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INTERVIEW/210: Stimmen aus Irland - Die Wurzeln treiben Keime, Ciarán Mulholland & Francis Quinn im Gespräch (SB)


Interview mit Ciarán Mulholland & Francis Quinn am 28. Dezember 2013 in Dublin



Seit Sinn Féin sich vorerst mit der Teilung Irlands abgefunden hat und die IRA den bewaffneten Kampf gegen die britische Herrschaft im Nordosten der Insel aufgegeben hat, ist das Lager der irischen Republikaner gespalten. Ein großer Teil von ihnen unterstützt den Ansatz von Sinn Féin, über eine Regierungsbeteiligung im Norden und eine wachsende politische Präsenz im Süden über kurz oder lang die Wiedervereinigung Irlands herbeizuführen. Nur eine winzige, aber gefährliche Minderheit, die sogenannten Dissidenten um die "New IRA", lehnt jeden Kompromiß ab und versucht trotz Dauerbeobachtung durch den britischen Inlandsgeheimdienst MI5 und die irische Polizei weiterhin eine militärische Strategie zu verfolgen.

Zwischen diesen zwei Polen gibt es zahlreiche irische Republikaner, die sich zwar keine Rückkehr zum Bürgerkrieg, den sogenannten "Troubles", wünschen, gleichzeitig jedoch mit der Art und Weise, wie Sinn Féin zunehmend sich als bürgerliche Partei etabliert, sich nach der Mittelschicht orientiert und sich von ihrer ursprünglichen Stammwählerschaft in den Arbeitervierteln im Norden und Süden Irlands abwendet, im höchsten Maße unzufrieden sind. Die 1916 Societies, die sich in den letzten paar Jahren in Irland ausbreiten, sind Ausdruck jener Unzufriedenheit. Am Rande einer Gedenkveranstaltung zu Ehren des 1916 von den Briten hingerichteten Freiheitshelden und Menschenrechtlers Roger Casement, die am 28. Dezember auf Dublins berühmtem Glasnevin Cemetery stattfand, sprach der Schattenblick mit Ciarán Mulholland und Francis Quinn über die Hintergründe der neuen Bewegung. Mulholland, der als Anwalt die Familie der 1972 von der IRA angeblich wegen Spionageverdachts umgebrachten Witwe und mehrfachen Mutter Jean McConville vertritt, nimmt in diesem Jahr in Belfast als sozialistischer Kandidat an den nordirischen Kommunalwahlen teil. Hughes, ein ehemaliger IRA-Freiwilliger und -Häftling, der in Cappagh in der nordirischen Grafschaft Tyrone lebt, steht als National Organiser den 1916 Societies vor.

Der Rundturm des Glasnevin Cemetery, umgeben von unzähligen Grabsteinen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Glasnevin Cemetery - Das Nekropolis von Dublin
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Quinn, könnten Sie etwas über die Entstehung und die Ziele der 1916 Societies erzählen und ob zwischen ihnen und der New IRA eine Verbindung besteht?

Francis Quinn: Begonnen hat die Bewegung vor rund vier Jahren in Dungannon mit der Gründung der Thomas Clarke Society, deren Ziele in der Beendigung der Teilung Irlands und der Schaffung einer demokratischen sozialistischen Republik auf der ganzen Insel bestehen. Thomas Clarke stammte aus Dungannon und wurde nach der Niederschlagung des Osteraufstands 1916 gemeinsam mit den anderen sechs Unterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung vom britischen Militär hingerichtet. Wir fühlen uns den in der Unabhängigkeitserklärung von 1916 proklamierten Prinzipien - Selbstbestimmung des irischen Volkes, Befreiung der ganzen Insel von der Fremdherrschaft, Gleichheit und Gerechtigkeit aller Bürger - verpflichtet. [1] Inzwischen gibt es mehr als dreißig 1916 Societies in ganz Irland. Wir sind derzeit eine der am schnellsten wachsenden Bewegungen in Irland und hoffen, eine kritische Masse erreichen zu können, um unsere Forderung nach einer Volksbefragung zum Thema der Wiedervereinigung politisch durchzusetzen. Wir haben keinerlei Verbindungen zu irgendeiner paramilitärischen Organisation. Wir sind eine reine Bürgerinitiative, die an den traditionellen Zielen des irischen Republikanismus festhält.

