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INTERVIEW/110: Kongreß Kurdischer Aufbruch - Sadik Hassan Itaimish zur Lehre des Islam (SB)


Sachkundige Korrektur einer entufernden Vorurteilslage

Interview am 4. Februar 2012 in der Universität Hamburg


Im Kontext massiver sozialer Verwerfungen auch der deutschen Gesellschaft, welche die Lebensbedingungen zahlloser Menschen untergraben, verschärft sich die Konkurrenz um die schwindenden Sourcen einer halbwegs erträglichen und würdigen Existenz. Um dem Widerstand gegen forcierte Ausbeutung und Ausgrenzung die Spitze zu nehmen und ihn in Bahnen zu lenken, die Verwertungsregime und Staatsräson unangetastet lassen, schürt man insbesondere Islamfeindlichkeit als kulturalistisches und sozialrassistisches Ventil, das im Fremden des muslimischen Mitmenschen ein vordringliches Gefahrenpotential verortet, welches man auf dem Wege rabiatester Durchsetzung westlicher Suprematie aus dem Feld schlagen müsse. Indem man Einzelphänomene und Minderheitsströmungen diskreditiert und generalisiert, entwirft man unzulässigerweise und zugleich gezielt eine umfassende Bezichtigung "des Islam" als fortschrittsfeindliche und höchst aggressive Parallelgesellschaft, welche die Grundfesten hiesiger Kultur und Werte zu untergraben trachte.

Im Zuge dieser Offensive wird ein Feindbild propagiert, das den vorgeblichen Gegner bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und mit Fehleinschätzungen überfrachtet. Um so notwendiger ist eine sachkundige Korrektur dieser entufernden Vorurteilslage, wie sie der Islamwissenschaftler Dr. Sadik Hassan Itaimish im Rahmen des Kongresses "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" geleistet hat. Er studierte in Bagdad und war Assistenzprofessor an der Universität Mossul/Ninive im Irak. 1982 flüchtete er nach Deutschland, wo er Islamwissenschaft studierte. Seit Anfang der 90er Jahre ist er Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule Freiburg für das Fach Islamwissenschaft. Am Rande des Kongresses nahm der Schattenblick die Gelegenheit wahr, ein Gespräch mit Dr. Sadik Hassan Itaimish zu führen.

Sadik Hassan Itaimish - Foto: © 2012 by Schattenblick

Sadik Hassan Itaimish
Foto: © 2012 by Schattenblick
Schattenblick: In Deutschland und Westeuropa greift Islamfeindlichkeit um sich, während hierzulande im gleichen Zuge der Islam als rückständig und gefährlich charakterisiert wird. Was würden Sie darauf erwidern?

Sadik Hassan Itaimish: Darauf gibt es mehrere Antworten. Zunächst einmal muß man die Situation betrachten und sich fragen, von welchem Islam die Leute sprechen. Wird da von den Muslimen gesprochen, die sich in dieser Gesellschaft nicht ordentlich benehmen und vielleicht sogar versuchen, sie zu beschädigen oder zu zerstören? Wir denken da an Kaplan in Köln, der sich selbst Kalif von Köln genannt hat und seine Gemeinde jeden Freitag mit dem Schwert in der Hand gegen die deutsche Gesellschaft aufgehetzt und in seinen Predigten gefordert hat, daß man diese Gesellschaft vernichten muß, weil sie nicht islamisch ist. Wenn Herr Giordano so etwas hört, dann ist das Wasser auf die Mühlen seiner Propaganda gegen den Islam. Natürlich hat er mehrmals in seinen Reden auch darüber gesprochen, daß nicht die Muslime das Problem sind, sondern der Islam. Das heißt, wir müssen die Situation ganz genau betrachten: Was wird beobachtet und für das Urteil herangezogen? Hat man die etwa 95 Prozent der Muslime in Deutschland im Blick, die hier friedlich leben und versuchen, sich mehr oder weniger in diese Gesellschaft zu integrieren? Oder betrachtet man die fünf Prozent unter den Muslimen, die auf Haßprediger hören und radikal sind und nur ihre eigenen Ideen gut finden, aber die Ideen der anderen ablehnen? Es hängt also davon ab, mit welchen Muslimen man zu tun hat.

SB: Nun wird vielfach gesagt, der Islam als Religion habe bestimmte Elemente, die eine derartige Geisteshaltung befördern.

