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INTERVIEW/209: Stimmen aus Irland - wach für die Freiheit, David Cronin im Gespräch (SB)


Interview mit David Cronin am 23. Dezember 2013 in Dublin



David Cronin gehört zu den wenigen Brüsseler Korrespondenten, die wirklich kritisch über das politische Geschehen in der Hauptstadt der Europäischen Union (EU) berichten. Seine aufschlußreichen Artikel kann man unter anderem bei Counterpunch, der Irish Left Review, der Electronic Intifada, der New Europe, dem EUobserver sowie auf dem eigenen Blog, dvcronin.blogspot.de, lesen. 2013 ist Cronins neuestes Buch "Corporate Europe - How Big Business Sets Policies on Food, Climate and War" [1] beim renommierten linken Londoner Verlag Pluto Press erschienen. Über die Klüngelei zwischen Politik und Kapital in Brüssel sowie über die Komplizenschaft der Mainstream-Presse sprach der Schattenblick mit Cronin am 23. Dezember im Dubliner Hotel Westin.

David Cronin im Porträt - Foto: © 2013 by Schattenblick

David Cronin
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Cronin, bitte erzählen Sie uns etwas über Ihren beruflichen Hintergrund und warum Sie auf Ihre Stelle als Brüsseler Korrespondent der Nachrichtenagentur Inter Press Service verzichtet haben?

David Cronin: 1995 fragte mich Patricia McKenna, damals EU-Abgeordnete der irischen Grünen, ob ich ihr Assistent werden wollte. Da ich damals als freiberuflicher Journalist in Dublin lediglich hin und wieder für die Sunday Tribune und den Irish Independent Artikel schrieb, nahm ich das Angebot an und zog nach Brüssel. Nach drei Jahren als McKennas Mitarbeiter war aber Schluß. Das hatte mit ihr nichts zu tun, sondern der Druck und die Arbeitsatmosphäre im Brüsseler Parlament wurden mir zuviel. Heute sind die Arbeitsbedingungen besser; jeder Abgeordnete hat inzwischen drei oder vier Mitarbeiter. Aber damals war ich McKennas einziger Assistent und die Menge an zu erledigenden Aufgaben war einfach enorm. Also wurde ich wieder Freiberufler und habe drei Jahre lang von Brüssel aus in der Dubliner Sunday Tribune regelmäßig EU-bezogene Artikel veröffentlicht. 2001 bekam ich eine Stelle als Journalist bei der European Voice, einer 1995 von der Verlagsgruppe um das internationale Nachrichtenmagazin The Economist gegründeten Zeitung über das EU-Geschehen. Dort blieb ich fünf Jahre. Bei der European Voice habe ich viel gelernt, kam aber am Ende mit der redaktionellen Linie der Zeitung nicht mehr klar.

Als Vorbild für die Gründung der European Voice 1995 diente die Washingtoner Zeitung Roll Call, die ebenfalls zur Economist-Verlagsgruppe gehört und hauptsächlich industriefreundliche Geschichten über das politische Geschehen in der US-Hauptstadt verbreitet. Wenn man für Roll Call oder die European Voice schreibt, arbeitet man weniger als unabhängiger, objektiver Journalist, sondern eher als PR-Gehilfe für irgendwelche Lobbyinteressen. Die European Voice hat regelmäßig Beilagen veröffentlicht, die von der Industrie zum Teil oder ganz finanziert wurden. Als Pazifist kam ich damit nicht klar, an Beilagen für die europäische Rüstungsindustrie mitzuarbeiten. Ich war stets um eine kritische Haltung und Distanz zu den Personen, Parteien und Firmen bemüht, über die wir schrieben, mußte aber letztlich einsehen, daß das bei der European Voice zwecklos war. Der Weggang von der Zeitung war für mich mit finanziellen Einbußen verbunden. Aber was soll's, es gibt wichtigeres im Leben als Geld.

Lange Zeit verfolgte mich der Gedanke, ich müßte kritischer, objektiver schreiben. Bei der European Voice wurden wir stets ermahnt, objektiv zu sein und über beide Seiten der jeweiligen Geschichte zu berichten. Doch schließlich kam ich um die Erkenntnis nicht herum, daß Objektivität im herkömmlichen Journalismus bedeutet, nicht anzuecken und den herrschenden Interessen nicht zu widersprechen. Darum beschloß ich, mich mehr in Richtung investigativer Journalismus zu entwickeln und beim Schreiben keinen objektiven, sondern einen kritischen Standpunkt einzunehmen.

