Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/173: In Kabul nichts Neues - Afghanistan getreten, geschunden und verlassen (SB)


Skype-Interview mit Reiner Braun am 27. Mai 2013


Protest gegen 'Petersberg II' im LVA LandesMuseumBonn - Foto: © 2011 by Schattenblick

Reiner Braun am 4. Dezember 2011 in Bonn
Foto: © 2011 by Schattenblick

Der Historiker Reiner Braun engagiert sich seit 1982 in der friedenspolitischen Bewegung und ist Geschäftsführer der deutschen Sektion der Juristinnen und Juristen gegen atomare, biologische und chemische Waffen (IALANA). Er gehörte einer siebenköpfigen Reisegruppe aus Deutschland an, die vom 16. bis zum 23. Mai die afghanische Hauptstadt Kabul besucht hat, wo sie mit verschiedenen Gesprächspartnerinnen und -partnern zusammentraf. Die Initiative zu der Reise hatte der deutsch-afghanische Anwalt Karim Popal ergriffen, der Überlebende des NATO-Luftangriffs bei Kundus am 4. September 2009 vor Gericht vertritt.

Schattenblick: Könnten Sie für unsere Leserinnen und Leser eingangs berichten, was Anlaß und Zweck ihres aktuellen Besuchs in Afghanistan war?

Reiner Braun: Wir waren vom 16. bis 23. Mai in Afghanistan. Mit "wir" ist eine Gruppe deutscher Friedensbewegter und Kolleginnen und Kollegen der afghanischen Exil-Community hier in Deutschland gemeint, mit denen wir im Rahmen unserer Friedensaktivitäten in den letzten Jahren verschiedene Veranstaltungen und Protestaktionen zum Frieden und gegen den Krieg in Afghanistan gemacht haben, unter anderem im Zusammenhang mit den Petersberg-II-Aktivitäten. Unser Ziel war auch in Vorbereitung auf das Jahr 2014, aus Sicht der Friedensbewegung so etwas wie ein Fact-Finding zu machen, wie Organisationen, Menschen, Zivilgesellschaft und Politik in Afghanistan die Situation dort einschätzen, um auf diese Weise einen persönlichen Eindruck davon zu gewinnen, wie es in einem Land im Krieg zugeht und wie Menschen, die in diesem Land in ihre Organisationen eingebunden sind, sich vorstellen, wie Alternativen zum Krieg entwickelt und durchgesetzt werden können. Dieses Fact-Finding haben wir natürlich mit dem Versuch verbunden, einen Eindruck von diesem Land zu bekommen, der über das hinausgeht, was unsere afghanischen Kolleginnen und Kollegen bei den verschiedensten Veranstaltungen erzählt haben. Aber vor allen Dingen wollten wir uns mit dem auseinandersetzen, was uns von der offiziellen Politik und den mit dieser Politik verbundenen Gruppierungen immer über Afghanistan erzählt wird. Wir wollten wirklich versuchen, einen persönlichen Eindruck zu gewinnen, und im Endeffekt ist uns das auch gelungen.

SB: Die soziale Lage der afghanischen Bevölkerung hat sich in den Jahren des Krieges und der Besatzung offenbar verschlechtert. Über die Hälfte der Familien lebt in extremer Armut, mehr als ein Drittel der Bevölkerung leidet Hunger, jedes zehnte Kind stirbt, bevor es die Grundschule erreicht. Ist das nicht eine Negativbilanz, die in der hiesigen Berichterstattung sehr viel breiter hervorgehoben werden müßte?

RB: Für mich ist der Human Development Index Report der Vereinten Nationen vom März 2013 der Ausgangspunkt. Im Report ist festgehalten, daß Afghanistan auf Platz 175 der Human-Development-Entwicklung in der Welt von insgesamt 187 Ländern steht und daß das Land gegenüber dem letzten Report vor sieben Jahren noch um drei Plätze zurückgefallen ist. Das ist das katastrophale Ergebnis von zwölf Jahren sogenanntem Aufbau für Frauen- und Menschenrechte und Demokratie. Einen größeren Skandal kann man sich kaum vorstellen. Um es mit einigen Fakten zu untermauern: Eine 80prozentige Analphabetenrate selbst in Kabul, dabei ist die Differenz zwischen Mädchen und Jungen minimal - 79 zu 82 Prozent; Jugendarbeitslosigkeit deutlich über 80 Prozent. In Kabul leben zwischen 120.000 und 250.000 Menschen auf der Straße und nicht in einem dieser von der UN organisierten Slums. Dabei heißt Slums nichts anderes, als daß man eine Plastikdecke über dem Kopf hat. Die Preise für Lebensmittel sind für große Teile der afghanischen Bevölkerung mehr oder weniger unerschwinglich. Eine Fahrt durch die Stadt gleicht einer Fahrt an Bettlern vorbei, die links und rechts am Auto stehen und um einen Cent bitten, um sich irgend etwas zu essen kaufen zu können.

