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INTERVIEW/221: Bündnis breit und gegen ... - Denken - Glauben - Menschen frei, Serdal I. im Gespräch (SB)


Uralter Konflikt zwischen religiösen und säkularen Kräften in der Türkei

Interview am 24. Mai 2014 in Köln



Zigtausende Aleviten, Kurden und andere ethnisch-religiöse Minderheiten marschierten am 24. Mai in Köln zu einer großangelegten Gegenkundgebung mit dem Ziel, dem Auftritt des türkischen Premiers Erdogan in der Kölner Lanxess-Arena ein Nein zu dessen Politik entgegenzusetzen. Am Rande der Protestveranstaltung war der jezidische Aktivist Serdal bereit, dem Schattenblick einige Frage zu beantworten.

Bild des niedergestreckten Opfers, über das sich ein anderer beugt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ugur Kurt, von einer Polizeikugel getötet, wir vergessen dich nicht!
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Könntest du dich vorstellen und erklären, weshalb du zur Erdogan-Gegendemonstration gekommen bist?

Serdal: Ich heiße Serdal und komme aus Ostwestfalen-Lippe. Ich bin hierher gekommen, weil ich mit allen Menschen, die in meinem Heimatland Türkei unterdrückt werden, Solidarität üben möchte und den Hinterbliebenen derer, die bei den Gezi- und anderen Protesten im letzten Jahr und kürzlich beim Grubenunglück in Soma ums Leben gekommen sind, Mitgefühl und Beileid kundzutun.

SB: Heute wird Erdogan unweit von hier in der Lanxess-Arena eine Rede halten, die viele als Wahlkampf für das Präsidentenamt ansehen. Der Anlaß dieser Gegenkundgebung bezieht sich direkt darauf. Was hat dich persönlich an dem, was Erdogan in letzter Zeit getan hat, so sehr erbost, daß du hier mit deinem Erscheinen Gesicht zeigen willst?

S: Ganz allgemein sein autokratischer Regierungsstil, aber im speziellen hat mich erbost - was wirklich viele Kragen zum Platzen gebracht hat -, daß er das Grubenunglück in Soma schöngeredet hat. Er ist dabei sehr unsensibel mit einer heiklen Situation umgegangen. Das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen gebracht hat.

SB: In der Türkei ist vieles in Bewegung geraten. So kommt es immer wieder zu Demonstrationen gegen Erdogan; allen voran ist der Aufstand im Gezi-Park zu nennen. Wie erklärst du dir, daß Erdogan, der zu Anfang seiner Regierungszeit eine starke Unterstützung in der Bevölkerung erfuhr, jetzt verstärkt zur Zielscheibe des Protestes wird?

S: Die Gründe dafür sind vielschichtig. In der Anfangszeit hat er versucht, Leute mit materiellen Dingen zu kaufen, sei es, daß Waschmaschinen in die Dörfer gebracht wurden oder bestimmte Personen Geld in die Tasche gesteckt bekamen. Inzwischen ist klar zu erkennen, daß Erdogan eine Politik betreibt, die nicht das gesamte Volk mit einbezieht. Seine Politik nützt lediglich den Menschen, die seiner Ideologie folgen. Alle anderen, die zum Beispiel von der Religion her alevitisch oder von der Ethnie her kurdisch sind, hat er von Anfang an als Menschen zweiter Klasse abgestempelt. Jetzt schwappt diese Politik, die er anfangs vor allem gegenüber Nichttürken verfolgt hatte, auch auf die gebürtigen Türken über. Daraus ist zu ersehen, daß seine Politik nur seinen eigenen Zielen dient, aber zum Wohl der Allgemeinheit nichts beiträgt.

SB: Könntest du genauer schildern, was du unter Erdogans Zielen verstehst?

S: Erdogan versucht, die Türkei zu islamisieren, obwohl nach der Verfassung Staat und Religion getrennt sein sollten. In der Türkei gibt es verschiedene Ethnien und Religionen, wie zum Beispiel Christen, Juden, Aleviten, Sunniten und Schiiten. Er hingegen konzentriert sich auf seine eigene Religionsgemeinschaft. So etwas kann man in der modernen Türkei nicht machen. Bei einer Demokratie spricht man nur vom Staat, nicht von der Religion. Das ist meines Erachtens der Hauptgrund dafür, daß die Menschen auf die Straße gehen.

SB: In seiner frühen Regierungszeit hat er das Versprechen gegeben, die Kurdenfrage zu lösen und den Kämpfern der PKK im Falle, daß sie die Waffen niederlegen, eine Rückkehr ins zivile Leben zu ermöglichen. Auch gegenüber den Aleviten hat er zwischenzeitlich sanftere Töne angeschlagen. Die heutige Protestveranstaltung ist überwiegend von Aleviten organisiert worden. Wie erklärst du dir die strikte alevitische Gegenposition zu Erdogan?

