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INTERVIEW/080: Ein Aktivist vom Tahrir-Platz zur Revolution in Ägypten (SB)


"Wir hatten noch nie eine Revolution gemacht"

Interview mit einem ägyptischen Aktivisten am 16. September 2011 in Hamburg

Aktivisten auf dem Tahrirplatz in Kairo - Sinnbild einer nicht endenden Revolution? - © 2011 by monasosh, creative commons (Abb. 1)

Aktivisten auf dem Tahrirplatz in Kairo -
Sinnbild einer nicht endenden Revolution?
© 2011 by monasosh,
creative commons (Abb. 1)
Um die Ereignisse in Ägypten, die vor einem halben Jahr mit dem durch langanhaltende Massenproteste erzwungenen Rücktritt des früheren Präsidenten Hosni Mubarak einen vorläufigen Höhepunkt erreichten, ist es hierzulande recht still geworden. Zwei Aktivisten vom Kairoer Tahrir-Platz sind vor kurzem nach Deutschland gekommen, um zu der Frage, wie es um die Früchte dieser "Revolution" inzwischen bestellt ist, Stellung zu nehmen.

Am 16. September 2011 waren sie zu Gast im Hamburger Centro Sociale. Dem Schattenblick bot sich am Rande dieser Veranstaltung der Reihe "Ägypten - Revolution... and no end?" [1] die Gelegenheit, mit einem direkt an den Protesten beteiligten Ägypter über seine persönlichen Erfahrungen und politischen Einschätzungen zu sprechen.


Schattenblick (SB): Im Februar war die Revolution in Ägypten in den westlichen Medien ein großes Thema. Jeder sprach darüber, jeder war irgendwie dafür. Jetzt, ein halbes Jahr später, ist die politische Situation eigentlich unverändert, aber die Medien im Westen und auch in Deutschland scheinen sich ein bißchen gegen diese Revolution zu stellen. Es hat den Anschein, als wäre der Westen mit denselben Menschen, die Anfang des Jahres die Revolution gemacht haben, nun nicht mehr einverstanden. Wie würden Sie das erklären?

Ägyptischer Aktivist (ÄA): Tatsächlich arbeiten die Menschen der Revolution noch immer in ihren Gruppen und auf der Straße, weil wir meinen, daß sich nichts verändert hat. Der wichtigste Grund dafür ist, daß das Militär gekommen ist, nachdem Mubarak weg war. So in der Zeit von Februar und März dachten die meisten Menschen, daß der SCAF [2] an der Seite der Revolution stünde und uns helfen würde, unsere Rechte zu bekommen. Aber die Situation veränderte sich von Tag zu Tag. Das ging in sehr kleinen Schritten vonstatten, gerade auch beim Thema soziale Gerechtigkeit. Als wir am 25. Januar auf die Straße gingen, war das erste, was wir wollten und forderten: Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Im März wurde dann allmählich klar, daß der SCAF die Revolution nicht unterstützt. Wir sind der Auffassung, daß die Militärs nur ein paar Köpfe austauschen und das System und das alte Regime so lassen wollten wie vorher.

So fingen wir erneut an zu protestieren. Wir hatten am 27. Mai eine sehr große Demonstration. An ihr waren Liberale und Linke ebenso beteiligt wie die Gruppen von der Revolution der jungen Leute. Diese Demonstration fand ohne islamische Gruppen statt, da es zwischen ihnen und der Bewegung zu einem Bruch gekommen war. Es wurde ein sehr großer Protesttag. Dann hatten wir eine weitere große Demonstration am 8. Juli und einen Streik, der ungefähr 22 Tage andauerte. Auch diese Aktionen fanden ohne islamische Gruppen statt. Zwischen den beiden Demonstrationen gab es noch eine am 29. Juni, die von den islamischen Gruppen durchgeführt wurde. Niemand kann bestreiten, daß sie sehr groß war. Aber eigentlich waren wir mit dabei.