Das ist die einmal kurz dargestellte Situation in Kabul. Dabei ist Kabul als Hauptstadt - denn nur dort konnten wir hin - sicher gegenüber dem Rest des Landes noch positiv herausgehoben. In Kabul gibt es so gut wie keine Kanalisation. Die Stadt ist ungefähr für 200.000 Menschen gebaut worden, aber es leben zwischen sechs und sieben Millionen Menschen dort. Straßen zerstört, eine Umweltverschmutzung, die die Menschen in kaum geahntem Ausmaß krank macht, wir mußten permanent husten, das Wasser ist völlig ungenießbar, weil es für diese Anzahl von Menschen niemals ausgerichtet war. Daß nach zwölf Jahren Intervention angeblich Hunderte von Milliarden in dieses Land hineingesteckt worden sein sollen, ist ein ungeheurer Skandal, den man gar nicht anders beschreiben kann. In Ihrer Frage liegt die Antwort, ich könnte sie höchstens um weitere Fakten ergänzen.

SB: Nach dem, was Sie gesagt haben, kann man von einer Verbesserung der Lage der Menschenrechte eigentlich gar nicht sprechen. Wie ist es um die Situation der Frauen in Afghanistan bestellt, die in den westlichen Ländern als einer der angeblichen Hauptgründe der Intervention stets hervorgehoben wurde? Allerdings hat die Zahl der wegen angeblicher moralischer Verbrechen verurteilten Frauen zugenommen. Auch das 2009 erlassene Gesetz für schiitische Frauen verletzt in massiver Form die Frauenrechte.

RB: Bei der Situation der Frauenrechte muß man zwischen Papier und Realität unterscheiden. Nach wie vor gibt es einen durchaus unseren Gesetzen entsprechenden Erlaß des Präsidenten, der im Prinzip die Frauenrechte anerkennt, die auch in der Verfassung festgeschrieben sind. Dieses Gesetz liegt jetzt dem Parlament vor, das sich bisher geweigert hat, diesem Gesetz zuzustimmen, weil es angeblich moralisch gegen den Islam verstoßen würde. Die Realität der Frauen ist eine völlig andere. Sie sind ein permanentes Vergewaltigungsopfer am Tag und im wesentlichen in der Nacht. Soldaten der unterschiedlichsten Couleure, vor allem aber afghanische Soldaten und Polizisten fallen in die Häuser ein und vergewaltigen die Frauen, nicht als Einzelfall, sondern massenhaft. Diejenigen, die sich darüber beschweren, werden wegen unmoralischem Verhalten vor Gericht gestellt, und eine ganze Reihe von ihnen kommt dann ins Gefängnis.

Gerechtigkeit für Frauen in einem abhängigen Justizsystem kann es überhaupt nicht geben. Die Frauensituation, und das ist nicht nur unsere Aussage, sondern auch die Aussage der UN-Reports der letzten zwei, drei Jahre, hat sich noch einmal drastisch verschlechtert. Über die Frauenrechte in den Provinzen kann kaum jemand Auskunft geben, weil es überhaupt kein Fact-Finding für diese Situation gibt, aber man kann sie sich vorstellen. Das Heiratsalter liegt bei zwölf Jahren, Kinder werden in die Ehe verkauft. Wer von einer Verbesserung der Frauenrechte spricht, lügt entweder hemmungslos oder war nie in diesem Land und hat sich auch nicht mit irgendeiner aus Afghanistan oder von der UN kommenden Statistik beschäftigt.