SB: Herr Mulholland, könnten Sie Ihren eigenen politischen Werdegang, auch zum Beispiel wie Sie zu den 1916 Societies gestoßen sind, schildern?

Ciarán Mulholland: Ich habe mich bereits als Jugendlicher politisch engagiert - zunächst als Mitglied von Sinn Féin. Aus Unzufriedenheit mit der politischen Kultur innerhalb von Sinn Féin bin ich später wieder aus der Partei ausgetreten. Innerhalb von Sinn Féin werden keine wirklichen politischen Debatten geführt, und es kommt auch zu keinem parteiinternen Dialog. Die Marschrichtung wird von der Führung vorgeschrieben. Widerspruch wird nicht geduldet. Deshalb stellt Sinn Féin für mich quasi eine faschistische Organisation dar. Mich beschäftigen soziale und wirtschaftliche Themen. In meinem Wohnort in der katholisch-republikanischen Hochburg West Belfast habe ich nicht den Eindruck, daß sich Sinn Féin für die Menschen am unteren Ende der sozialen Skala in ausreichendem Maße einsetzt. Nach dem Weggang von Sinn Féin blieb ich parteiunabhängig. Seit kurzem engagiere ich mich bei den 1916 Societies. Der irische Republikanismus befindet sich derzeit in der Krise, aber die 1916 Societies könnten ihm wieder neues Leben einhauchen, vor allem weil sie eine politische Plattform darstellen, auf der sich Republikaner verschiedener Couleur vereinigen können, und Leuten einen Treffpunkt bieten, um die unterschiedlichen Ideen zu diskutieren und auszutauschen, wie das Ziel eines vereinten Irlands zu realisieren ist.

Ciarán Mulholland im Porträt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ciarán Mulholland
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Herr Mulholland, ist es richtig, daß Sie an den Kommunalwahlen im Mai 2014 als Kandidat der Socialist Party im Belfaster Bezirk Lower Falls teilnehmen?

CM: Nicht ganz. Ich kandidiere als unabhängiger Sozialist im Bezirk Upper Falls/Black Mountain. Das umfaßt die Westbelfaster Andersonstown, wo ich aufgewachsen bin und noch heute wohne. West Belfast braucht eine neue Stimme, jemanden, der eine Alternative zur Sinn Féin bietet. Die Unzufriedenheit mit Sinn Féin fand ihren Ausdruck in der sehr niedrigen Wahlbeteiligung in West Belfast bei den letzten Kommunalwahlen vor vier Jahren. Ich glaube die Wahlbeteiligung dort gehörte zu den niedrigsten in ganz Nordirland.

SB: Das deutet auf einen hohen Grad der Apathie und Entfremdung hin.

CM: Ich würde sagen, die Leute sind nach wie vor an der Politik interessiert, jedoch können viele von ihnen mit dem Kurs von Sinn Féin nichts anfangen und gehen deshalb nicht mehr zur Wahl. Deswegen habe ich mich bei den 1916 Societies engagiert und mich entschlossen, mich als unabhängiger Sozialist bei den Kommunalwahlen aufzustellen. [2] Viele, die meine Kandidatur unterstützen, gehören nicht den 1916 Societies an. In meinem Wahlprogramm befasse ich mich mit den grundlegenden Problemen der Menschen in West Belfast, die man auf den Begriff "heating and eating" [gemeint sind Wohnungen, Heizung und Nahrungsmittel - Anmerkung der SB-Redaktion] verkürzen könnte. Dazu kommen Arbeitslosigkeit, Verkehrsstau et cetera. Meines Erachtens müssen die alltäglichen Probleme der Menschen jedem echten republikanischen Sozialisten am Herzen liegen.

SB: Ihre Kandidatur legt den Schluß nahe, daß sich Sinn Féin in West Belfast und den anderen sozialen Brennpunkten in Nordirland nicht oder nicht genug um diese Themen kümmert.

CM: Für mich verhält sich Sinn Féin genau wie die andere große katholisch-nationalistische Gruppierung, die Social Democratic Labour Party, und die protestantisch-probritischen Parteien Democratic Unionist Party und Ulster Unionist Party. Weder vertreten diese bürgerlichen Formationen die Wähler, noch setzen sie sich wirklich für sie ein, sondern zwingen den einfachen Menschen eine Austeritätspolitik auf, die ohnehin von London diktiert wird. Im nordirischen Parlament Stormont tun alle so, als seien sie für die Kürzungen nicht verantwortlich, setzen sie auf Provinzebene dennoch in die Tat um.