Vor dem 27. Mai hatten wir einige Treffen mit diesen Gruppen gehabt. Wir hatten sehr viel miteinander geredet, manchmal den ganzen Tag. Wir sprachen über soziale Gerechtigkeit und darüber, daß wir "diese ganzen Leute" ins Gefängnis bringen müssen. Wir waren uns darüber einig, daß es im ganzen Land eine wirkliche Veränderung geben müsse. Doch dann änderten die islamischen Gruppen alles und brachten Transparente mit, auf denen für eine islamische Revolution geworben wurde. Doch eigentlich waren die Leute, die die Revolution gemacht hatten, überhaupt nicht für diese Sache. Wir wollen nicht einen weiteren Iran. Wir wollen kein streng islamisches Land. Wir wollen ein sehr normales Land, in dem alle Menschen die gleichen Rechte haben: Männer und Frauen, Muslime und Christen, Junge und Alte. Alle Menschen sollen die gleichen Rechte haben wie in jedem demokratischen Land der Welt.

Ich weiß, daß Sie hier in Europa etwas in Sorge sind über das, was in der israelischen Botschaft am 9. September passiert ist. Aber gehen Sie einmal davon aus, daß das alles geplant war. Unserer Auffassung nach gab es eine politische Strategie, einen Plan des Militärs, um dem SCAF einen Rechtfertigungsgrund zu liefern, die Notstandsgesetze wieder einzuführen. Also haben sie einen Plan gemacht, um Leute dazu zu bringen, daß etwas Schreckliches an der israelischen Botschaft passiert. Sie wußten doch, daß die Menschen aufgebracht waren nach dem Unfall, der an der Grenze passiert war [3]. Der Plan zielte darauf ab, das Notstandsrecht wieder einzuführen zu können.

Aber wir sind noch immer auf der Straße. All die Menschen, die die Revolution gemacht haben, sind weiter aktiv. Vielleicht ist das alles jetzt ein bißchen aus den Medien heraus. Das liegt daran, daß der SCAF angefangen hat, die Medien wieder zu kontrollieren. Der Militärrat will der ganzen Welt eine Botschaft vermitteln: Wenn du nicht auf der Seite des SCAF stehst und damit einverstanden bist, daß er in Ägypten regiert, werden die islamischen Gruppen die Führung übernehmen. Das ist die Botschaft, die die Militärs Europa und der übrigen Welt übermitteln wollen, damit sie das Militär unterstützen und dafür sorgen, daß es an der Macht bleibt.

SB: Zum Begriff "Revolution" möchte ich einmal nachfragen, ob das ein Begriff ist, den sich die Protestbewegung selbst gegeben hat. Wann und wie ist er entstanden? Nennen Sie sich selbst "Revolutionäre"?

ÄA: Vor dem 25. Januar dachten wir einfach nur, daß es eine sehr große Demonstration werden würde. Dieser Tag war einfach nur als Protest gedacht. Wir hatten uns nicht vorgestellt, daß daraus eine Revolution werden würde. Wir hatten nicht an Revolution gedacht. Vor dem 25. Januar war es so: Wenn wir einfach nur so schliefen und einen Traum hatten über dieses Wort "Revolution" und träumten, "wenn ich aufwache, bin ich frei", befürchteten wir, daß sie bei der Geheimen Staatssicherheit vielleicht etwas von diesem Traum bemerken und kommen, um uns zu verhaften. Es war wirklich ein sehr schreckliches, hartes und diktatorisches System. Sie haben Menschen sehr schlecht behandelt, die nur versuchten, auch über Politik nachzudenken - nicht darüber zu sprechen, nur darüber nachzudenken! Alle wußten: Wenn ein Mensch anfängt, über Politik nachzudenken, dann kommen sie, um ihn zu verhaften. Er wird aus seiner Arbeitsstelle geworfen, ihm werden sehr große Schwierigkeiten bereitet.

Wie gesagt, vor dem 25. Januar dachten wir nicht einmal daran, daß es eine Revolution werden würde. Wir dachten nur, daß es eine sehr große Demonstration sein würde mit Forderungen, die sich in drei Worten zusammenfassen lassen: Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Doch dann kam es zu sehr harten Auseinandersetzungen an diesem Tag. Fünf Menschen wurden am 25. Januar von Polizisten getötet. Nach diesem Tag fingen wir an, Facebook und Twitter zu benutzen, um die Menschen aufzufordern, am 28. Januar auf die Straßen zu gehen. Und hier arbeitete das Glück für unser Ägypten, denn an diesem Tag ließ das Innenministerium die Internet- und Handy-Verbindungen abschneiden. So hatten all die Menschen, die eigentlich nicht auf die Straßen gehen wollten, kein Handy und keinen Internetanschluß. Sie machten sich Sorgen um ihre Brüder, um Freunde und Familienangehörige, die sich bereits auf der Straße befanden. So wurden die Zahlen immer größer, und es fing an, eine Revolution zu werden.

