während soziale Fragen wesentlich weniger über Proteste artikuliert werden und die Frage von Krieg und Frieden erst recht ins Hintertreffen zu geraten scheint.

WR: Das kann man so sehen. Andererseits ist die übergroße Mehrheit der Bevölkerung schon seit Jahren gegen diesen Krieg in Afghanistan. Wenn immer mehr Verletzte und Zinksärge zurückkommen, was niemand wünschen kann, dann glaube ich schon, daß die Sensibilisierung der Bevölkerung zunehmen wird. Natürlich weiß man angesichts der Abschaffung der Wehrpflicht nicht, inwiefern das Thema des Krieges egal sein kann, wenn ihr Sohn nicht mehr eingezogen wird. Andererseits sehe ich den Zusammenhang zwischen der sozialen Frage und der Rekrutierung der Bundeswehr. Weit über die Hälfte der Langzeitsoldaten und der Berufssoldaten sind Leute aus den neuen Bundesländern. Da kann schon etwas kommen. Man muß auch, denke ich, von der Friedensbewegung her daran arbeiten, daß der Zusammenhang zwischen sozialer Perspektivlosigkeit und einer Bundeswehr, die weitere Kriege führt, erkannt wird. Der Zusammenhang besteht bestimmt, aber da ist viel Aufklärungsarbeit nötig.

SB: Mit der Abschaffung der Wehrpflicht wird ja sogar eine Forderung der Friedensbewegung erfüllt. Wie beurteilen Sie die Reduzierung bestimmter Bereiche der Bundeswehr aus finanztechnischen Gründen und das gleichzeitige Interesse daran, global mitzumischen?

WR: Da gibt es schöne Papiere wie das der Weise-Kommission oder einen relativ jungen Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr, an dem auch wieder die Sprachregelung interessant ist. Das eine Papier heißt "Vom Einsatz her denken", in dem anderen Papier geht man auch nur vom "Einsatz" aus. Alles, was man uns über humanitäre Interventionen und so weiter erzählt hat, scheint ausgedient zu haben. Als glaube man, daß es sich etabliert habe, daß die Bundeswehr weltweit in den Einsatz kommt, muß man nun vom Einsatz her denken. Die Sparmaßnahmen treffen im Grunde genommen nur überflüssige Anhängsel der Bundeswehr, die noch aus der allgemeinen Wehrpflicht heraus resultieren. Derzeit sind etwa 7000 Soldaten "einsatzfähig", wie das so schön heißt, und man will diese Zahl auf über 10.000 steigern. Dem entspricht die strategische Planung, zwei Interventionen gleichzeitig betreiben zu können. Das ist eine völlig neue Qualität auch in der Struktur der Bundeswehr.

SB: Herr Ruf, ich bedanke mich für das Gespräch.

25. November 2010