SB: Nun scheint auch die Sicherheitslage in Afghanistan nicht besser geworden zu sein. Es gab gerade in den zurückliegenden Tagen in verschiedenen Landesteilen vermehrt Angriffe und Anschläge, teilweise mit vielen Todesopfern, in Kabul wie auch im Einsatzgebiet der Bundeswehr. Haben Sie vor Ort den Eindruck gewonnen, daß die Kämpfe wieder in einer Art Frühjahrsoffensive eskalieren?

RB: Ich will darauf ganz persönlich antworten. Wir haben Glück gehabt. Wir sind an dem Tag, bevor die Angriffe wieder in ungeahntem Ausmaß angefangen haben, abgereist. Eine uns folgende Delegation des Deutschen Bundestags mußte in Istanbul wegen der völlig prekären Sicherheitslage und auf dringendste Warnungen der verschiedenen westlichen Geheimdienste, des Auswärtigen Amtes und der Botschaft umkehren. Man kann sich in Kabul überhaupt nicht frei bewegen.

Wir, in Begleitung afghanischer Kolleginnen und Kollegen, hatten uns im wesentlichen im Auto unter großer Hilfe unserer beiden hochverantwortungsvollen Fahrer in Kabul bewegt. Die Sicherheitslage ist und bleibt desaströs. Der politische Grund dafür ist relativ einfach zu erklären. Die Interventionstruppen sind in diesem Land und in Kabul in dem Maße unbeliebt und verhaßt, daß jeder Angriff auf diese und die mit ihnen verbundenen Truppen der afghanischen Regierung von großen Teilen der Bevölkerung durchaus mit Sympathie bedacht wird. Ich will das überhaupt nicht positiv stellen. Jeder Mensch, der stirbt, ist ein Toter zuviel. Es gibt keine Sicherheit in dieser Stadt, in der jeder Zweite eine Waffe trägt. Es gibt Sicherheitsdienste an jeder Ecke, keiner weiß genau, wer wen kontrolliert. Diese Stadt ist in höchstem Maße unsicher. Afghanistan ist ein Land im Krieg, und dieser wird zur Zeit im wesentlichen asymmetrisch ausgetragen. Es ist ein Krieg, in dem die eine Seite Drohnen und Bomben einsetzt, und die andere asymmetrisch mit Terrorakten und menschlichen Bomben antwortet. Es ist ein brutaler, täglich geführter Krieg.

SB: Es gab jüngst eine Kontroverse über Berichte von Folterungen und Morden durch US-Spezialstreitkräfte in den Provinzen Wardak und Logar. Das hat in Afghanistan für große Empörung gesorgt, selbst die Regierung in Kabul mußte reagieren. Konterkariert das Treiben dieser Spezialstreitkräfte nicht die Propaganda auf ganzer Linie, wenn immer wieder behauptet wird, es gelte, die Bevölkerung für westliche Werte zu gewinnen?

RB: Selbst wenn man das heute versuchen würde, wäre dieser Versuch völlig zwecklos. Westliche Werte - was immer das sein mag - sind in den letzten zehn oder zwölf Jahren überall in den Dreck gezogen worden. Es gibt keine afghanische Familie, keine Organisation, keine Institution, die nicht aus persönlicher Bekanntschaft über Folterungen, Verhaftungen, illegitime Inhaftierungen, brutales Vorgehen der ISAF und der Enduring-Freedom-Soldaten berichten kann. Denn das ist einer der wesentlichen Hintergründe dieses wirklich vorhandenen Hasses, den viele Menschen in Afghanistan gegen die Besatzer haben. Sie haben erlebt, was Terror von Besatzern bedeutet, und sie erleben es tagtäglich. Die Amerikaner fahren in ihren Kolonnen durch die Stadt, wie man als Besatzer durch eine Stadt fährt. Ob ein Kind oder eine junge Frau über die Straße geht, ist egal, man fährt weiter. Sie schießen sich nachts die Wege frei. Afghanische Sicherheitstruppen, unterstützt von den sogenannten Guided Troops der ISAF, fallen in Häuser ein. Es herrscht eine tiefe Unsicherheit. Mit westlichen Werten, wie sie uns propagiert werden - Demokratie, Menschenrechte und ähnliches - hat die Realität dort nichts zu tun

SB: Auch das deutsche KSK ist im Land stationiert. Vor kurzem wurde ein Soldat dieser Truppe getötet, wodurch das Thema dieser Operationen für einen Moment in den Blickpunkt des Medieninteresses gerückt ist. Gibt es gesicherte Erkenntnisse, was das KSK genau macht?