Am 28. Januar waren wir abends etwa um halb sieben auf dem Tahrir-Platz. Geplant war, daß es einen Protest geben sollte, und es war klar, daß die Muslimbruderschaft an diesem Tag nicht teilnehmen würde. Einige der Muslimbrüder waren zwar da, aber die Organisation als solche war nicht bei uns. Sie beteiligte sich erst nach dem 29. Januar an den Protesten. Am 28. Januar war eigentlich alles klar. Wir hatten den Tahrir-Platz für uns und machten unsere Protestaktion. Danach fingen die Menschen auf dem Platz an, miteinander zu reden. Es waren sehr viele. In der ersten Nacht waren rund einhunderttausend auf dem Tahrir. Einige Leute mit kleinen Mikrophonen fingen an, mit den Menschen zu sprechen. Sie fragten: "Was wollt ihr als nächsten Schritt tun?" Da sagten die meisten: "Wir werden die Kundgebung nicht verlassen." Am 28. Januar war der wirkliche Name unserer Bewegung "Revolution". Seit diesem Tag nannten wir es "Revolution".

SB: Es soll Hinweise darauf gegeben haben, daß internationale zivilgesellschaftliche Organisationen die Entwicklung in Tunesien und Ägypten wie zuvor schon bei den "bunten Revolutionen" in Georgien und der Ukraine unterstützt haben. Wissen Sie etwas darüber?

ÄA: Nein, darüber ist mir nichts bekannt. Aber die Revolution in Tunesien war etwas, das uns die Kraft gegeben hat, uns in Bewegung zu setzen. Wir hätten nie gedacht, daß das eines Tages geschehen würde! Wie ich Ihnen bereits erzählt habe, hatten wir sehr viel Angst. Vor der Revolution haben sie die Menschen behandelt wie Tiere. Vielleicht waren die Tiere sogar noch etwas besser dran als die Menschen. Ich kann mich noch gut an den 6. April 2008 erinnern. Später gab es eine Bewegung, die sich "6. April" nennt, sie begann am 6. April 2008. Der Anführer dieser Gruppe nannte sich Ahmed Maher, er ist Ingenieur. Als die Gruppe in Marhalla anfing, einen Protest zu organisieren, verlor Ahmed Maher seine Arbeit. Er wurde drei- bis viermal verhaftet und war jedes Mal drei bis fünf Monate im Gefängnis. Jeder, der versuchte, politisch etwas zu machen oder nur daran dachte, etwas zu tun, wurde einfach verhaftet, ohne irgendeinen Grund, ohne irgendeine Frage. Sie kommen dann meist um vier Uhr morgens. Der Betroffene ist noch im Bett. Sie nehmen ihn von seinem Zuhause aus mit. Niemand weiß, wohin er gebracht wird. Keiner kann ihn besuchen. Sie nehmen ihn einfach mit.

Die Protestbewegung fordert die Freilassung eines politischen Gefangenen (Transparent an einem Wohnhaus mit dem Konterfei eines Aktivisten) - © 2011 by monasosh, creative commons (Abb. 2)

Die Protestbewegung fordert die Freilassung eines politischen Gefangenen
© 2011 by monasosh, creative commons (Abb. 2)

SB: Ich würde gern noch einmal auf die Ereignisse im Januar und Februar zurückkommen. Wie kam es, daß bei dieser "Revolution" das Militär die Führung übernehmen konnte? Hat die Protestbewegung es ihm erlaubt?

ÄA: Wir haben es nicht erlaubt, nebenbei bemerkt. Aber das Hauptproblem besteht darin, daß 50 Prozent der Menschen nicht lesen und schreiben können. 50 oder vielleicht 45 Prozent gelten als extrem arm und leben unterhalb der Armutsgrenze. Wenn wir also nur losgehen und sagen: "Wir müssen auf der Straße sein, wir müssen wieder kämpfen", dann sagen die Menschen: "Ja, aber ich brauche etwas zu essen." Das ist der Punkt. Ein anderer ist: Mir ist klar, da ich über eine gute Bildung verfüge, daß die Armee nicht wieder gehen wird. Wenn sie erst einmal an der Macht ist, wird sie sie nicht wieder abgeben. Es ist aber sehr schwierig, das einem Menschen klarzumachen, der nicht lesen und schreiben kann. Bevor Mubarak ging, kamen diese Menschen schon zum Tahrir-Platz, um zu protestieren. Aber der wesentliche Punkt ist, daß sie damals gedacht haben, Mubarak und das System sind das Hauptproblem. Und als sie dann überall die Armee gesehen haben, glaubten sie, daß sie sie beschützt.

