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INTERVIEW/254: Kurdischer Aufbruch - Volksbefreiung, Selbstbefreiung ...    Asya Abdullah im Gespräch (SB)


Demokratische Autonomie verbindet Vielfalt und Tradition

Die kapitalistische Moderne herausfordern II - Konferenz an der Universität Hamburg, 3. bis 5. April 2015


Asya Abdullah ist Co-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Einheit (PYD - Partiya Yekitîya Demokrat) in Rojava. Sie ist Gründungsmitglied der 2003 als politische Vertretung der Kurdinnen und Kurden in Westkurdistan, den mehrheitlich kurdisch besiedelten Gebieten im Norden Syriens, geschaffenen Partei. Seit 2011 bildet sie gemeinsam mit Salih Muslim die politische Führung der PYD, die seit Anfang 2014 zusammen mit assyrischen und arabischen Parteien die Verwaltung der Region nach den Prinzipien des Demokratischen Konförderalismus organisiert. Die PYD ist der Achtung der Menschenrechte verpflichtet und hat die Verwirklichung der Geschlechtergerechtigkeit neben der Lösung der Kurdenfrage zu einem vorrangigen Ziel erhoben.

Am 4. April 2015 beantwortete Asya Abdullah dem Schattenblick am Rande der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II", auf der sie mit einem eigenen Rede- und Diskussionsbeitrag vertreten war, einige Fragen zur politischen Ausrichtung der PYD und den aktuellen Problemen, die aus den schweren Angriffen des Islamischen Staates (IS) auf Kobanê, die Verwaltungshauptstadt Rojavas, resultieren.


Vor dem Interview - Foto: © 2015 by Schattenblick

Asya Abdullah
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Abdullah, Sie hatten gestern in Ihrem Vortrag über den demokratischen Aufbau in Rojava gesprochen. Könnten Sie Ihren Begriff von Demokratie bitte erläutern?

Asya Abdullah (AA): Die Demokratie wird in den verschiedenen Ländern natürlich jeweils anders gelebt. Aus Kämpfen in der Geschichte resultierten auch Errungenschaften für die Demokratie, aber man muß dabei berücksichtigen, daß die Demokratie im Westen auch ein Teil der kapitalistischen Moderne ist. Die Demokratie, die wir verfolgen, entwickelt sich für uns aus der Gesellschaft mit der Gesellschaft. Dies, weil wir der Überzeugung sind, daß eine Demokratie, die von oben nach unten gelebt wird, nicht die Demokratie der Bevölkerung und damit eine Volksdemokratie sein kann. Unser größtes Ziel ist, daß alle ethnischen Gruppen, Religions- oder Glaubensgemeinschaften in Rojava wie auch in Syrien gleichberechtigt miteinander leben können. Deswegen haben wir in Rojava das System der Kantone aufgebaut, um eine Demokratie von unten zu leben und nicht eine Demokratie, die von oben, also vom Staat, vorgeschrieben wird.

SB: In den europäischen Staaten versteht man unter Demokratie eine Regierungsform, in der verschiedene Parteien um die Wählergunst ringen, die dann durch Sitze im Parlament repräsentiert wird. Die PYD definiert sich als Partei der Demokratischen Einheit. Bei Einheit wird in der Bundesrepublik meist an eine Einheitspartei gedacht, die dem demokratischen Selbstverständnis widerspricht. Wie verstehen Sie den Begriff der Demokratischen Einheit?

AA: Demokratie und Selbstverwaltung gelten nicht nur für uns Kurden, sondern für alle Menschen in der Region Rojava, in der neben Kurden auch verschiedene andere ethnische Gruppen und Religionsgemeinschaften leben. Das trifft auch auf die übrigen Gebiete in Syrien zu. Wenn wir von der PYD als der Partei der Demokratischen Einheit sprechen, dann tun wir das, weil wir eine Partei der Kurden in Syrien sind. Einheit bezieht sich also in erster Linie auf die Einheit der Kurden. Sie ist keine Einheitspartei für eine gewisse Region, sondern vertritt die Interessen einer ethnischen Gruppe. Daraus folgt, daß sie nicht die Vertretung aller Völker und Glaubensgemeinschaften ist, die in Rojava bzw. Syrien leben.

Unser Ziel ist der Aufbau einer demokratischen Autonomie, in der unabhängig von unserer Partei auch die anderen Ethnien mit ihren verschiedenen Kulturen, Sprachen und Religionen politisch berücksichtigt werden. Die Kurden sind ein Teil des Ganzen, aber wir sind nicht der Hauptakteur. Man muß dazu wissen, daß die Geschichte des Staates Syrien das beste Beispiel dafür ist, wie es nicht sein sollte. Schon die Bezeichnung Arabische Volksrepublik Syrien hat viele Menschen ausgegrenzt. In Syrien gibt es nicht nur Araber, sondern beispielsweise auch Kurden und Assyrer, die in der syrischen Republik nicht einmal erwähnt wurden. Der Name dieses Staates steht somit für Ausgrenzung, so daß es nicht verwunderlich ist, daß es etliche Verbote für die anderen Bevölkerungsgruppen und Glaubensgemeinschaften gab.