SB: Bei den aktuellen Verhandlungen unter der Leitung des US-Sondergesandten Richard Haass zu den Streitthemen Märsche, Flaggen und Aufarbeitung der Geschichte des Bürgerkrieges ist absehbar, daß die Vertreter der nationalistischen und unionistischen Parteien keinen Weg aus der Sackgasse, in der sie seit über einem Jahr stecken, finden werden. Wie schätzen Sie die aktuelle politische Lage in Nordirland ein?

Fahnenträgerin mit der irischen Trikolore, Redner und Harfenistin vor einem großen keltischen Kreuz - Foto: © 2014 by Schattenblick

Begrüßungsrede auf der Gedenkveranstaltung der 1916 Societies am Grabe Roger Casements
Foto: © 2014 by Schattenblick

CM: Ich bin der Überzeugung, daß die Probleme in Nordirland nur im Rahmen der Wiedervereinigung beider Teile der Insel gelöst werden können. Das voraussichtliche Scheitern der Haass-Gespräche deutet auf die Mängel des Karfreitagsabkommens hin. Es diente ohnehin nur dem Ziel der Aufrechterhaltung des unionistischen Vetos. Dies bestätigte sich besonders beim Abschluß der Nachfolgeabkommen von St. Andrews 2006 und von Hillsborough 2010. Beide hatten deutliche Zugeständnisse der nationalistischen Seite an die Unionisten zur Folge. Darauf laufen auch die Haass-Gespräche hinaus. Deswegen geben sich die unionistischen Unterhändler auch so wenig kompromißbereit.

Was das schwierige Thema der Geschichtsaufarbeitung betrifft, so glaube ich, daß wir nur vorankommen werden, wenn der britische Staat die Wahrheit über seine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit den loyalistischen Untergrundarmeen offenlegt. Bis das geschieht ist alles andere Augenwischerei; auf eine Aufarbeitung der schweren Last des dreißigjährigen Bürgerkrieges, die den Namen verdient, wird man vergeblich warten.

SB: Wie bewerten Sie beide als katholische Nationalisten aus dem Gebiet nördlich der inneririschen Grenze im Vereinigten Königreich das Engagement der Regierung in Dublin in den nordirischen Angelegenheiten? Das Karfreitagsabkommen sieht die Möglichkeit der friedlichen Wiedervereinigung Irlands vor, sofern eine Mehrheit der Bevölkerung in Nordirland dies will. Heute erscheint die Wiedervereinigung Irlands genauso fern wie damals vor 15 Jahren. Liegt das womöglich daran, daß sich die politische Elite im Süden Irlands mit der Spaltung abgefunden hat und am Status quo festhält?

CM: Um es einmal klarzustellen: 1998 hat die Bevölkerung in der Republik Irland nicht wie die Menschen im besetzten Norden mehrheitlich der Annahme des Karfreitagsabkommens, sondern lediglich der Streichung der Artikel II und III der irischen Verfassung zugestimmt. Die beiden Artikel begründeten den Anspruch der Republik auf ganz Irland als Staatsterritorium. Als Entgegenkommen den Unionisten gegenüber wurden sie aus der Verfassung der Republik gestrichen und durch die Erhebung der Wiedervereinigung Irlands zum Staatsziel ersetzt. Damals hieß es, dies würde ein Zusammenwachsen dessen, was zusammengehört, vorantreiben. Wie wir leider feststellen müssen, war das nicht der Fall.

Das Interesse Dublins, sich mit den Zuständen im Norden Irlands zu befassen, müßte man als gering bis gar nicht vorhanden bezeichnen. Das Interesse der Menschen im Süden am Schicksal ihrer nördlichen Brüder ist auch recht schwach ausgebildet. Das hängt auch mit der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise zusammen, welche die Republik Irland schwer getroffen hat. Die Menschen dort müssen um ihr nacktes Überleben kämpfen und fühlen sich von der nationalen Frage wenig tangiert. Gleichzeitig sind die wirtschaftlichen Probleme beider Teile Irlands mitunter auf die politische Spaltung der Insel zurückzuführen. Namhafte Ökonomen vertreten seit Jahren die Auffassung, daß Irland nur prosperieren kann, wenn es wiedervereinigt ist und eine Wirtschaft für die ganze Insel existiert.