Nach dem Kamel-Überfall [4] am 2. Februar sahen sie, daß die Armee versuchte, die Protestierenden zu schützen, um die Situation unter Kontrolle zu bringen und für Sicherheit zu sorgen. An jedem Platz, an jeder Stelle, an der es irgendwelche Verbrecher gab oder solche Dinge geschahen, übernahmen Armeeoffiziere die Kontrolle und versuchten, die Täter dingfest zu machen. So fühlten sich die Menschen etwas sicherer, wenn sie in der Nähe der Armee waren. Sie dachten, die Armee ist für die Revolution. Das ist jetzt noch so. Wenn Sie vor vielleicht 15 oder 20 Tagen losgegangen wären und irgendeinen ganz normalen Ägypter gefragt hätten, ob er nun über eine Schulbildung verfügt oder nicht: "Was ist Ihre Meinung über die Revolution?", dann hätte er geantwortet: "Oh, ich liebe die Revolution, ich bin für die Revolution." Wenn Sie ihm dann noch die Frage gestellt hätten: "Was denken Sie über den SCAF?", hätte er gesagt: "Oh, der SCAF, der SCAF bedeutet Revolution. Der SCAF ist an der Seite der Revolution."

SB: Wie ist das zu erklären angesichts der Ereignisse der vergangenen Monate?

ÄA: Die Menschen können es nicht verstehen, weil es überhaupt keine Bildung gibt. Ich kenne Menschen, die die Höhere Schule abgeschlossen haben und ihren Namen nicht schreiben können. Ich kenne jemanden, der seinen Namen nicht schreiben kann, dabei hat er ein offizielles Dokument, das ihm den Abschluß der Höheren Schule bestätigt. Die Gründe sind einfach: Es gibt keine Unterrichtsmaterialien für die Schulbildung und keine Lehrer. Es gab gerade jetzt in Ägypten einen sehr großen Streik der Lehrer wegen ihrer schlechten Arbeitsbedingungen. Sie können so nicht arbeiten. Weil wenn man ihnen kein angemessenes Gehalt zahlt, fangen sie an, zu Hause privat zu unterrichten. In der Schule arbeiten sie nicht. Da setzen sie sich nur hin und ruhen sich aus, weil sie nach der Zeit in der Schule außerhalb privat gearbeitet haben. Es gibt also keine Bildung. Das ist unsere Misere.

SB: In westlichen Medien gab es während der ägyptischen und auch der tunesischen Revolution Bilder, auf denen sehr große Menschenansammlungen zu sehen waren. Von der sogenannten Revolution in Libyen gab es solche Bilder nicht. Wie würden Sie die Geschehnisse in Libyen bewerten?

ÄA: Was die Situation in Libyen so anders macht, ist folgendes: Ghaddafi hatte Afrikaner beispielsweise aus dem Tschad und aus Niger geholt und bezahlt, ins Militär zu gehen und das diktatorische System zu verteidigen, das er errichtet hatte. Als die Menschen mit der Revolution anfingen, hatte Ghaddafi wohl gedacht - manchmal habe ich das Gefühl, daß er nicht ganz normal ist, ein bißchen wie ein Psychopath -, daß die einzige Möglichkeit, den Leuten Angst zu machen sei, einige Menschen zu töten. So fing er an, Menschen zu töten. Er dachte, das würde die Revolution aufhalten, aber das Gegenteil war der Fall. Einige Soldaten der Armee, der wirklichen libyschen Armee, die auf der Seite der Revolution steht, fingen an, den Protestierenden beizubringen, wie man Waffen benutzt, wie sie Panzer und andere Dinge einsetzen können. Das veränderte die Situation vollständig. Aus einer völlig friedlichen Freiheitsrevolution wurde ein Krieg zwischen den Libyern und Ghaddafi. Deswegen ist das Bild ein ganz anderes als das der Freiheitsrevolutionen in Tunesien und Ägypten.

SB: Sind Sie denn mit dem NATO-Krieg in Libyen einverstanden?