SHI: Der Inhalt der islamischen Lehre hat natürlich in der Geschichte verschiedene Epochen durchlaufen, doch blieb seine Verbindung zu den Menschen stets emotional. Es gab früher islamische Mächte wie die Omajaden, Abbasiden, Osmanen oder Fatimiden, und all diese Reiche haben versucht, ihre Ideen vom Islam im sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bereich umzusetzen. Aber das Hauptthema bleibt die emotionale Berührung der menschlichen Seele. Das ist der Kern des Islam, der im Jahr 610 auf der arabischen Halbinsel entstand. Es ging wirklich nur darum, diese Ebene zu berühren. Man sprach natürlich vom einzigen Gott, vom Paradies nach dem Leben, von Sünden und Strafen, aber das hat alles mit der Seele des Menschen zu tun. In der damaligen Zeit wurde nicht viel über die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation gesprochen. Der Islam hat das Zakat, das Almosen, eingeführt, aber das war nicht das wichtigste. Die Frage war vielmehr, wie man sich in einer Gesellschaft fühlt, die eigentlich nur Steine und Hölzer und Bäume als Götter betrachtet. Wie kann man in einer solchen Gesellschaft leben? Dann kam die Vorstellung eines Gottes, der irgendwo dort oben ist. Man kann ihn weder anfassen noch berühren. Man kann jedoch mit ihm sprechen, aber trotzdem muß man zunächst akzeptieren und respektieren, daß es Gott gibt. Die Beschäftigung des Menschen mit diesen Argumenten und Ideen hat einen hohen Wert unter den Muslimen gehabt.

SB: War der Islam also ursprünglich eine sehr lebenspraktische und vor allem sozialrelevante Bewegung?

SHI: Das wird eigentlich von jeder Religion erwartet, die neu in einer Gesellschaft entsteht. Wenn man die sogenannten goldenen Regeln in allen Religionen betrachtet, dann läßt sich nicht unterscheiden, ob diese Regeln vom Islam kommen oder vom Judentum, von Buddhisten oder Hinduisten. Das ist die Grundmotivation aller Religionen, daß sie die Situation der Menschen verbessern und nicht verschlechtern will. Verschlechtern hätte ja ohnehin keinen Sinn, denn dann sagten die Leute, wir haben es besser, warum sollen wir zurück. Das war natürlich auch die Botschaft des Islam.

SB: Ist diese Botschaft Ihres Erachtens durch eine Dogmatisierung oder durch die Bildung von Hierarchien im Laufe der Jahrhunderte verlorengegangen?

SHI: Von dieser Botschaft ist nur noch die theoretische Denkweise oder Basis übriggeblieben. Praktiziert wurde diese Lehre aber nie wirklich, auch nicht in der sogenannten goldenen Zeit des Propheten oder unter den vier Nachfolgern. Es gab Ansätze für diese Lehre, aber vollständig wurde sie niemals ausgeübt. Dies ist der Wunsch von echten Muslimen, die der Überzeugung sind, daß das wirklich etwas Gutes ist. Aber wann haben wir das erlebt? Wo wurde das je durchgeführt? Da kann man unterschiedliche Fragen aufwerfen. Die eine Gruppe sagt dieses, die andere sagt jenes, aber es bleibt eine theoretische Basis für Menschen, die ihren Glauben vertiefen wollen und dann eine Richtung einschlagen, wie es jeder Mensch für sich versteht. Das hängt mit kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Faktoren zusammen. Deshalb gibt es auch so viele Interpretationen. Die Hauptquelle des Islam ist der Koran, aber auch darüber sind sich viele Leute nicht einig. Es gibt natürlich noch eine andere Quelle, die Sunna, mit Reden von Mohammed und auf der Grundlage seines Verhaltens. Das ist aber noch problematischer, denn damals wurde alles mündlich übertragen, und bei dieser Übertragung ist manches verlorengegangen. Das heißt, in den Quellen des Islam, und ganz besonders in der Hauptquelle, dem Koran, gibt es sehr viele gute Aussagen, die man noch heute verwenden und realisieren kann, aber nur innerhalb eines bestimmten Rahmens. Man kann es nicht überall realisieren, weil die Leute ganz unterschiedliche Auffassungen vom Koran und Islam haben.

SB: Wenn es nicht, wie Sie sagten, die Lehre war, was wurde dann weitergetragen?