SB: Hat Ihr spektakulärer Versuch, den ehemaligen britischen Premierminister Tony Blair 2010 bei einem Besuch des EU-Parlamentes wegen Kriegverbrechen festzunehmen, irgendwelche negativen Folgen wie Verlust der Akkreditierung als Pressevertreter oder Hausverbot bei den europäischen Institutionen in Brüssel und Strasbourg für Sie gehabt?

DC: Nein, aber spätere Versuche, den israelischen Außenminister Avigdor Lieberman festzunehmen, haben Konsequenzen nach sich gezogen. Bei einer Pressekonferenz Liebermans 2011 in Brüssel bin ich aufgestanden und habe erklärt, ich nehme ihn wegen Kriegsverbrechen in den besetzten palästinensischen Gebieten fest. Ich konnte mein Vorhaben natürlich nicht ausführen. Mein Presseausweis wurde eingezogen, mir jedoch zwei Wochen später zurückgegeben.

SB: Das war Ihnen nach der Geschichte mit Blair nicht passiert?

DC: Nein. Der Unterschied war, daß der Versuch, Blair festzunehmen, im Flur erfolgte, während ich es bei Lieberman während der offiziellen Pressekonferenz im EU-Parlament versucht und sie damit öffentlich gestört habe. 2012 war Lieberman wieder bei der EU zu Besuch, und ich habe das Gleiche gemacht. Damit habe ich den Bogen endgültig überspannt. Die EU-Behörden, die meine Eigenwilligkeit offenbar satt hatten, zogen daraufhin meinen Presseausweis samt Zugangsberechtigung ein. Bereits der erste Versuch, Lieberman 2011 festzunehmen, hatte für mich negative berufliche Folgen gehabt. Damals arbeitete ich als Korrespondent für die Nachrichtenagentur Inter Press Service. Durch die Aktion wurde ich für sie untragbar. Die Trennung erfolgte dennoch im beiderseitigen Einverständnis.

SB: Sind Sie heute noch in Brüssel akkreditiert?

DC: Die Akkreditierung habe ich zwar, aber keine Zugangsberechtigung mehr zu den EU-Gebäuden. Es gibt in Brüssel ein Komitee, in dem die Pressesprecher aller EU-Institutionen sowie Repräsentanten der internationalen Medien vertreten sind. Das Komitee hat nach dem ersten Vorfall mit Lieberman mir gegenüber Milde walten lassen und mir, wie gesagt, meinen Presseausweis nach zwei Wochen wiedergegeben, ihn jedoch nach dem zweiten endgültig eingezogen.

SB: Hat das Ihre Arbeitsbedingungen in Brüssel erschwert?

DC: Beruflich war es meiner persönlichen Meinung nach das Beste, was mir jemals passiert ist. Finanziell ist das jedoch eine andere Sache. Als Journalist hat mich der Einschnitt dazu ermutigt, noch unerschrockener zu recherchieren und weitaus kritischer zu schreiben.

SB: Sie trauern dem Verlust des Zugangs zu den EU-Institutionen nicht nach?

DC: Meines Erachtens ist das, was die allermeisten Journalisten in Brüssel offenbar bereitwillig tun, Hofberichterstattung. Sie geben quasi unreflektiert die Stellungnahmen und Äußerungen der Politiker und deren Referenten wieder. Das Verhältnis zwischen den EU-Institutionen und der über sie berichtenden Presse ist viel zu eng und kumpelhaft. Den Journalisten wird der Eindruck vermittelt, nahe am Entscheidungsprozeß zu sein und hinter die Kulissen zu schauen. Auf diese Illusion lassen sie sich ein. Ich halte es für besser und produktiver, eine gewisse Distanz zu den EU-Institutionen und den dort agierenden Persönlichkeiten zu bewahren. Seitdem ich Persona non grata bin, verfolge ich meine Recherchen zielstrebiger, stelle unangenehmere Fragen und gehe Sachen nach, bei denen ich den Eindruck habe, die Hintergründe sollen im verborgenen bleiben. Wenn einem Hindernisse in den Weg gelegt werden, spornt es manchmal dazu an, sie und noch höhere zu überwinden.

