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INTERVIEW/061: Thomas Gebauer, medico international, zur Lage in Haiti (SB)


Interview mit Thomas Gebauer von medico international am 10. Dezember 2010


Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen in Haiti werden von erheblichen Teilen der Bevölkerung wie auch nationalen und internationalen Beobachtern in Zweifel gezogen. Der Verdacht, es lägen massive Manipulationen seitens des Regierungslagers um Präsident René Préval zugunsten seines Schwiegersohns und Wunschnachfolgers Jude Célestin vor, hat zu zahlreichen Protestaktionen und dem Ausbruch von Unruhen im Land geführt, in deren Verlauf mehrere Menschen getötet und viele weitere verletzt wurden. Diese Umstände brachten es mit sich, daß das Nothilfeteam von medico international auf dem Flughafen der Hauptstadt Port-au-Prince festsaß. Der Schattenblick hatte Gelegenheit, am 10. Dezember 2010 ein Telefoninterview mit dem Geschäftsführer von medico international, Thomas Gebauer, zu führen, der aus Port-au-Prince über die aktuelle Situation und deren Hintergründe berichtete.

Thomas Gebauer - © 2010 by Schattenblick

Thomas Gebauer
© 2010 by Schattenblick
Schattenblick: Wie hat sich die Lage in Port-au-Prince in den letzten Stunden entwickelt?

Thomas Gebauer: In den letzten Tagen ist die Lage nach wie vor gespannt und unklar. Was in den letzten Stunden geschehen ist, weiß ich nicht, da die Situation weiterhin unüberschaubar ist. Es sind noch immer Barrikaden und brennende Reifen auf den Straßen, soweit wir das sehen können. Unter den Menschen herrscht nach wie vor große Unsicherheit, ob sie überhaupt losfahren können, ob sie ihre Arbeit aufnehmen können. Die meisten bleiben zu Hause, so daß das Leben hier weitgehend lahmgelegt ist.

SB: Es wurde ja inzwischen zugesagt, daß das Wahlergebnis nachgezählt wird. Kann man unter diesen Umständen ein legitimes Ergebnis erwarten?

TG: Alle gehen davon aus, daß es ohne eine politische Erklärung der Wahlkommission keine Beruhigung im Land geben wird. Die Leute sind wegen des Wahlbetruges empört, weil der Kandidat des Regierungslagers, Célestin, plötzlich an zweiter Stelle auftaucht. Niemand kann verstehen, daß der Sänger Michel Martelly, der viel Unterstützung in der Bevölkerung hatte, auf einmal der drittplazierte Kandidat sein soll, der damit nicht für die Stichwahl zugelassen ist.

SB: Die Kandidaten der Opposition haben frühzeitig zum Protest aufgerufen, dem offenbar auch sehr viele Menschen gefolgt sind. Sie haben auch die Annullierung der Wahlen gefordert. Es bleibt deshalb fraglich, ob eine Stimmneuauszählung von so viel gefälschten Stimmen, die Lage beruhigen wird. Droht denn die Lage außer Kontrolle zu geraten?

TG: Die weitere Entwicklung hängt vor allem davon ab, zu welchem Ergebnis die Verhandlungen kommen, die hinter den Kulissen stattfinden und bei denen die UN, die US-Amerikaner und die lateinamerikanischen Länder Druck auf das Regierungslager ausüben.

SB: Die Lavalas wurde erneut von der Wahl ausgeschlossen. Kann es denn überhaupt legitime Wahlen geben, wenn ein erheblicher Teil der Wählerschaft nicht repräsentiert wird?

TG: Diese Frage bewegt hier viele Menschen. Meiner Ansicht nach kann man keine legitime Wahl durchführen, wenn man die stärkste Kraft des Landes von den Wahlen ausschließt. Man kann zu der Lavalas-Bewegung von Aristide stehen wie man will, sie von den Wahlen auszuschließen, delegitimiert den ganzen Prozess,.

SB: In Hinblick auf die Wahlen hat unter anderem die US-Botschaft frühzeitig davor gewarnt, daß das Ergebnis möglicherweise nicht in Ordnung sei, und der Bevölkerung zugesagt, eine Korrektur vorzunehmen. Welche Interessen verfolgen die beteiligten Akteure wie zum Beispiel die USA oder die UN in Hinblick auf die Wahl? Was wollen sie auf diesem Weg erreichen?

TG: Die Kräfte, die von außen auf Haiti wirken, sind kein monolithischer Block. Die dominierenden Kräfte der USA und der UN haben schon ein Interesse daran, daß so etwas wie ein demokratisches System geschaffen wird. Ich halte es jedoch für grundsätzlich problematisch, in solchen Situationen Wahlen durchzuführen, bei denen nicht klar ist, was diese am Ende für ein Ergebnis zeitigen sollen. Es geht ja nicht nur um die Wahlergebnisse als solche, sondern vielmehr darum, daß wirklich leistungsfähige Regierungsstrukturen oder Regierungsapparate entstehen müssen. Hier gibt es eine fragile Staatlichkeit, die sich um die Bedürfnisse der Menschen nicht schert. Das sieht man beispielsweise im Umgang mit der Cholera. Wenn an der Regierungsspitze lediglich ein "changing of the guards" stattfindet, bei dem eine neue Person an die Spitze gesetzt wird, ohne daß sich an dem strukturellen Problem etwas ändert, dann hängt man einem untauglichen System noch ein demokratisches Mäntelchen um. Das ist meiner Ansicht nach der eigentlichen Grund des Protests der Bevölkerung. .