SHI: Die Auslegung der Lehre und ihre Interpretation. Das ist heute ein bekanntes und interessantes Forschungsgebiet im Islam. Man unterscheidet zwischen dem Islam in Mekka in der Zeit um 610 bis 622 und dem Islam in Medina von 622 bis 632 und der Zeit nach dem Tod Mohammeds. Der Islam in Mekka war friedlich. Zwölf Jahre lang hatte der Islam nicht von Gewalt gesprochen. Es gab nur wenige Muslime, die in kleinen Gruppen lebten und sich nur verteidigen konnten. Aber es war eine passive Verteidigung. Sie haben Schläge bekommen und wurden angegriffen, aber sie haben sich nur gewehrt. Ist das der echte Islam, oder ist der echte Islam erst in Medina entstanden, wo die Muslime den Bedrohungen mit Gewalt begegneten? Das heißt, in Medina hatten wir eine Gruppe von Muslimen, die von den anderen weiterhin bedroht wurde, aber Gewalt eingesetzt hat. Und dafür erhielten sie vom Koran die Erlaubnis: Wenn ihr euch verteidigt, dann dürft ihr Gewalt anwenden. Das alles nennen sie Dschihad. Dabei handelt es sich um ein arabisches Wort, das eigentlich Anstrengung bedeutet. Den Dschihad kann man auch bei der Arbeit führen oder man strengt sich beim Hausbau an. Auf dem Gebiet der Religion wurde Dschihad im theologischen Sinne jedoch mit Kampf übersetzt. Für die radikalen Muslime bedeutet Dschihad daher nur Kampf. Es geht darum, die anderen zu töten, weil sie potentielle Feinde sind. Wir müssen sie angreifen, damit die Leute uns nicht später angreifen, obwohl der Koran klar sagt: Ihr dürft Leute, die euch friedlich begegnen, nicht angreifen. Das zeigt, daß die Interpretation und Auslegung dieser Lehre in den muslimischen Gruppierungen ganz unterschiedlich ist. Man kann jetzt nicht sagen, ich verstehe meinen Islam so, daher übe ich ihn auch so und so aus, weil der Islam das erlaubt. Der Islam ist, glaube ich, die einzige Religion, in der der Mensch selbst entscheiden kann. Wenn ich etwas für richtig halte, dann mache ich es, wenn ich es nicht für richtig halte, dann mache ich es nicht, aber das ist keine Abweichung von der Religion, sondern eine private Angelegenheit.

SB: Kann man in einem größeren historischen Maßstab sagen, daß in Ländern, die islamisch dominiert waren, auch Minderheiten im großen und ganzen toleriert wurden?

SHI: Ja. Das gilt insbesondere für Spanien und Nordafrika. Die islamische Lehre verlangt das sogar. Das Judentum, Christentum und der Islam gelten als Schriftreligionen mit einer Botschaft. Der Islam betrachtet diese drei Religionen als monotheistische Religionen. Sie verfolgen die Lehre von Abraham, der als Wurzel dieser drei Religionen angesehen wird. Da haben sie etwas Gemeinsames. Deshalb haben die Muslime früher mit Juden und Christen sehr gut zusammengelebt. Wichtig für die Muslime und den Islam ist, daß man an Gott glaubt, und deswegen sollen sie mit den Juden und Christen gut auskommen.

SB: Ich habe in Ihrem Buch eine schöne Formulierung gelesen, wo es sinngemäß heißt, daß man die Unterschiede zwischen Menschen und sozialen Gruppen nicht wegleugnen soll und daß in dieser Wahrung der Unterschiede und der gegenseitigen Achtung überhaupt erst eine Begegnung stattfinden kann.

SHI: Das ist sehr wichtig, wenn man wirklich vom Dialog mit den anderen spricht. Klar, es gibt Unterschiede, aber wir haben auch Gemeinsames. Es gibt sehr viele Gemeinsamkeiten, aber man darf nie die Unterschiede vergessen und sagen, gut, jetzt sind wir Brüder, wir machen das und lassen anderes weg. Im Gegenteil, man muß das tief diskutieren. So habe ich bei Diskussionen wirklich feststellen können, daß man zum Beispiel bei der Trinitätslehre zu Lösungen zwischen dem Islam und dem Christentum kommt. Viele radikale Muslime lehnen die Trinität ab und sagen, die Christen sprechen von drei Göttern. So wird jede Diskussion im Keim erstickt, aber wenn man sich tief mit der Idee beschäftigt, dann kann man sehr viel in dieser Trinitätslehre finden, bis hin, daß es überhaupt keinen Unterschied zwischen Islam und Christentum gibt. Das heißt, der Dialog muß geführt werden, aber auf gleicher Höhe, und nicht nur über Gemeinsamkeiten, sondern auch über die Differenzen, damit man einander besser verstehen kann.

SB: Wenn ich Sie richtig verstehe, muß man hinterher nicht unbedingt gleicher Meinung sein, sondern wichtig ist, daß das Gespräch weitergeführt wird.