FQ: Bereits vor der Teilung haben Experten vor den enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Verwerfungen, die das mit sich bringen würde, gewarnt. Die makroökonomische Entwicklung beiderseits der Grenze seit 1922 hat die Richtigkeit dieser Prognosen bestätigt. Das Karfreitagsabkommen hat den Menschen in Irland keine Möglichkeit gegeben, das Unrecht der Teilung wieder rückgängig zu machen. Deshalb kann man in Irland - ob im Norden oder im Süden sei dahingestellt - nicht von einer wahren Demokratie reden. Bei den 1916 Societies geht es darum, diese Demokratie in Irland wiederherzustellen und den nach wie vor vorhandenen Wunsch der großen Mehrheit der Iren nach einer wiedervereinigten Insel Wirklichkeit werden zu lassen. Die Menschen auf der Insel sollen über die Möglichkeit eines unabhängigen und vereinten Irlands abstimmen dürfen. Bereits im kommenden Sommer findet in Schottland eine Volksabstimmung zum Thema Unabhängigkeit statt. Ich kenne kein Land, in dem die Menschen, wenn sie die kolonialistische Kontrolle Großbritanniens abgeschüttelt haben, London gebeten hätten, wieder die Macht bei ihnen zu übernehmen.

Sie haben vorhin die Haass-Gespräche erwähnt. Ich halte es für einen negativen und kontraproduktiven Schritt, ausländische Diplomaten zu holen, um die Probleme der Iren untereinander zu lösen. Das können die Menschen in Irland selbst tun, sofern es die Politiker erlauben würden. Zur Lösung der "irischen Frage" hat man vieles versucht, darunter Militarismus, Parteienpolitik und konfessionelle Spaltung. Mit allem ist man jedoch gescheitert. Auch die Haass-Gespräche werden scheitern, weil die Beteiligten nur an den Symptomen herumdoktern, aber die Wurzeln des Übels nicht anpacken. Eine Abstimmung für die ganze Insel über die Wiedervereinigung würde das Problem jedoch lösen und dem demokratischen Willen des Volkes Genüge tun. Die Unionisten würden einsehen, daß sie endlich versuchen müßten, mit der nationalistischen Mehrheit auf der Insel in Frieden zu leben. Nach einer solchen Abstimmung könnte man die problematische Frage der ungelösten Todesfälle in den Troubles von beiden Seiten mit Ehrlichkeit und gegenseitigem Respekt behandeln und die Geschichte tatsächlich aufarbeiten. Ich sehe die Dinge nicht so schwarz, sondern bin der Meinung, daß wir alle, sowohl Katholiken als auch Protestanten, aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse zur Schaffung einer besseren Zukunft in Irland nutzen sollten.

Francis Quinn im Porträt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Francis Quinn
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Herr Quinn, ich möchte Sie, da Sie das Unabhängigkeitsplebiszit in Schottland, das für den 18. September geplant ist und das politische Leben des Jahres 2014 in Großbritannien maßgeblich prägen wird, schon angesprochen haben, einmal fragen, welche Auswirkungen die Volksbefragung in Schottland Ihrer Ansicht nach für das Verhältnis zwischen der Republik Irland, Nordirland und Großbritannien haben wird?

FQ: Die Auswirkungen werden enorm sein - egal, wie die Volksbefragung ausgeht. Die Befürworter der schottischen Unabhängigkeit werden sich entweder durchsetzen oder knapp unterliegen. So oder so läuft die Entwicklung auf eine weitere Lockerung der Union zwischen England und Schottland hinaus. Dadurch wird die Union zwischen Nordirland und Großbritannien an Bedeutung verlieren. Je mehr Befugnisse für Schottland Edinburgh von London übernimmt, um so stärker wird der Ruf nach mehr Macht für die Regierung in Belfast ertönen. Je mehr sich Nordirland aus der Abhängigkeit von Großbritannien löst, um so stärker werden die Tendenzen zur Zusammenarbeit mit dem Süden. Von daher kann ich das Erstarken der separatistischen Tendenzen in Schottland nur begrüßen. Die 1916 Societies bilden eine friedliche Bewegung. Ähnlich wie es die schottischen Nationalisten unter Partei- und Regierungschef Alex Salmond vorgemacht haben, werden wir solange für ein Unabhängigkeits- bzw. Wiederveinigungsvotum für ganz Irland werben, bis wir irgendwann einmal eine kritische Masse erreichen und unsere Forderung erfüllt wird.

