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INTERVIEW/077: "Taste the Waste" - Jürgen Knirsch, Globalisierungsexperte bei Greenpeace Hamburg (SB)


Interview mit dem Greenpeace-Mitarbeiter Jürgen Knirsch am 11. September 2011 in Hamburg


Am 11. September 2011 wurde der Dokumentarfilm "Taste the Waste" erstmals dem Hamburger Publikum vorgestellt. Er zeigt den Verlust und die gezielte Vernichtung von Lebensmitteln auf sämtlichen Stufen der Produktionskette, vom landwirtschaftlichen Anbau bis zum Verbraucher, und stellt einige Gegenmaßnahmen vor. Zur Präsentation des Films hatte das Abaton-Kino den Regisseur Valentin Thurn und sechs Podiumsgäste, die mit dem Thema Ernährung zu tun haben oder am Zustandekommen des Films beteiligt waren, eingeladen. Unter ihnen auch der Globalisierungsexperte Jürgen Knirsch von der Hamburger Vertretung der Umweltschutzorganisation Greenpeace. Nach der Veranstaltung stellte er sich dem Schattenblick für ein längeres Gespräch zur Verfügung.

Den SB-Bericht zu der Veranstaltung finden Sie unter POLITIK, REPORT, BERICHT.

Jürgen Knirsch, Globalisierungsexperte bei Greenpeace Hamburg - Foto: © Axel Kirchhof, Greenpeace

Jürgen Knirsch, Globalisierungsexperte
bei Greenpeace Hamburg
Foto: © Axel Kirchhof, Greenpeace
Schattenblick: Sie haben an dem Film "Taste the Waste" mitgearbeitet und wurden im Abspann namentlich erwähnt. Wie kam es zur Zusammenarbeit zwischen Ihrer Umweltorganisation und den Filmemachern?

Jürgen Knirsch: Greenpeace steht seit Ende 2009 mit dem Regisseur Valentin Thurn und seinem Team in Kontakt. Das war für uns mal eine der seltenen Gelegenheiten, wo wir relativ früh in ein Filmprojekt involviert worden sind - aber auch wieder zu spät, um mehr "Klima" reinzubringen. Wir haben den Film unterstützt, indem wir mehr Informationen zur Verfügung gestellt haben - mein Kollege Martin Hofstetter taucht in dem Film ja auch auf. Im Oktober letzten Jahres haben wir einen Parlamentarischen Abend organisiert, zu dem auch Herr Thurn und die Frau Schneider [1] aus Österreich angereist waren. Der Abend ist relativ gut gelaufen, obgleich am selben Tag mehr als 30 Abstimmungen im Parlament stattfanden und wir schon dachten, daß wir den Termin knicken können. Aber zumindest die Vorsitzende des Umweltausschusses und auch der Vorsitzende des Ernährungsausschusses waren sehr interessiert.

SB: Wie läuft so ein Parlamentarischer Abend ab?

JK: Das ist eine Einrichtung in Berlin, bei der man sich ein, zwei Parlamentarier sucht - meistens Ausschußvorsitzende - und sie zu einem Thema in der Nähe des Parlaments einlädt. Das findet meist in der Parlamentarischen Gesellschaft statt. Da Bundestagsabgeordnete meist einen vollen Tag haben und immer hungrig sind, ist das in der Regel mit Essen verbunden, und man versucht dann, Inhalte zu vermitteln, meist mit dem Ziel, etwas im Parlament anzustoßen. Diese Struktur wird von vielen Organisationen genutzt.

SB: Würden Sie sagen, daß sie dabei schon mal erfolgreich waren, beispielsweise im Bereich der Ernährung oder Landwirtschaft?

JK: Ja, beim Waldschutz, dem Importverbot von Hölzern und auch bei der Fischerei - wobei Deutschland es dabei immer leicht hat, weil die Fischerei hierzulande keine so große Rolle spielt. Dazu haben die Spanier und Portugiesen natürlich etwas anderes zu sagen. Wir hatten beim Parlamentarischen Abend auch einen Koch vom Hotel Interconti dabei, Alf Wagenzink, der eine ähnliche Philosophie vertritt wie der Koch, der eben an der Podiumsdiskussion teilnahm. Der hat dann darüber berichtet, was er alles an Müllvermeidung in seiner Großküche betreibt. Frau Schneider hat noch mal ihre österreichischen Ergebnisse und Valentin Thurn Auszüge aus seinem Film vorgestellt. Unsere Stellungnahme dazu lautete, daß man jetzt die Novellierung des Abfallwirtschaftsgesetzes und der Verpackungsverordnung nutzen könnte, um da entsprechende Pflöcke einzuschlagen, damit der Skandal der Lebensmittelvernichtung beendet wird.