SB: Trotz oder gerade wegen der fehlenden Zugangsberechtigung glauben Sie besser in der Lage zu sein, den Dingen in Brüssel und Strasbourg auf den Grund gehen zu können? Stehen Ihnen die notwendigen Ressourcen und Quellen überhaupt zur Verfügung?

DC: Gewiß. Mein neues Buch "Fortress Europe" über die unheilige Allianz zwischen Kapital und Politik in der EU habe ich geschrieben, ohne ein einziges EU-Gebäude betreten zu müssen. Es geht also. Das hat die Recherchearbeit nicht nennenswert schwieriger als sonst gemacht.

SB: Ihr erstes Buch, "Europe's Alliance with Israel: Aiding the Occupation" handelte vom Verhältnis der EU zum Staat Israel. Sie schreiben häufig für die Electronic Intifada, die den Nahost-Konflikt aus palästinensischer Perspektive analysiert. Woher stammt Ihr Interesse am Nahen Osten und israelisch-palästinensischen Konflikt?

DC: Ich besuchte den Nahen Osten zum ersten Mal im Herbst 2001, rund zwei Wochen nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September. Als Mitglied des Pressekorps und Mitarbeiter der European Voice begleitete ich eine EU-Delegation, die von Europas außenpolitischem Chef, dem Spanier Javier Solana, angeführt wurde. Es ging um die Wiederbelebung des sogenannten Friedensprozesses. Damals waren meine Kenntnisse der Nahost-Problematik recht unterentwickelt. Was ich in Israel und im besonderen in den besetzten palästinensischen Gebieten gesehen habe, hat mich schockiert. Entsetzt hat mich zudem das Verhalten der Staatsvertreter Israels. Ich habe den damaligen israelischen Premierminister Ariel Sharon auf einer Pressekonferenz im Jerusalemer King David Hotel hautnah miterlebt. So eine arrogante Person war mir bis dahin nicht unter die Augen gekommen. Damals tobte die zweite Intifada; regelmäßig kam es zu palästinensischen Selbstmordanschlägen. Auf der Pressekonferenz erklärte Sharon, immerhin hätten die Selbstmordattentate eine gute Seite - die Täter brächten sich selbst um. Die Kaltschnäuzigkeit in diesen Worten hat mich erschreckt.

EU-Außenpolitik war eines der Felder, über die ich für die European Voice schrieb. Lange Zeit habe auch ich die übliche Sichtweise der Beziehung zwischen der EU und Israel geglaubt, nämlich daß sich Brüssel im Nahost-Friedensprozeß als ehrlicher Makler zwischen Israelis und Palästinensern einsetzt. Erst 2007, als ich eine politische Konferenz palästinensischer Solidaritätsaktivisten besuchte, habe ich erfahren, wie eng israelische Regierungsstellen mit EU-Institutionen zusammenarbeiten.

SB: Das wußten Sie vorher nicht?

DC: Nein. Inzwischen ist das Verhältnis der EU zu Israel zu einem wichtigen politischen Thema geworden, wie man anhand der Berichterstattung zum Streit über die im Juni von Brüssel verfügte neue Richtlinie, keine israelischen Projekte in den besetzten palästinensischen Gebieten mehr zu finanzieren, weil die jüdischen Siedlungen dort gegen geltendes internationales Recht verstoßen, sehen kann. In diesem Fall ist es der palästinensischen Solidaritätsbewegung tatsächlich gelungen, die Verwicklung der EU in die Repressionspolitik Israels den Palästinensern gegenüber zu einem Thema des öffentlichen Diskurses zu machen.

SB: Wie bedeutend ist das Verhältnis zwischen der EU und Israel für beide Seiten Ihrer Meinung nach? Warum sind ist die Beziehung der EU zu Israel etwas Besonderes im Vergleich zu anderen Nachbarländern wie Rußland, der Ukraine, Ägypten oder Tunesien?