SB: Es gibt Stimmen, denen zufolge Haiti eigentlich kein funktionsfähiger Staat mehr ist, sondern eher ein Protektorat. Wie sehen Sie das und was steckt hinter dieser Entwicklung?

TG: Es deutet vieles darauf hin, daß sich in Haiti in den letzten Jahren ein Protektorat unter Führung der UN, unter der Führung von bestimmten Ländern aus Nordamerika - Kanada ist auch aktiv - entwickelt hat und die Souveränität des Landes sehr stark eingeschränkt ist. Es gibt aber auch andere Länder im lateinamerikanischen Kontext, die genau das aufrufen und sagen, hier muß die staatliche Souveränität wiederhergestellt werden. Wenn schon Protektorat, dann nicht eines, das im Interesse der Interventionsmächte fungiert, sondern eines, das im Interesse der Menschen und der Bevölkerung vor Ort etwas verändert. Man kann sich ja auch ein Protektorat auf ganz andere Weise vorstellen, nämlich eines, das eine soziale Entwicklung im Lande zuläßt und fördert, statt sie immer wieder zu behindern, wie es in den letzten Jahrzehnten in Haiti der Fall gewesen ist.

SB: Nun ist ja Brasilien an der MINUSTAH stark beteiligt. Es gab Fälle, in denen diese UN-Truppe gegen die Bevölkerung vorgegangen ist, wobei auch Todesopfer zu beklagen waren. Welche Rolle spielt eigentlich diese Schutztruppe?

TG: Die Minustah versucht für Sicherheit zu sorgen. Sie patrouilliert durch die Straßen. Die Stimmung gegenüber den UN ist seit dem Ausbruch der Cholera noch einmal schlechter geworden, da sich der Verdacht bislang nicht aus der Welt schaffen ließ, daß die Krankheit durch UN-Soldaten eingeschleppt worden ist. Zudem hat die UN in den letzten Jahren mit dazu beigetragen, daß dominante Interessen der USA zum Tragen gekommen sind, und kein nationaler Aufbau im Sinne einer sozialen Entwicklung in Gang gesetzt worden ist. Insofern ist die Rolle der UN tatsächlich durchaus fragwürdig, wobei es aber auch innerhalb der UN Kräfte gibt, die andere Konzepte vertreten.

SB: Sie hatten ja schon die Rolle der USA angesprochen, die als Hegemonialmacht großen Einfluß haben. Was glauben Sie, welche Rolle die USA für Haiti in der Zukunft vorsehen?

TG:. Es gibt viele Menschen, die darauf hoffen, dass Haiti näher an die anderen lateinamerikansichen Staaten rückt und die Rolle der USA zurückgedrängt wird.

SB: Was würden Sie denn aus Ihrer Sicht der Bundesregierung in der Haltung zu Haiti empfehlen?

TG: Sie sollte deutlich machen, daß diese Art von Wahlen nichts bringt. Sie sollte deutlich machen, daß es einer Staatlichkeit mit Ministerien bedarf, die eine klare Funktion, eine klare Aufgabe haben. Und sie sollte das in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Organisationen tun, denn wenn das nicht stattfindet, kann den unmittelbaren Bedürfnissen der Menschen nicht entsprochen werden.

SB: Es gibt offenbar starke Differenzen zwischen der Regierung Haitis und den NGOs. Wie sehen Sie das?

TG: Ja, da gibt es überhaupt keine richtige Beziehung. Die arbeiten nebeneinander her. So wie ich es begreife, gibt es hier eine Staatlichkeit, die nicht in der Lage ist, den Interessen der Menschen zu entsprechen, die nicht leistungsfähig ist, aber dennoch diese Eigenschaften für sich reklamiert. Demgegenüber gibt es die Arbeit an der Basis, die wesentlich von NGOs getragen wird. Das ist eine irrsinnige Situation und solange das so bleibt, solange nicht durch dieses Vakuum zwischen Staatlichkeit und zivilgesellschaftlicher Tätigkeit wieder eine Verbindung eingezogen wird, herrschen Konkurrenz und Konflikt vor.

SB: Wie ist das Verhältnis der Bevölkerung Haitis zu den NGOs? Werden die NGOs akzeptiert oder teilweise auch als Einmischung empfunden?

TG:. Die Menschen in Haiti sind auf die Arbeit der NGOs angewiesen. Zugleich können einzelne Hilfsmaßnahmen die fehlenden staatlichen und öffentlichen Strukturen nicht ersetzen. Haiti ist eine NGO-Republik. Das ist ein Problem und nicht die Lösung. Wir versuchen haitianische Partner zu stärken. Wir legen einen Schwerpunkt darauf Süd-Süd-Austausch insbesondere mit Lateinamerika zu fördern, also Erfahrungen aus ähnlichen Kontexten, mit Menschen, die unter ähnlichen Umständen leben, für die haitianischen Kollegen nutzbar zu machen. Wir wollen damit wenigstens ein Ausrufezeichen gegen einen paternalistischen und bevormundenden Umgang mit Partner aus Haiti zu setzen. Zugleich versuchen wir und viele andere, die haitianische Zivilgesellschaft zu stärken, damit sie auf den politischen Prozess Einfluss nehmen kann. Es geht darum, die Hilfe zu verteidigen, zu kritisieren, aber sie auch zu überwinden, damit Haiti einen eigenständigen Weg gehen kann.

SB: Herr Gebauer, wir bedanken uns für dieses Gespräch.

14. Dezember 2010