RB: Nein, die gibt es nicht. Es gibt die immer bekannten Vermutungen, daß sie mit den Amerikanern zusammen kämpfen. Aber es ist ganz eindeutig, daß die KSK-Truppen Sicherheitsaufgaben im Rahmen der Deutschen Botschaft und von Gebäuden deutscher Institutionen in Afghanistan übernehmen. Sie sollen, das haben wir jetzt wiederum von mehreren Seiten gehört, auch an der Ausbildung afghanischer Spezialeinheiten beteiligt sein.

SB: Nun soll die Bundeswehr nach 2014 mit bis zu 800 Soldaten im Land bleiben und ist damit künftig zweitgrößter Truppensteller nach den USA. Kann man unter diesen Umständen überhaupt von einem Abzug deutscher Truppen sprechen?

RB: Erst einmal muß man sehen, wer überhaupt in diesem Land bleibt. Es ist meiner Ansicht nach schon wieder ein politisches Vorpreschen dieser konservativen Bundesregierung, daß sie als erstes angekündigt hat, mit wieviel Truppen sie bleiben will. Selbst die Amerikaner haben das noch nicht getan, geschweige denn andere Länder, von denen Frankreich, Kanada und Holland klipp und klar erklärt haben, daß sie nicht weiter und nicht wieder in Afghanistan vertreten sein werden. Dieses hat dazu geführt, daß es unserer Meinung nach einen tiefen Streit innerhalb der NATO gibt, so daß der NATO-Gipfel, der für Mitte Juni nach dem G8-Gipfel geplant war, verschoben wird. Wieviel Truppen in diesem Land bleiben, ist völlig offen. Man kann auf keinen Fall von einem Abzug der Interventionstruppen sprechen, sondern nur davon, daß diese Truppen auf Druck der Bevölkerungen in den verschiedenen Ländern reduziert werden und der Öffentlichkeit vorgegaukelt werden soll, daß es sich um einen Abzug handelt. Aufgabe der Friedensbewegung ist sicherlich, die Delegitimierung dieser Stories in den nächsten Monaten noch verstärkter in die Öffentlichkeit zu bringen. Meiner Meinung nach werden die Truppen nicht abziehen, weil Afghanistan nach wie vor ein strategisches Kettenglied imperialer Interessensicherung ist, und zwar sowohl geostrategisch von Indien bis China als auch ökonomisch. Weder die Pipeline- noch die Ressourcen-Diskussion sind ausgestanden, auch sollte niemand vergessen, daß Afghanistan auch ein Nachbar des Iran ist.

SB: In Afghanistan sind mehr als fünfzig internationale Geber und viele hundert NGOs aktiv. Dreiviertel des Staatshaushalts und rund 90 Prozent der öffentlichen Investitionen werden durch die Gebergemeinschaft finanziert. Zugleich geht man davon aus, daß bis zu 90 Prozent aller Hilfsgelder die betroffene Bevölkerung nie erreichen. Anfang Mai wurden millionenschwere Bargeldzahlungen der CIA an Präsident Karsai publik. Wer und was wird da eigentlich dauerhaft alimentiert, und deckt sich das mit der erklärten Absicht, eine unabhängige und funktionsfähige Staatlichkeit zu schaffen?

RB: Wir hatten die Gelegenheit, einen halben Tag in der Umgebung von Kabul zu verbringen, und sind bis in die Berge gefahren, die früher so etwas wie ein Kurort für die Afghanen waren. Auf diesem Weg haben wir links und rechts kleine Schlösser gesehen. Diese Schlösser gehören den Warlords. Die Schlösser sind mit den Geldern der internationalen Gebergemeinschaft finanziert worden und werden es bis heute. Der Kriegsverbrecher Dostum bekommt jeden Monat - die New York Times hat es vorletzte Woche nochmal bestätigt - 100.000 Dollar aus CIA-Töpfen. Die Gelder, die Richtung Karsai flossen, sind bekannt. Die Gelder der internationalen Gebergemeinschaft versickern aus meiner Sicht in drei Bereiche: Erstens bezahlen sie die Warlords und Kriegsverbrecher, zweitens bezahlen sie eine institutionelle Korruption, weil es eine staatlich organisierte, von der Spitze entwickelte und geförderte Korruption ist, und drittens bezahlen sie, um es einmal böse zu sagen, den großen Nichtregierungszirkus, der von dem Krieg und mit dem Krieg lebt und der diesen Krieg durch sein Dasein auch indirekt stützt.