DC: Man könnte natürlich die Geschichte der europäischen Juden und die Entstehung Israels zur Erklärung anführen. Ich möchte dagegen den Blick auf Entwicklungen neueren Datums richten. Die Israelis haben die Angriffe vom 11. September 2001 in den USA für ihre strategischen Zwecke geschickt ausgenutzt. Am Tag der Flugzeuganschläge erklärte der heutige israelische Premierminister Benjamin Netanjahu im US-Fernsehen, diese seien "gut" für Israel, denn nun würde die restliche Welt endlich den "Terrorismus" begreifen, dem Israel seit Jahren ausgesetzt ist. Parallel dazu haben die europäischen Waffenkonzerne in Reaktion auf 9/11 schon länger bereitliegende Pläne aus der Schublade herausgeholt, bei denen es angeblich um "Sicherheitsforschung", aber im Grunde um die großzügige Subventionierung und den Ausbau der Rüstungsindustrie durch die EU geht. Auf der Basis entsprechender Konsultationen hat die EU 2007 ein Programm der Sicherheitsforschung beschlossen, in dem Projekte wie die Entwicklung von Drohnen und die Meeresüberwachung - letztere zwecks Abwehr von Armutsflüchtlingen - vorgesehen sind. Israel, das bereits am wissenschaftlichen Forschungsprogramm der EU beteiligt war, hat sich seitdem bei der Beantragung und Bewilligung von EU-Forschungsgeldern für Projekte im Bereich der Sicherheit hervorgetan. Schließlich gehört das kleine Land neben Großmächten wie den USA, Rußland und China zu den führenden rüstungsexportierenden Staaten der Welt.

Wann immer der Aufruf ertönt, die EU müsse mehr für die gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik tun, kann man sicher sein, daß die israelische Rüstungsindustrie mit entsprechenden Lösungen aufwartet. Auf dem jüngsten Treffen des Europäischen Rats in Brüssel am 19. und 20. Dezember haben die Staats- und Regierungschefs eine Vertiefung der gemeinsamen Verteidigungspolitik, einschließlich der Aufstockung der Forschungsgelder für Rüstungsprojekte, beschlossen. An der Vorbereitung des Gipfels war auch die Europäische Verteidigungsagentur, die praktisch ein Spielball der Rüstungindustrie ist, beteiligt. Zu diesem Zweck hatte die European Defence Agency (EDA) Mitte Dezember ein Hintergrunddokument veröffentlicht, in dem der erfolgreiche Testeinsatz von Drohnen im zivilen Luftraum Europas - im vergangenen Sommer in Spanien, um genau zu sein - vermerkt wurde. Um die Drohnentechnologie weniger bedrohlich erscheinen zu lassen, werden diese im Dokument Remotely Piloted Aircraft Systems (RPAS) genannt. Wenn es nach den EU-Bonzen geht, soll offenbar nur noch von "ferngesteuerten Flugsystemen" und nicht mehr von unbemannten Flugzeugen, geschweige denn von Drohnen, die Rede sein. Im besagten Dokument wird erwähnt, daß bei den Testanordnungen auf der Iberischen Halbinsel Drohnen vom Typ Heron zum Einsatz kamen, nicht aber, daß diese von Israel Aerospace Industries (IAI) hergestellt werden. Also profitiert Israel direkt von der Militarisierung der EU und trägt in nicht geringem Maße auch noch dazu bei.

David Cronin, am Tisch sitzend, erläutert Hintergründe - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Wie schätzen Sie den aktuellen Stand der Militarisierung der EU ein? Wird sich die EU mit ihrer Rolle als Juniorpartnerin der USA im Rahmen der NATO begnügen oder strebt sie nach dem Status als Supermacht?

DC: Der Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat, stellt ganz klar fest, daß die Zuständigkeit für die Verteidigung Europas bei der NATO liegt. Wie es die weltbekannte Politikanalytikerin Susan George einmal ausdrückte, bedeutet der Lissaboner Vertrag im Grunde, daß der Präsident der Vereinigten Staaten der Oberbefehlshaber nicht nur der amerikanischen, sondern auch der europäischen Streitkräfte ist. Die Idee einer militärisch eigenständig agierenden EU gehört zu den Horrorvisionen der Neokonservativen in den USA, hat aber mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Die Vertreter der US-Rüstungsindustrie sind dagegen vom angestrebten Ausbau der europäischen Verteidigungsfähigkeit sehr angetan. Konzerne wie Boeing, Lockheed Martin und Raytheon wittern neue Geschäftschancen.