S: Aleviten wurden jahrelang unterdrückt, verfolgt und, wie in Sivas 1993, verbrannt. Sie wurden aus ihren Dörfern und den Städten vertrieben. Die Aleviten wollen für Erdogans islamistische Politik nicht mehr den Kopf hinhalten.

SB: Erdogan ist ein Vertreter des sunnitischen Islam. Woher rührt seine Repressionspolitik gegenüber der alevitischen Minderheit, die immerhin 20 bis 25 Prozent der türkischen Gesamtbevölkerung stellt? So hat er die Aleviten einmal als Atheisten bezeichnet.

S: Jeder legt den Koran für sich aus. Das ist Privatsache und darf in einem laizistischen Staat nicht zur Doktrin erhoben werden. Die Aleviten sind humanistisch eingestellt. Sie achten sehr auf ihre Worte und Handlungen, weil sie die religiösen Gefühle anderer Menschen nicht verletzen wollen. Und doch wird den Aleviten in der Türkei der Bau ihrer Gebetshäuser verwehrt. Warum? Sind wir anders als die Sunniten? Haben wir keine Religion? Die Aleviten wollen vor allen Dingen anerkannt werden.

SB: Gibt es in der Türkei eine soziale Unterdrückung der Aleviten, daß sie zum Beispiel bestimmte Berufe nicht ausüben dürfen?

S: Selbstverständlich. Aleviten wurden jahrelang unterdrückt und konnten ihre Religion nicht ausüben. Das wäre so, wie wenn Moslems in Deutschland nicht in die Moschee gehen dürften bzw. deren Bau verboten wäre. Dabei ist die Türkei auch das Heimatland der Aleviten. Ich denke, für die meisten Menschen hier auf der Gegenkundgebung ist das Limit des Erträglichen erreicht. Jetzt wollen sie ihre Meinung auch öffentlich machen.

SB: Das wäre ein Anspruch an die Religionsfreiheit. Wie das Grubenunglück in Soma jedoch gezeigt hat, wo die Arbeitsschutzmaßnahmen auf ein Minimum heruntergefahren wurden, herrschen in der Türkei auch soziale und arbeitsrechtliche Mißstände vor. Erdogans Versuch, Neoliberalismus und Islam miteinander zu verknüpfen, hat vor allem die Bezieher mittlerer und niedriger Gehälter an den existentiellen Rand gedrängt.

S: Erdogan versucht, einen islamistischen Staat herzustellen. Die Wirtschaftsform spielt dabei meines Erachtens nur eine untergeordnete Rolle. Seit der Gründung der Türkei war das Tragen eines Kopftuches in Schulen und öffentlichen Einrichtungen verboten, aber Erdogan will langsam, aber sicher wieder eine Art Scharia einführen.

SB: Könnte diese Grundtendenz seiner Politik, die türkische Gesellschaft zu islamisieren, einer der Gründe dafür sein, warum Erdogan vor allem in der anatolischen Bevölkerung einen starken Rückhalt genießt?

S: Da muß man genauer unterscheiden. Es gibt Türken, die sich nicht so sehr als Nation, sondern als Gemeinschaft mit dem Islam als der alles bestimmenden Religion begreifen. Der Konflikt zwischen den religiösen und säkularen Kräften in der Türkei ist sehr alt und zieht sich durch alle Ethnien. So wird Erdogan auch von vielen Kurden gewählt. Wahrscheinlich sind 30 bis 40 Prozent seiner Wähler Kurden. Das kommt daher, daß Erdogan einen islamistischen Standpunkt vertritt. Doch der Islam darf in einem laizistischen Staatswesen nicht zur Diskriminierung anderer Menschen eingesetzt werden. Man muß alle Ethnien gleichwertig berücksichtigen. In der Türkei leben neben Türken auch Kurden, Armenier und Araber und noch viele andere kleinere Volksgruppen. Was Erdogan mit seinem islamistischen Kurs macht, zielt im Grunde auf eine Spaltung der Menschen und nicht auf ein Miteinander.

SB: Wie lange lebst du schon in Deutschland?

S: Ich bin in der Türkei zur Welt gekommen und lebe seit 1991 mit meiner Familie in Deutschland.

SB: Besitzt du einen deutschen Paß?

S: Ich habe einen deutschen und einen türkischen Paß.

SB: Nach einem neuen Gesetzentwurf soll der Optionszwang, also daß sich Menschen mit Migrationshintergrund, die eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, ab dem 23. Lebensjahr entscheiden müssen, welchen Paß sie behalten und welchen sie abgeben wollen, abgeschafft werden. Wie wertest du persönlich diese politische Entwicklung?