SB: Kam für Sie das Thema Klimaschutz im Film zu kurz?

JK: Als wir in das Projekt einstiegen, dachten wir, daß das Klimathema die Klammer bildet. Denn wenn man durch die Verringerung der Nahrungsmittelvernichtung zehn Prozent der CO2-Äquivalent-Emissionen [2] reduzieren könnte, wäre das schon was. Und das auch noch mit auf den ersten Blick relativ einfachen wirkenden Maßnahmen. Deshalb hatten wir uns interessiert gezeigt. Aber je tiefer wir in die Problematik einstiegen, desto mehr merkten wir, daß da mehr dranhängt und es ums ganze System geht. Beispielsweise spielt da auch die Gentechnik-Debatte und daß wir demnächst den siebenmilliardsten Erdenbürger feiern dürfen, hinein. Da stellt sich die Frage, wie die Menschen alle ernährt werden sollen. Wenn alle Menschen so leben wollen wie wir, geht das von den Ressourcen her gar nicht. Die Behauptung der industrialisierten Landwirtschaft, daß wir die Gentechnik für die Ernährung der Welt brauchen, kann man natürlich konterkarieren, wenn man sagt: 'Leute, ihr schmeißt ein Drittel bis die Hälfte der Lebensmittel weg. Ändert das erstmal!' Das war ein weiterer Bezugspunkt zu dem Film. Einen anderen hatte ich ja eben bei der Podiumsdiskussion erwähnt: Ein Kilogramm Shrimps wird mit 20 Kilogramm Beifang gewonnen. Das ist natürlich ein extremes Beispiel für Lebensmittelvernichtung.

SB: Sicherlich ist es ein deutliches Beispiel für ein Produktionsprinzip, das auf Masse abhebt und die Verluste nicht rechnet. Das erinnert an die großen Agrokonzerne, die mit gentechnisch veränderter Saat, die Sie eben erwähnten, hohe Umsätze erzielen. Aber das Hauptanliegen der Unternehmen ist entgegen ihrer Behauptung nicht die Beseitigung des Hungers in der Welt, da die Hungernden gar nicht als Nachfragefaktor gerechnet werden. Arbeitet Greenpeace auch zu solchen ökonomischen Fragen?

JK: Ja, wir haben beispielsweise eine Arbeitsgruppe zum Thema Systemzwänge gebildet. Darin geht es um die Frage, was man auf der Umweltseite dazu sagen kann, wie die Zwänge überwunden werden können. Darüber hinaus werden wir im nächsten Jahr bei der Konferenz Rio+20 den Schwerpunkt "Green Economy" haben. Es entsteht ja leicht der Eindruck, wir könnten so weitermachen wie bisher: Ein bißchen grüner Anstrich dran, dann haben wir die erneuerbaren Energien, da schaffen wir Arbeitsplätze und dann können wir auch weiter wachsen ... uns ist klar, daß das so einfach nicht geht. Wir haben Konzeptionen für eine Energiewende auf der ganzen Welt entwickelt. Wir wissen aber auch, daß die Wachstumsfrage irgendwann einmal geklärt werden muß. An diesem Thema sind wir dran.

SB: Kann man sagen, daß Greenpeace zwar in der Öffentlichkeit für seine spektakulären Aktionen bekannt ist, aber im Hintergrund beispielsweise über Postwachstumskonzepte debattiert wird?