SB: Umgekehrt gehören EADS und BAE Systems mit zu den wichtigsten Auftragspartnern des Pentagons.

DC: Stimmt genau. BAE Systems zum Beispiel ist nicht nur der zweitgrößte Waffenexporteur der Welt, sondern beschäftigt in den USA inzwischen mehr Leute als im Stammland Großbritannien. Derweil versucht sich die Rüstungsindustrie als derjenige Akteur zu verkaufen, der Europa und die USA aus der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise herausholen könnte. Hierbei überschätzt sie die eigene Bedeutung für den Arbeitsmarkt in der EU total. Dessen ungeachtet arbeiten die US-Rüstungskonzerne mit ihren europäischen Konkurrenten bzw. Partnern recht eng zusammen, was die Lobbyarbeit und den politischen Einfluß in Brüssel betrifft. Dort steht eine der bedeutendsten Denkfabriken: die Security and Defence Agenda (SDA), die von den EU-Mitgliedsstaaten sowie von den großen europäischen und amerikanischen Rüstungsunternehmen finanziert wird. Die SDA machte sich vor nicht allzu langer Zeit für eine Militärintervention des Westens in den Bürgerkrieg in Syrien stark. Sie gehört auch zu den Befürwortern eines stärkeren europäischen Engagements im Bereich der Drohnentechnologie.

SB: Dieser Tage werden in Kongo erstmals Drohnen, die von Selex, einem Tochterunternehmen der italienischen Rüstungsfirma Finmeccanica hergestellt werden, im Rahmen einer UN-Friedensmission eingesetzt.

DC: Das überrascht mich nicht im geringsten. Vorhin erwähnte ich die Verwendung von Drohnen, um potentielle Migranten im Mittelmeer und an den Außengrenzen der EU aufzuspüren und einzufangen. Frontex, die in Warschau sitzende EU-Grenzagentur, ist nicht zufällig die erste europäische Institution, die über eigene Drohnen verfügt. Finmeccanica arbeitet eng mit ihr zusammen. Wie ich schon in meinem Buch schrieb, hat Finmeccanica bei der Schaffung von Fortress Europe eine wichtige Rolle gespielt. Als Muammar Gaddhafi in Libyen noch das Sagen hatte, lieferte Finmeccanica an Tripolis größere Mengen an Rüstungsgegenständen, mit denen die Libyer ihr Land für Einwanderungswillige in die EU aus dem restlichen Afrika praktisch unpassierbar machte.

SB: Vor dem Hintergrund der ohnehin engen Zusammenarbeit zwischen der EU und den USA verhandeln derzeit beide Seiten über die Schaffung einer Transatlantischen Freihandelszone. Bündeln Amerikaner und Europäer ihre Kräfte als Antwort auf die Herausforderung durch China und andere aufstrebende Wirtschaftsmächte wie Brasilien und Indien?

DC: Ich denke schon. Vor rund zehn Jahren, als Peter Mandelson das Amt des EU-Handelskommissars bekleidete, war die Transatlantische Freihandelszone ein Wunschtraum in weiter Ferne. In den letzten zwei, drei Jahren dagegen hat sie begonnen, konkrete Formen anzunehmen. Barack Obama hat den zügigen und erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen darüber in seiner letzten Rede zur Lage der Nation offiziell zum Ziel erklärt. Die Pläne zur Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (THIP) stellen die Blaupause für eine Herrschaft der Konzerne in den USA und der EU dar. Ich bezeichne sie als Kentucky-Fried-Chicken-Abkommen. Das Hühnerfleisch, das man als KFC-Konsument in Europa oder den USA bekommt, ist nicht dasselbe. In den USA dürfen die Lebensmittelhersteller und Fast-Food-Ketten Hühnerfleisch, das für den menschlichen Verzehr bestimmt ist, mit Chlor behandeln. In der EU durfte man das bisher nicht. Sollte die Transatlantische Freihandelszone wie geplant bis Ende 2014 beschlossen werden, dürfte auch in Europa im Chlorbad gewaschenes Hühnerfleisch verkauft werden. Dies soll im Rahmen der Rechtsanpassung - der Vereinheitlichung amerikanischer und europäischer Bestimmungen in Bereichen wie Verbraucherschutz, Umweltstandards et cetera - erfolgen, wozu das Unternehmen Yum!, der größte Fast-Food-Restaurantbetreiber der Welt und Mutterkonzern von KFC, Pizza Hut und Taco Bell, dem Verhandlungsteam der Obama-Regierung bei den THIP-Gesprächen ein entsprechendes Positionspapier unterbreitet hat. Man kann davon ausgehen, daß die Vereinheitlichung der Regeln zu einer Absenkung der Standards und Schutzbestimmungen auf beiden Seiten des Atlantiks führen wird.