CM: Als republikanischer Sozialist wünsche ich mir ein Ende der britischen Staatsmacht in Nordirland und die Schaffung einer demokratisch-sozialistischen Republik auf der ganzen Insel. Gleichwohl weiß ich, daß dieser Traum in naher Zukunft nicht in Erfüllung gehen wird. Daher strebe ich als ersten Schritt die Abhaltung einer Volksbefragung über die Wiedervereinigung Irlands an. Das hat das Karfreitagsabkommen 1998, als zwei getrennte und unterschiedliche Plebiszite im Norden und Süden durchgeführt wurden, verhindert.

Heute ist dank der Medien und der herrschenden politischen Parteien im Norden und Süden die Ansicht weit verbreitet, daß jeder Gegner des Karfreitagsabkommens ein unverbesserlicher und unbelehrbarer Höhlenbewohner ist, der nur die Rückkehr zum bzw. das Festhalten am bewaffneten Kampf im Sinn hat. Das stimmt jedoch nicht. Ich verfolge meine politischen Ziele ausschließlich mit friedlichen Mitteln und halte die Idee, die Wiedervereinigung Irlands auf dem militärischen Weg herbeiführen zu wollen, für abwegig. Die Geschichte des Bürgerkrieges hat uns eines Besseren belehrt. Viele Nationalisten in Nordirland und im Süden haben im Karfreitagsabkommen den Auftakt zur Wiedervereinigung gesehen. Statt dessen wird die Realisierung ihres Traums von einem Veto sowohl der unionistischen Noch-Mehrheit in Nordirland als auch der Regierung Großbritanniens blockiert. Darum akzeptieren wir dieses Veto nicht und verlangen, daß die Frage der Vereinigung Irlands vom Volk beiderseits der Grenze in einer einzigen Abstimmung entschieden werden soll.

SB: Die Farben der irischen Trikolore - grün, weiß und orange - symbolisieren die beiden Bestandteile der irischen Nation: die katholische Urbevölkerung und die protestantischen Einwanderer sowie den Frieden, der zwischen beiden herrschen soll. Was haben die 1916 Societies zur Verwirklichung dieser Vision unternommen? Haben Sie Kontakt zum Oranier-Orden, loyalistischen Gruppen, unionistischen Parteien, ganz einfachen Protestanten in Nordirland aufgenommen und den politischen Diskurs mit ihnen gewagt?

FQ: Na klar. Wie heute bei der Ehrung von Roger Casement zu sehen war, nehmen die Mitglieder der 1916 Societies die Geschichte sehr ernst. Wohlwissend um den großen Beitrag der Protestanten im irischen Freiheitskampf lehnen wir jede Art des konfessionellen Streits und der religiösen Bigotterie strikt ab. Wir wollen den konfessionellen Graben überwinden. Das Karfreitagsabkommen und das daraus resultierende politische System, das die beiden nationalistischen und unionistischen Blocks festschreibt, hat den konfessionellen Zwist nur vertieft. Heute gibt es in Belfast und anderswo mehr sogenannte Friedensmauern, welche katholische und protestantische Wohnviertel voneinander trennen, als 1998. Die politischen Parteien bedienen ausschließlich ihre jeweils katholische bzw. protestantische Klientel und tragen damit zur Zementierung des Mißtrauens zwischen beiden Volksgruppen bei. Religiöse Engstirnigkeit widerspricht den Prinzipien des Republikanismus, demzufolge alle Bürger, unabhängig von ihrem Glauben oder ihrer Ethnie gleich sind.