JK: Wie gesagt, wir haben seit August diese hausinterne Arbeitsgruppe. Sie bereitet den McPlanet-Kongreß im nächsten Jahr vor, in dem auch Rio+20 stattfindet. Um da mit vernünftigen Positionen aufzutreten, sollen in der Arbeitsgruppe genau solche Fragen gestellt werden - in der Hoffnung, daß wir auch Antworten finden, und in der Hoffnung, daß wir dann nicht nur theoretische Antworten haben, sondern diese auch in die praktische Arbeit einfließen können. Zudem haben wir ja mit Kumi Naidoo aus Südafrika einen neuen internationalen Geschäftsführer, der aus der sozialen Bewegung, der Antiapartheid-Bewegung und der Initiative Global Call to end Poverty kommt und für solche Fragen offen ist. Dadurch kommt etwas mehr internationale Offenheit in unsere Arbeit hinein, wenngleich man sagen muß, daß wir die eigentlich vorher auch schon hatten. Seit der Rio+10-Konferenz in Johannesburg gab es eine Strömung, die gesagt hat: Umwelt- und soziale Bewegung müssen zusammenarbeiten. Die Probleme liegen viel zu eng beieinander. Jede Bewegung für sich ist nicht stark genug, sie zu lösen. Das hat dazu geführt, daß wir uns eine Zeitlang im Weltsozialforum sehr stark engagiert haben. Dann ist das aber wieder so breit geworden oder hat sich auch mit den anderen Ansätzen auf regionaler Ebene vermischt, daß wir davon wieder ein bißchen zurückgetreten sind.

SB: Die Weltsozialforen haben ja von Anfang an auch auf
Regierungsbeteiligung abgehoben. Da kam dann Lula ...

JK: Okay, das betrifft die spezifisch brasilianische Situation. Zu Beginn war Lula ja noch nicht Regierungschef [3].

SB: Wobei dennoch der Begriff "Nichtregierungsorganisation" ab einem bestimmten Punkt der Zusammenarbeit schon in Frage gestellt werden kann.

JK: Also, wir haben während eines Weltsozialforums in Porto Allegre eine Aktion gegen Lula wegen seiner Kraftwerkspolitik gemacht. Da stand ich selber vor dem Stadion, in dem er geredet hat. Wir, beziehungsweise unsere brasilianischen Kollegen fanden nicht alles gut, was Lula gemacht hat.

SB: Kommen wir noch einmal zurück auf den Film "Taste the Waste". Hat Greenpeace schon Vorstellungen entwickelt, wie es nun weitergeht? Valentin Thurn hat ja damit eine Bewegung angestoßen.

JK: Ja, er hat Leute zusammengebracht, die normalerweise nicht zusammengekommen wären. Wir hatten auch einmal eine gemeinsame Veranstaltung während der Berlinale mit den Verantwortlichen der Prinzessinengärten und der Markthalle in Berlin. Da war ein ähnlich breites Bündnis entstanden wie hier. Beispielsweise gehörte noch die Welthungerhilfe und der Evangelische Entwicklungsdienst dazu. Valentin Thurn hat es schon geschafft, Leute zusammenzubringen. Wir sind aus zwei Gründen ein bißchen wieder rausgegangen: Erstens wegen Fukushima. Damit sind ich und alle anderen im Haus ziemlich beschäftigt. Darüber hinaus legt Greenpeace immer wert auf die Langfristigkeit der Themen und daß dann konkrete Forderungen gestellt werden.

SB: War das der Hauptgrund, weswegen Sie nicht so sehr auf den Film eingestiegen sind?

JK: Nein, der Hauptgrund ist, daß wir sehr strenge Regeln haben, was staatliche Gelder betrifft. Eigentlich war geplant, daß das Greenpeace-Logo ebenfalls mit verwendet wird. Aber wir haben eine Regelung im Umgang mit Dritten, die besagt, daß kein staatliches oder Industriegeld mit im Spiel sein darf. Dadurch, daß der Film vom Bundesbeauftragten für Medien und Kultur finanziert ist, hat Greenpeace damit Probleme. Das hatten wir im Vorfeld auch gesagt. Wir waren ja lange an der Entstehung des Films beteiligt und wußten, daß der Film fertig war. Dann sind die Staatsgelder beantragt worden. Valentin Thurn äußert sich ja durchaus kritisch zu Frau Aigner - da ist keine Beeinflussung zu erkennen -, aber dummerweise fiel das in die Zeit, als der "Pakt mit dem Panda" [4] thematisiert wurde, wo es noch eine besondere Sensibilität gab.

SB: Hatte die Kritik am WWF die Umweltbewegung allgemein aufgerüttelt?