SB: In vielen Bereichen - nehmen wir die Umweltbestimmungen oder den aktuellen Streit zwischen Brüssel und London um die Reisefreiheit für Bulgaren und Rumänen - gelten die EU-Richtlinien häufig als progressiver und menschenfreundlicher als diejenigen der Nationalstaaten. Stimmt dieser Eindruck oder handelt es sich um eine Illusion? Wenn nicht, müssen wir angesichts der erstarkten Rechten in Europa mit einem Abbau der Schutzbestimmungen und Bürgerrechte auf EU-Ebene rechnen?

DC: Ob die EU-Gesetzgebung fortschrittlicher ist als die der Nationalstaaten, hängt vom jeweiligen Mitgliedsland ab. Auf dem Gebiet des Umweltschutzes schneiden die Bestimmungen der EU im Vergleich zu denjenigen der Länder des europäischen Südens besser, im Vergleich zu denen der nördlichen Staaten dagegen schlechter ab. Ich habe Freunde in Skandinavien, die sich über das Engagement der Linken im EU-Parlament für den Erhalt von Sozialstandards wundern, die unter denen liegen, die man in Dänemark, Schweden und Finnland durch einen langen, harten Kampf erstritten hat. Das Problem ist, daß in den Industriestaaten eine breitangelegte Offensive im Gange ist, die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts hinsichtlich Arbeitsrecht, Umweltschutz und Gesundheitsstandards peu-à-peu zu beseitigen. Hierzu paßt die Kampfrede des konservativen Premierministers Großbritanniens, David Cameron, vom Oktober, wonach in der EU die Zeit der Deregulierung gekommen sei.

Darum machen sich zum Beispiel Klimaaktivisten um die THIP große Sorgen. Sie befürchten, daß in deren Rahmen die Bemühungen um eine Reduzierung der Treibhausgase auf dem Altar des Profitstrebens geopfert werden. Schließlich sieht das Abkommen die Schaffung von gesonderten Schiedsgerichten vor, vor denen die Großkonzerne ihre Rechte als Investoren werden einklagen können, sollte ihre unternehmerische Freiheit von den jeweiligen Regierungen eingeschränkt werden. Auf diese Weise könnten die Gesetzgebung der Einzelstaaten sowie die Richtlinien der EU ausgehebelt werden. Die aktuelle Klage des US-Energieunternehmens Lone Pine gegen den Staat Kanada auf finanzielle Entschädigung wegen ausgebliebener Einnahmen infolge des von Ottawa verhängten Fracking-Moratoriums zeigt, wohin die Reise geht.

SB: In Ihrem Buch "Corporate Europe" thematisieren und kritisieren Sie den Einfluß der Konzerne in Brüssel. Meinen Sie, daß er dort stärker als in den nationalen Hauptstädten ausgeprägt ist?

DC: Ich denke schon. Wenngleich es keine absoluten Zahlen gibt, wird die Anzahl der in der EU-Hauptstadt tätigen Lobbyisten zwischen 15.000 und 30.000 geschätzt. Das reicht vom Mitarbeiter einer Umweltschutzorganisation bis zum PR-Berater von Monsanto. Ungefähr zwei Drittel der Lobbyisten arbeiten für die Privatwirtschaft und nur ein Drittel für Gewerkschaftsverbände, Menschenrechtsorganisationen, Umweltgruppen usw., was auf den ungleich stärkeren Einfluß der Konzerne hinweist. Brüssel liegt gleich hinter Washington auf Platz zwei, was die Konzentration der Lobbyisten pro Quadratkilometer betrifft.

SB: Und setzen sie ihre Interessen durch?