Ich spreche nicht von der praktischen Hilfe, die viele Organisationen leisten, aber viele Organisationen sind nur deswegen in Afghanistan, um das gesamte System zu etablieren. Ich will in diesem Zusammenhang gar nicht US-AID nennen; es sind auch solche Organisationen in diesem Lande, damit sie Parlamentarier beraten, wie man Wahlkämpfe führt. Sie bekommen dafür tausend Dollar pro Tag plus exzellente Unterkunft und so weiter. In diesen sogenannten NGO-Zirkus, wie ich ihn einmal böse benennen will, fließen gigantische Summen. Die dicken Autos in der Stadt, das Hochtreiben der Mieten, die Verteuerung vieler Grundnahrungsmittel sind auch auf den Einfluß dieser Kräfte in diesem Land zurückzuführen. Von daher sind Entwicklungshilfe und Hilfe für Afghanistan auch ganz stark unter dem Aspekt zu sehen, was reale Hilfe zur Selbsthilfe sein kann und nicht nur dazu dient, Institutionen, die von außen in dieses Land gekommen sind und von außen bezahlt werden, weiter am Leben zu halten und ihnen ein privilegiertes Leben zu ermöglichen.

SB: Die Afghanistan-Konferenz im Dezember 2011 in Bonn hat sieben Grundprinzipien für eine politische Friedenslösung formuliert, die sich zumindest auf dem Papier recht gut ausnehmen. Lassen sich diese Prinzipien mit den realen Verhältnissen und absehbaren Entwicklungen auch nur annähernd zur Deckung bringen?

RB: Um es einmal ganz einfach zu sagen, es gibt aus meiner Sicht nur ein Prinzip, das die Voraussetzung zur Findung einer afghanischen Lösung schafft, und dieses Prinzip heißt Abzug. Doch dann kommt das Argument: Dann gibt es sofort wieder Bürgerkrieg. Dieses Argument hat nichts mit der Realität zu tun und ist Propaganda all derer, die den Krieg fortsetzen wollen. Das ist wirklich der Eindruck, den wir alle in dieser Woche gewonnen haben. Auch die Afghanen haben erst aus ihrem eigenen Bürgerkrieg und aus diesen zwölf Jahren Besatzung gelernt und binden sich heute in vielfältigen Koalitionen der unterschiedlichen Kräfte zusammen, um in Richtung eines Friedens zu arbeiten. Alle diese Kräfte, die im wesentlichen unterschiedlich islamisch orientierte Kräfte sind - die in Opposition zur Regierung stehenden Mullahs, Hekmatyar und Taliban, um einmal die wesentlichen Akteure zu nennen - gehen davon aus, daß nur eine Allparteienregierung unter Abzug der ausländischen Besatzungstruppen einen Übergang und eine Transformation ermöglichen kann, die hoffentlich zu freien, sicher aber freieren und gerechteren Wahlen als jetzt führt. Die Wahlen unter den jetzigen Gesichtspunkten würden genauso illegitim und korrupt sein wie die vergangenen.

Von daher verbindet die fast einmütige Grundposition - wir brauchen diese gemeinsame Regierung - all diese Kräfte. Es gibt zum Beispiel die nationale Koalition für den Abzug aller Truppen, in denen diese Kräfte von Taliban über Hekmatyar bis zu den verschiedenen islamischen Gruppierungen, inklusive der Schiiten, vertreten sind, um eine solche Entwicklung zu fördern. Erkannt und anerkannt von allen wird, daß auch die jetzige politische Führung unter Karsai ein Bestandteil einer solchen Koalition sein muß. Die weitere Entwicklung hängt dann wirklich von den Afghanen selbst ab. Das ist meiner Ansicht nach der einzige Weg, wie man in die Richtung auf einen Frieden kommen kann. Daß ein solcher Friedensprozeß nach 30 Jahren brutalen Krieges nicht in unserem Sinne friedlich verläuft, liegt auf der Hand. Auch nach dem 30jährigen Krieg 1648 war der Friedensprozeß keineswegs friedlich, sondern die Auseinandersetzung hatten noch eine ganze Zeit fortgedauert. Aber die Voraussetzung ist, daß diese Kräfte in Afghanistan gemeinsam eine Übergangs- oder Transformationsregierung, wie sich sich selbst nennen, unter Abzug der Interventionstruppen bilden.