Als irische Republikaner stellt sich für uns sehr wohl die Frage, wie wir die Kluft zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland überbrücken können. Es gilt, den Protestanten klarzumachen, daß der irische Republikanismus auch ein Teil ihres geschichtlichen Erbes ist und daß davon keine Bedrohung ihrer religiösen Freiheit ausgeht. Ich habe Gespräche mit Billy Hutchinson, dem Vorsitzenden der Progressive Unionist Party, und dessen Vorgänger David Ervine, der 2005 verstorben ist, geführt. Beide waren einst Führungsmitglieder der loyalistischen Ulster Volunteer Force. Während meiner Zeit im Gefängnis Long Kesh habe ich auch an Diskussionen mit UVF-Häftlingen teilgenommen. Ich habe mit solchen Leuten mehr gemein als mit rechten, reaktionären Katholiken, die vordergründig behaupten, Republikaner zu sein, aber in Wirklichkeit keine sind. Die 1916 Societies stehen daher jedem offen. Einige unserer Mitglieder sind Presbyterianer. Das war auch Wolfe Tone, der als Gründungsmitglied der United Irishmen Ende des 18. Jahrhunderts den irischen Republikanismus aus der Taufe gehoben hat. Am Aufstand der United Irishmen 1898 waren die Presbyterianer im Norden Irlands sogar maßgeblich beteiligt. Darum müssen wir die nordirischen Protestanten über ihre eigene Geschichte aufklären und ihnen klarmachen, daß sie keine Briten, sondern genauso Iren wie wir sind und daß die Schaffung einer Republik Irland auf der ganzen Insel in ihrem eigenen Urinteresse liegt. Wir verstehen, daß einige Protestanten, wie die Mitglieder des Oranier-Ordens, an bestimmten Traditionen, allen voran den Umzügen, hängen. In einer Republik Irland, die alle 32 Grafschaften umfassen würde, müßte das Recht der Oranier auf ihre Aufmärsche respektiert werden. Es müßten lediglich einige Aspekte der Märsche wie Verlauf oder Zeitpunkt austariert werden, damit sich Leute, die entlang der Marschrouten wohnen, nicht belästigt fühlen. In nördlicheren Teilen der heutigen Republik, in der Grafschaft Donegal, führen die Oranier jedes Jahr ihre Umzüge durch, ohne daß es jemals zum Problem gekommen wäre.

Entscheidend ist, daß die Briten ihr Veto gegen die Wiedervereinigung Irlands aufgeben und endlich ein Datum für den Abzug nennen, wie sie es vor fast zwanzig Jahren in Hongkong getan haben. Wenn sie es endlich täten, würden die Unionisten, die dann mit der Verwirklichung eines wiedervereinigten Irlands konfrontiert wären, meiner Meinung nach versuchen, in dem Rahmen den besten Deal für sich herauszuholen. In diesem Sinne sind sie auf die Rücksicht der katholisch-nationalistischen Mehrheit angewiesen. Wir müssen ihnen helfen, sich in der neuen Situation zurechtzufinden, und garantieren, daß ihre religiösen und sonstigen Rechte in dem neuen Kontext respektiert werden.

CM: Auch eineinhalb Jahrzehnte nach der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens ist die konfessionelle Kluft zwischen Katholiken und Protestanten noch immer groß. Der Grund dafür ist, daß das politische System Nordirlands religiös verfaßt ist. Im Regionalparlament muß jeder Abgeordnete erklären, ob er zum nationalistischen oder unionistischen Block gehört. Wie im Süden der USA vor der Aufhebung der Rassentrennung leben in Nordirland Katholiken und Protestanten meistens unter sich und wählen jeweils nur nationalistische respektive unionistische Parteien. Hauptnutznießer dieses Systems sind die größten nationalistischen und unionistischen Parteien Sinn Féin und der DUP. In dem Wahlbezirk, wo ich kandidiere, leben viele arme, überwiegend katholische Menschen. Sie haben viel mehr mit den Mitbürgern in den protestantischen Armenvierteln im Osten Belfasts als mit den gutdotierten, bürgerlichen Volksvertretern im Schloß Stormont, dem Sitz des nordirischen Parlaments, gemein. Das hat sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gezeigt, als der große Gewerkschaftsführer und Sozialist James Larkin eine Reihe erfolgreicher Arbeitsniederlegungen von seiten der Hafenarbeiter in Belfast an- und durchführte. Aus dem Grund gibt es Organisationen wie den Oranier-Orden, um die Arbeiterschaft im Norden Irlands in Protestanten und Katholiken aufzuspalten und sie gegeneinander auszuspielen.

Der Grabstein James Larkins - eine wuchtige, quadratische Granitsäule - Foto: © 2014 by Schattenblick

Auf dem Glasnevin Cemetery fand auch "Big Jim" Larkin seine letzte Ruhe
Foto: © 2014 by Schattenblick

FQ: Wie der Sozialist James Connolly, einer der Anführer des Osteraufstandes 1916, treffend erklärte, sei die Unabhängigkeit Irlands nichts wert, wenn sie nicht mit grundlegenden sozialen Veränderungen einherginge. Es spielt keine Rolle, ob über den wichtigsten Gebäuden in Dublin die Trikolore statt des Union Jack weht, solange die Gesellschaft von Ungleichheit gekennzeichnet ist. Es geht uns nicht darum, daß Nordirland von der Republik Irland einverleibt wird. Nicht nur der Norden, sondern auch der Süden Irlands muß sich verändern. Deshalb wollen wir Katholiken, Protestanten, Menschen anderen Glaubens sowie Nicht-Glaubens zusammenbringen und für gesellschaftlichen Fortschritt kämpfen.