JK: Das hat die Bewegung schon etwas aufgerüttelt. Es hat auch uns nochmals deutlich gemacht, daß alle froh sein können, daß wir diese strengen Richtlinien haben und daß es da eigentlich wenig Spiel gibt. Ansonsten hätte man das vielleicht noch etwas großzügiger interpretieren können. Denn jeder Film bekommt irgendwelche Fördermittel. Da war also jetzt eine Situation entstanden, wo wir erklärt haben, nein, wir wollen uns überhaupt nicht in Gefahr bringen, daß irgend jemand sagt: Wieso, ihr habt die Richtlinien 'kein Geld vom Staat' und unterstützt einen Film, der seinerseits vom Staat unterstützt wird. Das hätte zwar nicht bedeutet, daß irgendwelches Geld vom Bundesbeauftragten für Medien und Kultur an Greenpeace geflossen wäre, aber dennoch hat uns das zu dem Schritt bewogen.

SB: Ist das eine in der Umweltschutzbewegung übliche Richtlinie oder hat Greenpeace da eine ganz besondere Entschiedenheit oder Empfindlichkeit, was staatliche Beteiligungen betrifft?

JK: So klare Richtlinien, wie wir sie haben, kenne ich von keiner anderen Umweltorganisation in Deutschland. Ich komme selber von kleineren Organisationen und weiß, wie mühsam es ist, diese am Leben zu erhalten. Ich habe früher in Organisationen gearbeitet, die Gelder von der Europäischen Union oder vom Bundesumweltamt erhielten. Das alles ist ein schwieriges Thema. Zum WWF möchte ich nichts sagen. Wir haben die Politik, daß wir uns nicht zu anderen Verbänden äußern. Wie unsere Geschäftsführerin Brigitte Behrens sagt: 'Es ist sinnvoll, die Zeit für andere Dinge einzusetzen.'

Weil ich privat auch in anderen Verbänden Mitglied bin, weiß ich, daß Debatten über Gelder geführt werden, und ich weiß, daß das Modell Greenpeace - also fast ausschließlich von Spenden zu leben, dazu ein paar Rücklagen und Honorareinnahmen - nicht auf alle übertragbar ist. Es würde aber sicherlich weiterhelfen, wenn es die Bewegung schaffte, klarere Regeln aufzustellen und für mehr Transparenz zu sorgen.

SB: Wie sind Sie zu Greenpeace gekommen?

JK: Ich habe Biologie studiert und 15 Jahre lang für kleinere Organisationen gearbeitet. Irgendwann war ich es leid, immer diesen Spagat machen zu müssen: Gelder beantragen, Gelder abarbeiten und die Abrechnungen machen. Was in der Regel bei kleineren Organisationen alles auf ein und dieselbe Person entfällt (lacht). Wenn man abends dann noch am Schreibtisch sitzt und vor der Entscheidung steht, mache ich jetzt die Abrechnung, damit ich mir mein Gehalt auszahlen kann, oder stelle ich jetzt den Antrag, damit der Laden auch in zwei Monaten noch Geld hat, oder mache ich das, was ich eigentlich machen will, nämlich inhaltliche Arbeit - davon befreit zu sein, war der eine Grund. Ein anderer war, auch mal in einer größeren Struktur arbeiten zu wollen. Ich hatte vorher in Vereinen gearbeitet, die bestenfalls vier, sechs, im Höchstfall acht Beschäftigte hatten, je nachdem, welche arbeitsmarktpolitischen Instrumente es in den achtziger oder neunziger Jahren gab.

SB: Das heißt, so lange sind Sie schon in der Umweltbewegung engagiert?

JK: Ja, ich habe sozusagen alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente an meiner eigenen Person kennengelernt (lacht). Dann habe ich zum Agrarhandel bei der Agrarkoordination gearbeitet, die damals noch Buko-Agrarkoordination hieß. Schließlich wurde bei Greenpeace eine Stelle zum Thema Welthandel frei, für die ich mich beworben und die ich erhalten habe.

SB: Bedeutet "Welthandel", daß sich Greenpeace auch mit dem Thema Hunger befaßt?