S: Ich finde, daß in dieser Frage keinerlei Zwang ausgeübt werden sollte. Zwei Staatsbürgerschaften sind sehr vorteilhaft. Ich würde meinen türkischen Paß gerne behalten, weil ich beabsichtige, eines Tages wieder in das Land meiner Vorfahren zurückzukehren. Die Frage, ob man Deutscher oder Türke sein will, geht ohnehin an den Realitäten vorbei. In Deutschland ist man Türke, und in der Türkei ist man Deutscher. Man lebt in einer Zwischenwelt. Ich bin nicht der einzige, der das beobachtet oder als Problem empfindet. Wir gehören zur dritten bzw. vierten Generation der einstigen Arbeitsmigranten aus der Türkei. Warum will die Politik uns Steine in den Weg legen? Sich zwischen den Staatsbürgerschaften entscheiden zu müssen, ist keine gute Option. Erdogan ist hier, um Wählerstimmen einzufangen. Mit einem türkischen Paß haben wir das Wahlrecht, und davon wollen wir gegen Erdogan Gebrauch machen.

SB: Lange Zeit war die Wahl der Staatsbürgerschaft für türkischstämmige Migranten hier in Deutschland kein Thema. Als männlicher Türke mußte man seinen Militärdienst absolvieren, sonst hätte man gar nicht ausbürgern und Deutscher werden können. Wie erklärst du dir diese Wende in der deutschen Politik?

S: Ich denke, daß die BRD die Deutschtürken oder jene auf nationaler Basis noch unorientierten jungen Menschen mit ins Boot holen und dadurch stärker an den deutschen Staat binden will.

SB: Wenn die geplante Abschaffung des Optionszwangs gekippt werden sollte, müßtest du dich mit deinem 23. Lebensjahr entscheiden, ob du Türke oder Deutscher werden möchtest. Wie würde deine Entscheidung ausfallen?

S: Ich bin damals mit meinen Eltern nach Deutschland gekommen. Deutschland hat mir Brot und Wasser gegeben. Ich habe dem türkischen Staat nichts zu verdanken, zumal ich nicht nur ethnisch, sondern auch religiös verfolgt worden bin. Ich bin Kurde und gehöre überdies dem jezidischen Glauben an. Natürlich will ich eines Tages in meine Heimat zurückkehren und die Kultur an meine Kinder weitergeben. Aber leider muß ich zur Zeit feststellen, daß Erdogan nicht nur gegen ethnische und religiöse Minderheiten vorgeht, sondern auch gegen seine eigenen Leute. Angesichts dessen entscheide ich mich ganz klar für den deutschen Paß, obwohl ich im Herzen immer noch zu meinem Land gehöre.

SB: Was macht das Besondere aus, ein Jezide zu sein, im Vergleich zu den Aleviten oder überhaupt zum islamischen Glauben?

S: Das Jezidentum ist eine vororientalische Religion. Viele Grundsätze der heutigen Weltreligionen gehen auf das Jezidentum zurück, sei es der Glaube an Himmel und Hölle, an Reinkarnation oder Engel. All diese Grundfundamente haben ihre Wurzeln im mesopotamischen Gebiet und wurden von unseren Vorfahren gelegt. So gesehen gibt es keine besonderen Grundzüge, die einen Jeziden ausmachen. Ein Jezide identifiziert sich natürlich mit seiner Religion, aber er erhebt sich niemals über Menschen anderer Religionen. In einem jezidischen Gebet heißt es, bete erst für die 72 Häuser der anderen Völker, und zuletzt soll der Herr unser Haus segnen. Darin zeigt sich, daß das Jezidentum sehr tolerant gegenüber anderen Religionen ist. Wir möchten uns nicht von anderen abgrenzen oder an der Ausgrenzung anderer teilhaben, schon deshalb nicht, weil die Jeziden es als kleine Minderheit in der Türkei besonders schwer gehabt haben. Ob in Rojava in Nordsyrien oder in Nordkurdistan, die Jeziden sind nicht nur von den Moslems, sondern auch von ihren kurdischen Landsleuten verfolgt worden. Das hat sich Gottseidank seit einigen Jahrzehnten gelegt.

SB: Was wünscht du dir für die Türkei?

S: Ich hoffe, daß wir in der Türkei eine gemeinsame Basis aufbauen können, unabhängig davon, ob man Kurde, Türke, Alevit, Jude, Christ oder Jezide ist, denn diese Volksgruppen und Religionen sind alle im Land vertreten. Ich würde mir wünschen, daß wir alle an einem Strang ziehen und friedlich und in Brüderlichkeit miteinander leben. Aus diesem Grund bin ich heute hier. Ich bin nicht hierhergekommen, weil ich ein Jezide bin, sondern weil ich zum Ausdruck bringen will, daß ich einer von denen bin, die ihre Unzufriedenheit darstellen wollen. Ich mache keinen Unterschied zwischen Aleviten, Christen und Moslems. Letzten Endes hat die Religion uns gespalten. Als Atheist und bekennender Kommunist sage ich: Menschen sollten einander keine Hindernisse in den Weg stellen.

SB: Serdal, danke für das Interview.

Transparent mit der Aufschrift 'Boyun egme' - Foto: © 2014 by Schattenblick

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Foto: © 2014 by Schattenblick


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