ÄA: Mit dem Luftkrieg und der Luftunterstützung, wie sie jetzt noch gemacht wird? Ja, damit stimme ich überein. Wenn die NATO allerdings anfangen würde, Bodentruppen nach Libyen zu schicken... also was mich betrifft, damit wäre ich nicht einverstanden.

SB: Es soll Pläne geben, denen zufolge britische Polizeiexperten ins Land kommen.

ÄA: Davon habe ich gehört, das soll jetzt anfangen. Damit stimme ich auch nicht überein. Ich bin dafür, daß die Revolution in Libyen durch Flugzeuge unterstützt wird. Ghaddafi hat einfach zu viele Menschen getötet, und die Protestierenden dort sind keine Armeesoldaten. Die meisten von ihnen sind nicht in der Lage, ein Gebiet zu kontrollieren, außer wenn die NATO-Flugzeuge einen Ort zerstören und ihnen den Weg ebnen. Dann können sie in ein Gebiet vordringen und anfangen, dort die Kontrolle zu übernehmen. In diesem Punkt stimme ich mit der NATO überein, aber nicht, wenn die NATO es machen will wie im Irak.

SB: Das Libyen zur Zeit Ghaddafis galt als das Land mit dem höchsten Durchschnittseinkommen Afrikas. Die sozialen Verhältnisse sollen unter Ghaddafi besser gewesen sein im heutigen Libyen. Es gab dort nicht so viele arme Menschen wie in Ägypten und Tunesien. Lag das daran, daß die Ressourcen des Landes für soziale Ausgaben verwendet werden konnten oder in erster Linie an dem Bestreben, etwas für die soziale Gerechtigkeit zu tun? Wie schätzen Sie die Situation in Libyen im Unterschied zu der in Ägypten und Tunesien ein?

ÄA: Es gibt einen wesentlichen Grund, warum es Libyen heute ganz anders ist als in Ägypten und Tunesien: In Libyen wurde ein sehr rigoroser Kampf gegen das Ghaddafi-System geführt. Das Ghaddafi-System wurde vollständig zerstört. Aber in Ägypten haben wir das nicht getan. Wir sind eine friedliche Revolution. Wenn Sie nur die Bilder sehen, wie die Menschen nach dem Ende eines Protestes die Straßen reinigen! Das hat es in der Geschichte zuvor noch nicht gegeben, daß Menschen nach einer Revolution den Ort aufräumen. Das ist der Unterschied. In Libyen wurde das System gereinigt, und es wurden einige Leute als Revolutionsführer eingesetzt wie zum Beispiel Abdul Dschalil Mustafa.

Das ist der größte Unterschied. Das haben wir in Ägypten nicht gemacht. Das war einer unserer Fehler. Wir streiten gar nicht ab, daß das ein Fehler war. Aber wir hatten zuvor noch nie eine Revolution gemacht, ich auch nicht. 95 Prozent der Menschen, die dabei waren, waren Menschen in meinem Alter oder jünger, so zwischen 20 und 35. Keiner von ihnen hatte zuvor schon bei einer Revolution mitgemacht, und so wußten viele gar nicht, was zu tun ist. Das wesentliche Merkmal unserer Revolution ist, daß wir keine Anführer haben. Die meisten Revolutionen werden von Parteien organisiert.

SB: Sie arbeiten nicht in einer Partei?

ÄA: Nein. Die Parteien kamen erst auf den Tahrir, nachdem die Menschen die Revolution schon gemacht hatten. So gibt es keine Führung. Es gibt niemanden, der jetzt ein Regierungsamt ausfüllen und anfangen könnte, politisch etwas zu verändern. Wir haben über dieses Problem gesprochen, nachdem wir den Tahrir bereits wieder verlassen hatten. So war unser Einfluß geringer, so konnten wir keinen Druck erzeugen. Wir hoffen, daß in den nächsten Wochen - Inshallah [5] - ein solcher Druck durch die vielen Streiks entstehen wird. Ärzte, Lehrer und College-Dozenten streiken. Die meisten Arbeiter streiken auch, denn es gibt noch immer keine soziale Gerechtigkeit. Das wird Druck auf das Militär ausüben. Wir stellen uns vor, daß diese Streiks etwas ausrichten können, um das Problem der sozialen Gerechtigkeit zu lösen. Das ist uns sehr wichtig.