CM: Sinn Féin verweist auf die Erfolge des Friedensprozesses, die nicht bestritten werden können, aber vollkommen ungenügend sind. Natürlich ist das Beenden des Blutvergießens gut. Doch die große Friedensdividende, die den Menschen versprochen wurde, hat sich nicht realisiert. Einigen Menschen geht es besser, aber im überwiegend katholischen Westbelfast wachsen laut den Zahlen der Hilfsorganisiation Oxfam heute 46 Prozent der Kinder in Armut auf. Vielen Menschen geht es wirtschaftlich genauso schlecht oder sogar noch schlechter als während des Bürgerkrieges. Hinzu kommt, daß die Vereinzelung der Menschen zugenommen hat; der familiäre Zusammenhalt untereinander und der Gemeinschaftssinn lassen nach. Nach wie vor werden republikanische Gegner der britischen Herrschaft, selbst wenn sie nichts mit den IRA-Splittergruppen zu tun haben, von der Polizei drangsaliert und schikaniert. Die jahrelange Inhaftierung von Martin Corry und Gerry McGeough auf Anweisung des britischen Nordirlandministers ohne Angabe irgendwelcher Verdachtsmomente, die der Überprüfung vor Gericht standgehalten hätten, spricht Bände über den heutigen Stand der Rechtsstaatlichkeit in Nordirland.

Teilnehmer der Gedenkveranstaltung auf dem Glasneviner Friedhof - Foto: © 2014 by Schattenblick

Schweigeminute im Gedenken an Roger Casement
Foto: © 2014 by Schattenblick

FQ: Man muß sich nur anschauen, was mit Leuten wie Alex McRory, Colin Duffy und Henry Fitzsimmons passiert ist. Das sind bekannte Sinn-Féin-kritische Ex-IRA-Männer aus Belfast, die vor kurzem wegen des Verdachts, Anschläge auf Mitglieder der nordirischen Polizei geplant zu haben, angeklagt und in Untersuchungshaft genommen wurden. Ich gehe davon aus, daß das Beweismaterial für eine Verurteilung der drei nicht ausreichen wird. Trotzdem werden sie vermutlich unschuldig eine ganze Weile hinter Gitter verbringen müssen. An ihnen statuiert der britische Staat ein Exempel. In der Presse werden sie als "IRA-Dissidenten" verteufelt, ähnlich wie vor Jahren Johnny "Mad Dog" Adair von der UDA und Billy "King Rat" Wright von der Loyalist Volunteer Force von den Medien zu Objekten des öffentlichen Abscheus aufgebauscht wurden. Die 1916 Societies lehnen einen solchen Umgang mit Kritikern des Friedensprozesses ab. Wir sprechen uns genauso gegen ihre Inhaftierung aus, wie wir es vor zwei Jahren im Kronzeugenprozeß gegen neun Mitglieder der UDA getan haben, der nach sechs Monaten mit Freisprüchen endete. Wir lehnen die Inhaftierung ohne Anklage, lediglich aufgrund irgendwelcher Geheimdienstinformationen des MI5 und einer Verfügung des Nordirlandministers sowie der Kronzeugenregelung, ab, egal, gegen wen sie angewandt wird. Das sind autoritäre Maßnahmen, die mit der Demokratie nicht vereinbar sind. Bezeichnenderweise hat der Begriff Dissident im nordirischen Kontext einen negativen Beiklang. Dagegen werden Dissidenten, wenn sie gegen Unrecht in China oder Rußland protestieren, von den britischen und den anderen westlichen Medien wie wahre Volkshelden gefeiert.