JK: Insofern, als daß es meistens mit der Landwirtschaftsfrage verbunden ist. Wir haben gemeinsam mit Brot für die Welt die Broschüre "100 Rezepte gegen den Welthunger" verfaßt. Darin werden Projekte vorgestellt, die sich von dem konventionellen, industriellen Landwirtschaftsmodell abwenden. Dann taucht die Hungerproblematik automatisch in der Debatte über die Grüne Gentechnik und der Behauptung, sie werde gebraucht, um die Welt zu ernähren, auf. Lange Zeit hatten wir keine Büros in Afrika, was sich jetzt geändert hat. Durch unseren neuen internationalen Geschäftsführer sind wir an der Problematik des Hungers viel stärker dran, wenngleich wir das bisher nicht kampagnenfähig gemacht haben. Wir brauchten bisher immer den Umweltbezug, wissen aber, daß das mit dem landwirtschaftlichen System nicht weitergehen kann, und wir wissen auch, daß es so mit dem Konsumsystem nicht weitergehen kann. Das hat nicht nur mit Hunger zu tun, sondern auch mit dem Kampf um die Ressourcen, der momentan tobt. Interessanterweise tauchen jetzt Aspekte auf, die man positiv finden kann, wenn sich die großen Lebensmittelkonzerne alle Gedanken machen, wie sie in den nächsten zwanzig Jahren ihre Ressourcen bekommen und das mit Nachhaltigkeitsgedanken zu verbinden versuchen - zumindest stellen sie es so dar. Ob das tatsächlich so ist, muß man im Einzelfall immer noch überprüfen!

Als ich bei der Buko-Agrarkoordination war, habe ich eine Kakao-Broschüre erstellt. Da ging es um die Frage der Substitution von Kakaobutter durch gentechnologisch veränderte Fette. Aber Kakao ist heute ein Thema, bei dem sich Mars, Cadbury und alle großen Hersteller Gedanken machen, ob sie in zwanzig Jahren noch genug Kakao bekommen und ob der in der Qualität ist, die dann vom Markt verlangt wird - so fangen sie jetzt an, Nachhaltigkeitskonzepte zu entwickeln. Nochmals zurück auf die Hungerproblematik: Unsere Schwerpunkte sind Klimawandel und Biodiversität - beides läßt sich hervorragend mit Hunger verbinden. Im Bewußtsein ist längst klar, eigentlich kann man diese Themen nicht mehr isoliert betrachten. Aber wir sind nur gut, wenn wir fokussiert sind.

SB: Einmal angenommen, die Bewegung gegen Lebensmittelvernichtung hätte Erfolg, es würden viel weniger Lebensmittel weggeworfen und die Verteilung würde in administrative Hände geraten. Sehen Sie dann eine Gefahr, daß es auf eine weitere Differenzierung der Gesellschaft hinausläuft, und zwar in die Menschen, die etwas schlechtere Ware bekommen, und die, die sich eine anstandslose Ware leisten können?

JK: Das war ja schon in den letzten drei, vier Jahren die Kritik am System der Tafeln. Als wir im Februar eine Veranstaltung in Berlin gemacht haben, schlug ein Berliner Aktivist vor, daß die Tafeln an alle verkaufen sollten, wobei die Gutverdiener mehr bezahlen sollten. Das nähme den anderen den Ruf des Almosenempfängers. Die Person ist mit den Berliner Tafeln in die Debatte gegangen. Die waren erstmal nicht ganz abgeneigt, wo ich noch dachte, das könnte das ganze wieder sprengen. Denn dann bräuchte man eine andere Infrastruktur. Man müßte wahrscheinlich mehr Vorgaben vom Lebensmittelrecht erfüllen, man bräuchte bessere Kühlmöglichkeiten, etc. Und es stellte sich die Frage, ob die Supermärkte überhaupt noch Ware an die Tafeln geben, wenn sie verkauft wird. Denn dadurch schafften sie sich ihre eigene Konkurrenz.

SB: Wie sehen Sie das mit dem Containern. Wenn das wirklich viele machen würde, entstünde dann nicht eine Konkurrenz unter den Nutzern?

JK: Das Containern ist mehr eine politische Aktionsform als eine Notwendigkeit, sich Lebensmittel zu beschaffen. In dem Sinne halte ich es für eine interessante Aktionsform, aber meiner Meinung nach ist sie nicht auf die Massen übertragbar. Weil dann Konkurrenzsituationen auftreten und weil man letzten Endes mehrere Wege gehen und auch noch stärker an die Supermärkte rantreten muß. Ob die eben auf der Veranstaltung zitierte Aussage der Lebensmittel Zeitung, wonach nur ein Prozent der Ware weggeworfen wird, stimmt oder nicht, sei dahingestellt. Es gab früher von der Gesellschaft für Konsumsforschung andere Zahlen, die wesentlich höher lagen, aber das waren nur Abschätzungen. Eigentlich geht es darum, die Supermärkte zu einem anderen System zu bringen, was ihre Geschäftsgrundlage allerdings wieder in Frage stellen würde.