SB: Ich habe gelesen, daß die Jugendorganisation "6. April", die Sie vorhin schon erwähnt haben, eine Art Grundsatzerklärung hat, in der es in etwa heißt: "Wir sind nicht für die Regierung. Wir sind nicht für die Opposition. Wir sind alle Ägypter." Damit sind unterschiedslos alle Menschen in Ihrem Land angesprochen. In einer brisanten Frage wie der nach sozialer Gerechtigkeit und 'Brot für alle' gibt es jedoch gegensätzliche Positionen. Meinen Sie, daß mit diesen Forderungen alle einverstanden sein können?

ÄA: Ja, das denke ich schon. Ganz Ägypten strebt jetzt nach sozialer Gerechtigkeit, auch die islamischen Gruppen. Sie haben vielleicht ein eigenes Verständnis davon, aber auch sie fordern soziale Gerechtigkeit. Alle Menschen in Ägypten verlangen danach. Die einzigen, die den Begriff ablehnen, gehören zur Rechten, doch es sind nicht sehr viele, die eine solche politische Auffassung vertreten. Alle Menschen wollen jetzt soziale Gerechtigkeit, weil die Not einfach so groß ist. Bei uns herrscht wirklich große Not. Es gibt heute Menschen, deren Monatsgehalt 150 Ägyptische Pfund beträgt, das sind 20 Euro im Monat. Viele müssen schon für die Wohnung 400 Ägyptische Pfund bezahlen, das wären 50 Euro. Der Unterschied zwischen den armen Leuten und einem Menschen, der ein gutes Gehalt bekommt, beträgt ungefähr 10.000 Pfund. Wir sprechen also über eine Differenz von etwa 1.200 Euro. Ein Fabrikdirektor verfügt über ein Gehalt von einer Million Ägyptische Pfund im Monat [6]! Ein Arbeiter derselben Fabrik erhält 300 Pfund. Das ist der Grund, warum alle Menschen jetzt nach sozialer Gerechtigkeit streben. Wir kämpfen alle dafür. Auch wenn unsere politischen Ansichten sich unterscheiden, das wollen wir alle.

SB: Ich möchte noch einmal auf die Repression zu sprechen kommen. Wie Sie bereits erwähnten, hatten die meisten Menschen vor Mubarak Angst. Haben sie jetzt noch Angst vor dem SCAF?

ÄA: Ja.

SB: Gibt es gar keinen Unterschied?

ÄA: In gewisser Weise schon. Als wir den Tahrir verlassen hatten, fingen wir an, Treffen abzuhalten. Die Menschen, die sich von der Revolution und vom Tahrir-Platz kannten, organisierten sich in Gruppen. Diese Gruppen fingen an, auf der Straße und überall mit den Menschen zu sprechen, Konferenzen abzuhalten und Vorträge zu halten, um über die Revolution und den Wandel zu sprechen und die Kraft der Revolution überall hinzutragen. Als wir damit anfingen im Februar, März und April - das war, nachdem wir den Tahrir-Platz verlassen hatten -, konnten wir nicht über das Militär und die Armee sprechen. Als wir damit auf Konferenzen oder bei Vorträgen anfingen, gab es großen Streit, weil die Menschen nicht akzeptierten, daß jemand so über die Armee spricht und sagt, das Militär stehe nicht auf der Seite der Revolution. Sie akzeptierten nicht, daß das Militär gegen die Revolution ist und daß wir das Militär bekämpfen müssen.

Aber inzwischen ist das vollkommen anders. Wenn wir jetzt zu Vorträgen gehen und nicht darüber sprechen, daß der SCAF die Revolution nicht unterstützt, fragen uns die Menschen: "Warum sprecht ihr nicht darüber, daß der SCAF gegen die Revolution ist?" Das Bewußtsein beginnt sich zu verändern, aber das braucht seine Zeit. 62 Jahre lang haben die Menschen ein bestimmtes Denken geschluckt, das werden wir nicht in sechs oder zehn Monaten oder einem Jahr wieder aus ihnen herausbekommen. Doch wir arbeiten daran. Wir wissen, daß das eine sehr schwere Aufgabe ist. Aber wir versuchen alle, unser Bestes zu geben.

SB: Sind Sie enttäuscht von den westlichen Staaten, weil es nach der Revolution keine weitere Unterstützung gab?

ÄA: Ja. Unterstützung gab es in den ersten Tagen der Revolution, aber danach wurde es bald weniger. Ich kann mir vorstellen, daß ein Großteil des Westens Angst hat, daß es einen weiteren Iran in der Welt geben könnte. Vielleicht wird deshalb einfach nichts gesagt und erst einmal nur beobachtet, was weiter geschieht. Wenn dann die Verhältnisse wieder stabil sind, gibt es wieder Unterstützung. Aber eigentlich brauchen wir diese Unterstützung jetzt.