DC: Klar tun sie das. Das ganze politische System in Brüssel richtet sich nach den Bedürfnissen der Industrielobby. Bei jeder Initiative in Brüssel, um ein neues Gesetz auf den Weg zu bringen oder, was in letzter Zeit immer häufiger geschieht, irgendwelche bestehenden Regeln abzuändern oder abzuschaffen, wird eine sogenannte Expertengruppe gebildet. Führt man sich die Zusammensetzung solcher Expertengruppen vor Augen, stellt man fest, wie sehr sie von den jeweiligen Industrievertretern dominiert werden. Natürlich werden auch Gewerkschaftsvertreter, Umweltaktivisten und Bürgerrechtler zur Teilnahme eingeladen, aber in viel geringerer Zahl und quasi nur wegen der Alibifunktion, das jeweilige Thema habe man mit allen relevanten gesellschaftlichen Gruppen beraten. Die Verhandlungen mit den Amerikanern über die Schaffung einer Transatlantischen Freihandelszone werden mehr oder weniger von den Großkonzernen vordiktiert, und das hinter verschlossenen Türen und an der Bevölkerung und den Parlamenten vorbei.

Freunde von mir sind vor kurzem an die Liste der Vorbereitungstreffen herangekommen, welche die EU-Kommission und das Amt des EU-Handelskommissars mit Außenstehenden zum Thema THIP in letzter Zeit geführt haben. Daraus geht hervor, daß an den Beratungen mit den EU-Beamten hauptsächlich Industrievertreter teilnahmen. Wenn ich mich richtig erinnere, waren mehr als 93 Prozent der Treffen mit Konzernlobbyisten. Bei der Generaldirektion Handel in Brüssel, der der EU-Handelskommissar vorsteht, sehen die Mitarbeiter ihre Funktion darin, der europäischen Industrie zu dienen und ihr Chancen und Vorteile auf den Weltmärkten zu verschaffen. Manchmal schminken sie das mit dem Verweis auf die Notwendigkeit des Erhalts der "sozialen Marktwirtschaft", die, wenn ich mich nicht täusche, eine deutsche Ideologie - Stichwort Ludwig Erhard - ist. Heute ist es Mode von den Konzernen, von ihrer "sozialen Verantwortung" zu reden und so zu tun, als ob sie sie wahrnehmen würden.

Was die Eingangsfrage betrifft, so gibt es für mich keine Zweifel, daß die Lobbyisten der Großkonzerne stärkeren Einfluß in Brüssel als in den Hauptstädten der EU-Mitgliedsstaaten ausüben. Gleichwohl besteht ein enger Zusammenhang zwischen den Zielen, welche die Lobbyisten in Brüssel und in den nationalen Hauptstädten verfolgen. Ein gutes Beispiel ist die deutsche Autoindustrie, die Angela Merkels Christlich-Demokratischer Union bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst mit großzügigen Spenden in sechsstelliger Höhe zum Sieg verholfen hat. Merkel bedankte sich dadurch, daß sie als deutsche Bundeskanzlerin ein Veto gegen die geplante Einführung schärferer Abgaswerte bis 2020 einlegte und eine bereits erzielte Kompromißlösung zwischen EU-Parlament und -Kommission torpedierte.

SB: Viele einfache Menschen in Europa beschweren sich über die Regulierungswut der EU-Behörden. In Ihrem Buch haben Sie die Kampagnen der EU gegen das Rauchen gelobt. Wäre es nicht besser, die EU würde sich mit den Inhalt der Zigaretten befassen und für eine Reduzierung der giftigen Zusatzstoffe sorgen, statt den Rauchern das Rauchen zu erschweren und deren Verhalten mit drakonischen Maßnahmen verändern zu wollen?

DC: Ich kann mich nicht entsinnen, irgend etwas, was die EU tut, gelobt zu haben. Ich habe, meine ich, lediglich positiv über den Versuch der EU-Kommission, Zigarettenschachteln ohne Werbung und Markenmerkmale zu verordnen, berichtet. Dagegen hat die Tabakindustrie eine große PR-Offensive gestartet und die entsprechende Verordnung verhindern können.