SB: Wird Präsident Karsai in diesem Prozeß überhaupt noch eine Rolle spielen? Er hat selbst angekündigt, daß er im kommenden Jahr nicht mehr kandidieren, sondern sich zurückziehen wolle. Was ist Ihrer Ansicht nach von dieser Ankündigung zu halten?

RB: Ich gebe jetzt einmal die Position wieder, die uns mehrfach von unterschiedlichen Seiten gesagt wurde: Für eine Übergangszeit wäre es wahrscheinlich sogar klug, wenn Karsai Präsident bliebe, um diese Transformationsperiode realisieren zu können. Ich würde auf Ankündigungen in der jetzigen Zeit nicht besonders viel geben, obwohl viele Seiten beteuern und sich aus Gesprächen, die wir mit der Umgebung von Karsai geführt hatten, bestätigen läßt, daß er wirklich amtsmüde und froh ist, wenn er mit dem Geld, das er verdient hat, auch einmal etwas Sinnvolles anfangen kann. Aber da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Er ist für Teile der Bevölkerung durch seinen Kurs, der ihn mindestens verbal und in bestimmten Schritten auch praktisch unabhängiger von den USA macht, eine angesehene Person. Er verfügt zudem in der gesamten Bürokratie, und die ist nicht gering, und auch in bestimmten Kräften des Mittelstandes und der Mittelschicht durchaus über Sympathie. Von daher wird er, glaube ich, in dem Prozeß eine Rolle spielen.

SB: Welche Akteure der Zivilgesellschaft und der politischen Opposition sind Ihres Erachtens zu stärken, und welche Art der Unterstützung halten Sie für geeignet? Wie bewerten sie beispielsweise die Zukunft der demokratischen Kräfte, die sich wie Malalai Joya gegen die Besatzer und die Warlord-Fraktion positionieren?

RB: Malalai Joya ist ein spezielles Problem, weil die Partei, der sie sich angeschlossen hat, sie gerade wieder ausgeschlossen hat. Meiner persönlichen Einschätzung nach handelt es sich dabei um Kräfte, die eine islamische Überzeugung und ein konservatives Weltbild haben, das sicherlich meilenweit von meinem eigenen entfernt ist. Die säkularen Kräfte, um auf eine Oppositionskraft einzugehen, spielen eine gewisse Rolle. Nach eigenen Angaben hat die Solidaritätspartei über 30.000 Mitglieder. Sie ist auch in den meisten Teilen des Landes aktiv und gilt als eine von sehr jungen Menschen geführte Partei, was sie wohltuend von den anderen, in der Regel von alten Männern geführten Organisationen unterscheidet. Trotzdem wird ihre Rolle keine entscheidende sein. Die säkularen Kräfte dieses Landes sind leider marginalisiert oder isoliert. Es gibt eine zivilgesellschaftliche Opposition, die aus Organisationen, die mit Ärzten, Wissenschaftlern und Frauen verbunden sind, zu einem afghanischen Netzwerk zusammengeschlossen ist und die mit verschiedensten Aktivitäten versucht, auch die unterschiedlichsten Kräfte an einen Tisch zu bringen. Es gibt demokratische Opposition im Bereich von Wissenschaft, von Frauen und Medizin, die alle versuchen, politische Alternativen zu entwickeln und an diesem Friedensprozeß dranzubleiben. Trotzdem bleibt, daß ein Friedensprozeß an dem dominanten Einfluß islamisch orientierter Kräfte nicht vorbeikommt, oder andersherum gesagt, ein Friedensprozeß ist ohne diese Kräfte undenkbar. Ich glaube, daß eine säkulare oder auch eine demokratische Opposition einen weiteren Prozeß der gesellschaftlichen Auseinandersetzung erst bewirken wird, wenn auch andere soziale Fragen, Umwelt- und Gesundheitsfragen eine stärkere Rolle spielen als zur Zeit die alles überlagernde Frage von Krieg und Frieden.

SB: Herr Braun, vielen Dank für dieses aufschlußreiche Gespräch.

3. Juni 2013