CM: Sinn Féin redet viel von Demokratie und demokratischem Willen, schreckt aber nicht davor zurück, auf unzulässige Weise die eigenen politischen Gegner zu diffamieren. Vor Weihnachten hat die "New IRA" eine Reihe kleinerer Bombenanschläge in der Belfaster Innenstadt und in Derry verübt. Zum Glück ist niemand getötet oder verletzt worden. Am 17. Dezember hat Jim McVeigh, Sinn-Féin-Mitglied des Belfaster Stadtrats, im Radio das Treiben der IRA-Dissidenten aufs Schärfste verurteilt, um dann praktisch im selben Atemzug zu behaupten, "Leute, die diesen Gruppen nahestehen" würden bei den Kommunalwahlen 2014 kandidieren und sollten von den Wählern entsprechend abgestraft werden. Das war natürlich gegen die Konkurrenten Sinn Féins um die nationalistische Wählerschaft gerichtet. McVeigh selbst will im Frühjahr wiedergewählt werden. Das Interview wurde provinzweit gesendet. Ich habe ihm als erster widersprochen und in einer Stellungnahme erklärt, daß ich Gewalt vollkommen ablehne und mit den Verantwortlichen für solche Anschläge nichts zu tun habe. Ich habe bei BBC Radio Ulster angerufen und um eine Gelegenheit zum Widerwort gebeten, doch sie winkten ab.

In meinem Wahlbezirk machen sich die Politiker und Anhänger von Sinn Féin über meine linksalternative Kandidatur öffentlich lustig. Für mich ist das ein Zeichen dafür, daß ich auf dem richtigen Pfad bin. Meine Kritik an den miserablen sozialen Verhältnissen und meine Hinweise auf den Stillstand der nordirischen Politik sind für Sinn Féin unangenehm. Die gewählten Vertreter der Partei haben sich im Parlament von Stormont, im Belfaster Stadtrat und anderswo gemütlich eingerichtet. Doch eine Antwort auf die brennenden Fragen der Menschen in ihren eigenen Gemeinden haben sie nicht. Sie wissen das auch, sonst würden sie nicht so allergisch auf Leute wie mich reagieren.

FQ: Wir haben nicht alle Antworten auf die Probleme der Menschen in Irland, dafür jedoch einen brauchbaren Vorschlag: die Abhaltung einer Volksbefragung auf der ganzen Insel über die Überwindung der Teilung. Gerry Adams und andere von Sinn Féin setzen sich seit Jahren dafür ein, die Gewalt aus der irischen Politik ein für allemal zu verbannen. Mit dem Karfreitagsabkommen dachten sie, das wäre ihnen gelungen. Doch es war ein Trugschluß, wie wir an den Umtrieben der IRA-Dissidenten sehen können. Das Abkommen hat die Teilung aufrechterhalten und die konfessionelle Kluft in Nordirland nur noch schlimmer gemacht. Würde jedoch ein Plebiszit über die Wiedervereinigung Irlands durchgeführt werden, hätte das unabhängig vom Ausgang eine ganz wichtige Konsequenz. Niemand könnte später sagen, das irische Volk hätte als Souverän nicht entschieden. Die Restlegitimation, auf die sich die IRA-Dissidenten berufen, wäre dahin. Sie müßten endgültig einpacken.

Die heutigen Verhältnisse in Nordirland sind eine Brutstätte der Gewalt. Jugendliche, die keine Perspektive für sich sehen, werden von den paramilitärischen Gruppierungen auf loyalistischer respektive republikanischer Seite rekrutiert. Damit geraten sie ins Visier der Staatssicherheit. Ihnen droht ein verpfuschtes Leben oder Schlimmeres. Das ist eine Schande, denn die dreißig Jahren der Troubles haben gezeigt, daß der bewaffnete Kampf nichts bringt, sondern nur Leid verursacht. Ich muß es wissen, denn ich habe selbst lange genug als IRA-Häftling hinter Gittern gesessen. Das müssen wir diesen jungen Menschen ersparen, und der beste Weg dazu wäre, das irische Volk über die Wiedervereinigung an der Urne entscheiden zu lassen.

SB: Ciarán Mulholland und Francis Quinn, danke sehr für dieses Interview.


Fußnoten:

1. www.1916societies.com

2. Ciarán Mulholland, "Unite to Overcome Austerity", The Pensive Quill Blog, 21. Januar, 2014
http://thepensivequill.am/2014/01/unite-to-overcome-austerity.html

Glasfassade und rechteckiges Dachende des Museumsgebäudes - Foto: © 2014 by Schattenblick

Das 2010 eröffnete, mehrfach ausgezeichnete Museum des Glasnevin Cemetery
Foto: © 2014 by Schattenblick

27. Januar 2014