Wir brauchen auch Hilfe dabei, den Menschen hier verständlich zu machen, daß es sich nicht um eine islamische Revolution handelt und daß wir nicht zulassen werden, daß es eine islamische wird. Wir schwören, wie wir es schon auf dem Tahrir getan haben, aus Ägypten ein demokratisches Land zu machen. Der Islam ist ein Teil Ägyptens, aber es gibt dort auch Christen. Schwarze und Weiße, Frauen und Männer sollen die gleichen Rechte haben. Wir müssen alle unsere Hände zusammenbringen, um diese Revolution zum Erfolg zu führen.

SB: Befürchten Sie nicht, daß die Hilfe aus den westlichen Staaten nur kommen könnte, weil diese damit eigene Interessen verfolgen und daß der Westen nicht wirklich für das ägyptische Volk eintritt? Ägypten wurde wie die arabische Welt und Nordafrika vom Westen schon einmal kolonialisiert. Halten Sie es für denkbar, daß die Interessen des Westens in einem großen Gegensatz zu denen der Menschen in Ägypten stehen könnten?

ÄA: Ja, das macht Sinn. Wir haben ein bißchen Angst davor. Wir überlegen uns, wie die Entwicklung weitergehen wird. Was wird geschehen? Jeden Tag gibt es Verschärfungen. In Ägypten ist es jetzt so - insbesondere nach dem 9. September: Die Notstandsgesetze sind wieder in Kraft. Die Medien werden wieder kontrolliert, Menschen werden wie früher in ihren Wohnungen verhaftet...

SB: ... und zwar sehr viele ...

ÄA: ... 93 an nur einem Tag! Und es gibt sehr viele Menschen, über deren Schicksal wir nichts wissen. Aber mit Menschen wie Ahmed Maher, mit Menschen, die sehr bekannt sind und eine Medienpräsenz haben, können sie so etwas nicht machen. Sie wissen, wenn so jemand verhaftet wird, würde es in den Medien einen großen Aufschrei geben. Deshalb werden sie das nicht tun. Im Grunde ist es doch so: Die Militärs sagen, daß das Notstandsrecht nur gegen "Verbrecher" [7] angewandt wird. Sie haben aber nicht festgelegt, wer die "Verbrecher" sind. Wie sehen sie aus, welchen Hintergrund haben sie? Wie verhalten und bewegen sie sich? Es werden einfach nur arme Menschen als "Verbrecher" bezeichnet, weil sie arm sind und niemand nach ihnen fragt. Das reicht, um ein "Verbrecher" zu sein.

Baltageya - Die Antwort der Aktivisten auf neue Notstandsgesetze - Transparent mit arabischer Aufschrift: 'Ich gehöre zum Gesindel. Kommt und holt mich!' - © 2011 by monasosh, creative commons (Abb. 3)

Baltageya - Die Antwort der Aktivisten auf das neue Notstandsrecht: "Ich gehöre zum Gesindel. Kommt und holt mich!"
© 2011 by monasosh, creative commons (Abb. 3)

SB: Vor kurzem war der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zu Besuch in Kairo. Wie denken Sie über die Verbindung zwischen dem heutigen Ägypten und der Türkei?

ÄA: Während Erdogans Besuch war ich hier in Deutschland, aber es kam die Nachricht aus Ägypten, daß dies eine sehr nützliche Verbindung werden wird. Es ist eine sehr gute Sache, daß Erdogan die islamischen Gruppen enttäuscht hat, als er sagte: "Meine Religion ist der Islam, aber meine politischen Ansichten sind etwas anderes, sie unterscheiden sich von der Religion." Das ist etwas, worüber wir in Ägypten die meiste Zeit sprechen: Wir müssen die Religion vom Politischen trennen. Die Religion gehört in die Moschee oder in die Kirche. Politik ist überall. Alles im Leben ist politisch. Wenn wir eine stabile Politik in unserem Land haben, wird alles gut, dann gibt es für alles eine Lösung. Deshalb macht es Sinn, daß Erdogan die islamischen Gruppen enttäuscht hat. Das macht uns, die Menschen, die links oder liberal sind, ein wenig froh und beruhigt uns, weil wir befürchtet hatten, daß Erdogan bzw. die Türkei die islamischen Gruppen dabei unterstützen könnte, an die Regierung zu gelangen.