SHI: Das Ziel eines jeden Gesprächs kann nicht darin bestehen, am Ende einer Meinung zu sein. Darum darf es nie gehen. Wir sprechen über die Differenzen. Bei den Gemeinsamkeiten verstehen wir uns, darüber brauchen wir nicht zu sprechen, aber über die Gemeinsamkeiten läßt sich eine Annäherung erreichen. Wenn wir das in einem oder zwei, drei Gesprächen erreichen, dann ist das gut, wenn wir es nicht erreichen, ist es auch gut, dann hat man es versucht. Wir haben immer noch die Möglichkeit, miteinander zu reden und einen Dialog zu führen, und das ist immer gut.

SB: Es hat heute auch Kritik von kurdischer Seite gegeben, nicht am Islam, sondern an der Art und Weise, wie er zuweilen vertreten wird. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

SHI: Diese Kritik ist berechtigt, nicht nur die der Kurden, auch vieler Araber, überhaupt von Muslimen, die mit Theologen oder Schriftgelehrten konfrontiert sind, die eigentlich Haßprediger sind und nur verrückte Ideen verbreiten, Zwietracht säen unter den Menschen auch innerhalb der islamischen Religion wie zwischen Sunniten und Schiiten oder Alewiten und Sunniten. Wenn sie also Haßgedanken innerhalb der Religion verbreiten, wo sich doch jeder vernünftige Mensch, der Denkvermögen besitzt, fragen muß, was machen sie denn da? Ist das wirklich noch die Religion? Ist es dann verwunderlich, wenn die Leute sagen, mit dieser Religion will ich nichts zu tun haben?

SB: Ist die Trennung oder Feindschaft von Sunniten und Schiiten in der jüngeren Zeit eigentlich historisch gewachsen oder wird sie derzeit lediglich instrumentalisiert?

SHI: Sie ist historisch gewachsen und wurde auch von den Machthabern benutzt. Es ist eine bekannte Tendenz in der Geschichte, wenn man das Osmanische Reich oder das Sassanidenreich bzw. Safawidenreich in Persien betrachtet. Die Safawiden waren Schiiten, wie es sie jetzt noch im Iran gibt, und die Osmanen waren Sunniten. Als letztere die anderen Länder besetzten, wobei der Irak das Hauptkampfgebiet zwischen diesen beiden Mächten war, haben sie alle schiitischen Elemente vernichtet. Als die Perser an die Macht gelangten, haben sie alle sunnitischen Elemente vernichtet. Aber die Menschen hatten familiären Kontakt, sie haben untereinander geheiratet und besaßen sehr viele Gemeinsamkeiten, unabhängig davon, an welchen Orten sie zusammengelebt haben. Das gilt auch heute noch. Was wir gegenwärtig zum Beispiel im Irak erleben und was von der Presse und den Medien verbreitet wird, dieser Kampf zwischen Sunniten und Schiiten, geht von Gruppierungen aus, die von religiösen politischen Parteien eingesetzt worden sind, um die anderen zu vernichten, damit diese Partei behaupten kann, seht ihr, ich habe euch beschützt, denn diese Leute hatten euch bedroht. Der Konflikt herrscht nicht zwischen den Menschen - das erlebe ich sogar in meiner Familie -, sondern wird zwischen den Parteien ausgetragen, die ihre militärische und finanzielle Macht benutzen, um die anderen zu schädigen.

SB: Könnte auf dieser Ebene der menschlichen Begegnung möglicherweise ein Entwurf liegen, um diesen Konflikt zu beenden? Oder wäre das zu naiv gedacht?

SHI: Nicht naiv, aber es ist schwierig. Menschen, die in diese Richtung denken, haben es schwer in der islamischen Welt. Die Ideen dieser intellektuellen Schicht unterscheiden sich ganz erheblich von denen der Schriftgelehrten. Dennoch sind die demokratischen, säkularen und liberalen Menschen nicht wirklich gegen die Religion, sondern gegen den religiösen Diskurs, der immer benutzt wird, um einfache Menschen mit Parolen für sich zu gewinnen, die mit der Realität nichts zu tun haben. Das ist ein harter Kampf, der auf demokratischem und friedlichem Wege geführt werden muß. Wir versuchen jetzt auf allen Ebenen, diese Ideen zu entlarven, indem wir Bücher und Artikel schreiben oder anderweitig Einfluß nehmen auf einfache Menschen, die nicht lesen und schreiben können, aber natürlich auch informiert werden müssen. Diese Arbeit ist zudem gefährlich, denn die religiösen Gruppierungen erlauben es nicht, daß man ihre Ideen angreift und entlarvt, denn das könnte dazu führen, daß sich die einfachen Menschen dann von ihnen distanzieren.

SB: Ich bedanke mich für dieses ergiebige Gespräch.

Sadik Hassan Itaimish mit SB-Redakteur - Foto: © 2012 by Schattenblick

Sadik Hassan Itaimish mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

22. Februar 2012