SB: Im Fokus all dieser Anti-Tabak-Kampagnen steht der einfache Raucher. Sollte die EU nicht besser ihm die Entscheidung, ob er rauchen will oder nicht, überlassen und sich hauptsächlich mit der Verringerung der gesundheitsschädlichen Ingredienzen befassen? Man hat den Eindruck, in Sachen Rauchen ziehen es die Politiker und Beamten der EU lieber vor, den einfachen Bürger mit Verboten zu belegen, als sich mit der mächtigen Tabakindustrie anzulegen.

DC: Derzeit preist die Tabakindustrie E-Zigaretten als die Antwort auf die Frage nach einem Rauchen ohne Gesundheitsgefahr. Ich bin kein Experte für den Inhalt von herkömmlichen und elektronischen Zigaretten. Dennoch halte ich die Behauptungen, welche die Einführung der E-Zigaretten auf den Markt begleiten, für ein Täuschungsmanöver. Im Segment der E-Zigaretten vermuten Branchenriesen wie Philip Morris große Absatzchancen. Umfragen zufolge haben allein in Frankreich bereits 60 Prozent der Menschen zwischen 18 bis 24 Jahren E-Zigaretten probiert. Dennoch vermuten einige Gesundheitsexperten, daß das Suchtpotential von nikotinhaltigen E-Zigaretten höher liegt als bei herkömmlichen Glimmstengeln und daß hier ein neues Problem heranwächst. Was mich vor allem stört, ist die Verlogenheit der Tabakindustrie und ihrer Lobbyisten. Die Motive derjenigen, die sich in EU-Parlament und -Kommission für die Unbedenklichkeit von E-Zigaretten stark machen, sind meines Erachtens fragwürdig. Hierzu zähle ich zum Beispiel die liberale EU-Parlamentarierin Frederique Ries aus Belgien, die sich seit Jahren in Brüssel und Strasbourg durch einen besonderen Einsatz für Industrieinteressen hervortut. Meiner Meinung nach ist alles, was sie sagt, mit Vorsicht zu genießen.

SB: Welche Möglichkeiten sehen Sie, die EU im progressiven Sinne zu reformieren und größeren sozialen Ausgleich zu erzielen? Wie läßt sich der neoliberale Kurs Brüssels und der Einzelstaaten stoppen und in sein Gegenteil verkehren?

DC: Ich halte die EU für ein ziemlich undemokratisches Konstrukt. 2014 stehen Wahlen zum EU-Parlament an. Auch wenn ich es begrüßen würde, sollten hierbei die linken europäischen Parteien die Mehrheit zurückerobern, verspreche ich mir nicht allzuviel von einem solchen Ausgang. Ich bin kein Verfechter eines Wahlboykotts. Ich denke schon, daß soviele Menschen wie möglich für linke Kandidaten stimmen sollten. Dennoch ist das EU-Parlament letztlich das demokratische Feigenblatt für ein zutiefst undemokratisches Staatengebilde. Die Tatsache, daß die Europäische Zentralbank (EZB) keiner demokratischen Kontrolle unterliegt, spricht Bände. Dieser Umstand darf nicht akzeptiert und muß verändert werden. Doch für irgendwelche linken Parteien bei der EU-Parlamentswahl zu stimmen, wird die erforderliche Änderung nicht herbeiführen. Eine solch grundsätzliche Kehrtwende in der EU-Finanzpolitik kann nur durch eine richtige Massenmobilisierung erreicht werden. Um die EU ernsthaft und nicht nur scheinbar zu reformieren, bedarf es eines größeren Engagements der einfachen Bürger. Wie es vor zwei Jahren die Occupy-Bewegung in den USA formulierte, müssen sich die 99 Prozent endlich gegen die bisher tonangebenden 1 Prozent auflehnen, die Interessen der Arbeitlosen und Lohnabhängigen zu vier oder fünf Kernforderungen bündeln wie Steuerreform, Verstaatlichung der Großbanken, Klimagerechtigkeit sowie größere Gleichheit in allen sozialen Belangen und sie endlich durchsetzen.

SB: David Cronin, vielen Dank für dieses Interview.


Fußnote:

1. Siehe die Rezension des Schattenblick:
http:\\www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar617.html

Vorderansicht des Westin Hotels samt Eingang an der Westmoreland Street - Foto: © 2013 by Schattenblick

Das Westin Hotel im Zentrum Dublins
Foto: © 2013 by Schattenblick

19. Januar 2014