SB: Was hätte es mit der Beseitigung des Hungers in der Welt zu tun, wenn in den reichen Ländern weniger Lebensmittel weggeworfen würden?

JK: In dem Film sagte Professor von Braun, daß die Lebensmittelpreise höher sind, weil in ihnen das Wegwerfen der Lebensmittel eingerechnet wurde.

SB: Ja, aber wenn die Unternehmen weniger Umsatz machen, würden dann nicht ebenfalls die Preise steigen?

JK: Es gibt mehrere Ebenen der Lebensmittelvernichtung. Beispielsweise bemüht sich die Welthungerhilfe, die an diesem Projekt beteiligt ist, darum, die Nachernteverluste zu verringern. Es ist bekannt, daß vieles schon im Produzentenland auf dem Weg zur Vermarktung aufgrund schlechter Transportmöglichkeiten oder mangelnder Kühlungssysteme verdirbt. Würde man da Abhilfe schaffen, könnten die Produzenten mehr Einkommen generieren, weil sie mehr zu verkaufen haben, und es wäre mehr für lokale Märkte verfügbar.

SB: Von Braun sagte in dem Film mit Verweis auf die Preisschwankungen von Lebensmitteln auf hohem Niveau, daß die nächste Hungerkrise kommen wird. 2008 hatte sich die Ernährungslage zugespitzt, aber müßte man nicht angesichts von derzeit rund einer Milliarde Menschen, die nicht genug zu essen haben, von einer Krise sprechen?

JK: Ja. Ich erinnere mich an das Zitat eines Teilnehmers der FAO-Generalversammlung, das besagte: Wir streben an, daß nächstes Jahr kein Kind mehr hungernd zu Bett gehen muß. Es ist erschreckend, wie sich die Debatten wiederholen, und wenn man etwas länger dabei ist, stellt man fest, daß es mit dem Hunger immer weitergeht.

SB: Herr Knirsch, herzlichen Dank für das Gespräch.

Fußnoten:

[1] Felicitas Schneider - Müllforscherin am Wiener Institut für Abfallwirtschaft. Näheres siehe BERICHT/070: "Taste the Waste" - Essensvernichtung zwischen Hunger und Überfluß (SB)
http://schattenblick.com/infopool/politik/report/prbe0070.html

[2] CO2-Äquivalent-Emissionen: Die Bezeichnung wird verwendet, um die Wirksamkeit von Treibhausgas-Emissionen über einen bestimmten Zeitraum (in der Regel 100 Jahre) miteinander vergleichen zu können. Als Basisgröße wird der Treibhauseffekt durch CO2 (Kohlendioxid) eingesetzt. Beispielsweise hat Methan ein CO2-Äquivalent von 25, was bedeutet, daß bei gleicher Menge Methan 25 mal stärker zum Treibhauseffekt beiträgt als CO2. Außerdem läßt sich mittels CO2-Äquivalenten der Treibhauseffekt von Produkten vergleichbar machen. Beispielsweise heißt es, daß 1 kg Rindfleisch das Klima mit rund 6400 g CO2-Äquivalenten belastet.

[3] Luiz Inácio Lula da Silva - Gründungsmitglied der brasilianischen Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores und jahrzehntelang gewerkschaftlich aktiv. Zwischen dem 1. Januar 2003 und 1. Januar 2011 Präsident Brasiliens.

[4] "Der Pakt mit dem Panda" - Deutscher Fernseh-Dokumentarfilm von Wilfried Huismann. Es geht darin über die angebliche Zusammenarbeit des World Wide Fund for Nature (WWF) beispielsweise mit einem Unternehmen, das auf Borneo Regenwald rodet, weil es dort Palmen für die Biospritherstellung anbaut, und über andere mutmaßliche Einflußnahmen wirtschaftsnaher Interessen auf die Umweltschutzorganisation.

16. September 2011