SB: Was ist das Ziel Ihres Besuchs in Deutschland? Was würden Sie gern damit erreichen?

ÄA: Ich möchte den Menschen hier von unserer Revolution erzählen und denen, die Angst vor einer islamischen Revolution haben und befürchten, daß Ägypten ein weiterer Iran werden könnte, versichern, daß das nicht geschehen wird. Das werden die Ägypter nicht zulassen. Die Menschen dort, sogar die frommen Moslems, die immer in der Moschee beten, aber nicht in einer islamischen Gruppe sind, wollen keinen Iran. Wenn man mit ihnen spricht und fragt: "Möchtest du ein Ägypten wie den Iran?", dann sagen sie: "Nein, ich will, daß meine Tochter ausgehen und sich frei fühlen kann, und mein Sohn soll mit seinem Bruder gleicher Nationalität, der Christ ist, zusammensein können. Ich möchte, daß Christen sich genauso sicher und frei fühlen können wie ich." Das ist die wirkliche Einstellung der Ägypter, und das ist ein Grund, warum ich hier bin.

Ein anderer, für mich sehr wichtiger Punkt ist, daß ich das Gefühl habe, daß eine Kommunikation angefangen hat zwischen dem Ägypten nach der Revolution und dem Westen. Ich glaube, daß wir einander gegenseitig unterstützen können und am Beginn einer guten Beziehung zwischen zwei friedlichen Ländern stehen.

SB: Vielen Dank für dieses lange Gespräch.

ÄA: Gern geschehen.

Das Centro Soziale - Ägypten-Gespräche in Hamburger Nachbarschaftstreff - © 2011 by Schattenblick

Das Centro Soziale - Ägypten-Gespräche in Hamburger Nachbarschaftstreff
© 2011 by Schattenblick

Anmerkungen

[1] Siehe den Bericht zu dieser Veranstaltung in POLITIK\REPORT:
BERICHT/071: "Revolution... and no end?" - Diskussion mit ägyptischen Aktivisten in Hamburg (SB)

[2] SCAF (Supreme Council of the Armed Forces) ist der Oberste Militärrat in Ägypten, der nach dem Rücktritt Mubaraks am 11. Februar 2011 die Macht im Staat an sich genommen hat.

[3] Bei diesem "Unfall" handelt es sich um die versehentliche Erschießung von sechs ägyptischen Offizieren durch israelische Soldaten auf dem Sinai Mitte August. Ein siebter Ägypter erlag später seinen Verletzungen.

[4] Der "Kamel-Überfall" fand am 2. Februar 2011 statt, dem sechsten Tag der Proteste. Mubarak-Unterstützer griffen die auf dem Tahrir versammelten Demonstranten an, indem sie mit Kamelen und Pferden durch die Menge brachen und auf einzelne Menschen losgingen. Andere warfen von den Dächern aus Steine und Brandbomben auf die Protestierenden. Aus der zuvor friedlichen Demonstration entwickelte sich somit eine gewaltsame Auseinandersetzung mit über 1.500 Verletzten. Drei Anti-Mubarak-Demonstranten wurden durch Schüsse getötet. Das Militär griff nicht ein, was ihm hinterher zum Vorwurf gemacht wurde.

[5] "Inshallah" ist arabisch und bedeutet in etwa "So Gott will".

[6] 1 Euro entspricht zur Zeit ungefähr 8 Ägyptischen Pfund, 1 Ägyptisches Pfund ist ca. 0,12 Euro.

[7] Dem von dem Aktivisten hier verwendeten englischen Wort "thug" entspricht im Arabischen der Begriff "baltageya" (Verbrecher, Gesindel, Pöbel), wie zunächst die vom Mubarak-Regime beauftragten Schlägerbanden und später die regimekritischen Demonstranten bezeichnet wurden.


Bildnachweis:

Abb. 1: IMG00852-20110201-1250 - veröffentlicht von monasosh unter Creative Commons-Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.en), aufgenommen am 1. Februar 2011
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Abb.2: Free Loai - veröffentlicht von monasosh unter Creative Commons-Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.en), aufgenommen am 1. Juli 2011
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Abb. 3: Baltageya - veröffentlicht von monasosh unter Creative Commons-Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.en), aufgenommen am 1. Juli 2011
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26. September 2011