Beispielsweise hat die Republik Syrien den Kurden die Staatsbürgerschaft aberkannt. Mit dem Aufbau einer demokratischen Autonomie und Selbstverwaltung verfolgen wir, eben weil wir eine kurdische Partei sind, auch die Lösung der sogenannten Kurdenfrage in Syrien innerhalb der Region Rojava. Daß die Kurdenfrage mit eingebracht werden muß, ergibt sich schlicht aus dem Umstand, daß die Kurden in Syrien als eigene ethnische Gruppe nicht akzeptiert werden. Daher sehen wir in der demokratischen Autonomie eine Möglichkeit zur Lösung dieser Frage.

SB: In Rojava gibt es auch einen arabischen Bevölkerungsanteil. Wie weit ist die Umsetzung dieses Konzepts, das erst seit 2011 besteht, schon gediehen und mit welchen Problemen haben Sie es dabei zu tun?

AA: Man muß dazu sagen, daß der Einfluß des Regimes auf die Araber in der Region Rojava groß war. Die Politik der Spaltung hat durchaus Früchte getragen, aber in den letzten Jahren haben wir etwas anderes vorgelebt. Unabhängig vom Regime leben wir mit den Arabern vor Ort zusammen, und das war überzeugend genug, um diese ethische Gruppe für die Idee der demokratischen Autonomie gewinnen zu können. Es gibt viele Beispiele, wie das Ganze gelebt wird. So werden die verschiedenen ethnischen Gruppen in allen Kommissionen mit berücksichtigt. Im Kanton Cizire haben Assyrer, Araber und Kurden ihre verantwortlichen Vertreter ins höchste Gremium entsandt und sind damit politisch und gesellschaftlich vertreten. Das gilt auch für die Volksräte, wo beispielsweise der arabische Stamm der Shammar mit seinem Stammesführer vertreten ist.

Ein weiterer ganz wichtiger Punkt angesichts der allgegenwärtigen Angriffe des IS ist, daß wir uns zum Schutz und zur Verteidigung aller Bevölkerungsgruppen zusammengeschlossen haben. Auch die arabische Bevölkerung hat Kämpferinnen und Kämpfer innerhalb der Volksverteidigungseinheiten, auch unter ihnen gibt es Märtyrer, die im Kampf gegen den IS gefallen sind. Das heißt, wir arbeiten nicht nur auf der politischen Ebene zusammen, sondern auch im Bereich der Verteidigung, was sehr wichtig ist, weil es den Aufbau der demokratischen Autonomie nochmal stärkt. Das hat dazu geführt, daß die Araber sich nicht ausgeschlossen fühlen.

SB: Die Frauenbefreiung spielt eine große Rolle in Rojava und geht offenbar weit über ein bloßes emanzipatorisches Selbstverständnis der Frau in ihren sozialen Beziehungen und der Familie hinaus. Könnten Sie genauer erläutern, was Frauenbefreiung im Kontext der Autonomiebestrebung in Rojava bedeutet?

AA: Unsere Philosophie besagt, daß nur die Freiheit der Frau die Freiheit der Gesellschaft garantiert. Das ist für uns das oberste Prinzip, denn wir sind der Überzeugung: Gibt es keine Freiheit der Frau in der Gesellschaft, wird sich die Gesellschaft im Ganzen nie selbst befreien können. Die Frau wird in Rojava daher in allen gesellschaftlichen Bereichen mit einbezogen. Das reicht weit über eine formale Gleichstellung hinaus. Das heißt, die Frau ist autonom und kann auch eigene Frauenkommissionen gründen. Dennoch ist sie in allen Institutionen wie zum Beispiel Bildung, Wirtschaft oder Schutz und Verteidigung vertreten und kann sich dort voll einbringen.

Der Maßstab sind nicht die Männer. Es gibt zwar eine 40-Prozent-Quote, aber diese wird oft übertroffen. So wird versucht, in den Räten, Kommunen und Kooperativen alle Frauen mit einzubeziehen und für diese Arbeit zu gewinnen. Es gibt Akademien, in denen die Wissenschaft der Frau gelehrt wird. Der Hintergrund dazu ist, daß die Frau erst einmal realisiert, daß sie in der Geschichte über Jahrtausende immer unterdrückt und nie berücksichtigt wurde. Ein Mittel, um das zu durchbrechen, ist, daß wir in allen Institutionen und Kommunen das System des Co-Vorsitzes praktizieren. Das ist für uns sehr wichtig. Auch die PYD hat eine Doppelspitze aus Mann und Frau.

Die Freiheit wird in Rojava alltäglich gelebt. Wir reden auch von einer Philosophie der neuen Gesellschaft, des neuen Lebens. Im Bereich Schutz und Verteidigung haben wir die Frauenverteidigungseinheiten YPJ, und auch die Asayis, das sind die Sicherheitskräfte innerhalb der Kantone, sind mit Frauen besetzt. Das gleiche gilt für die Kooperativen, denn auch in der Frage der Ökonomie soll die Frau unabhängig von allem sein. Denn wenn man insgesamt abhängig ist, ist man auch abhängig von denjenigen, die die Frauen in dieser Region über Jahrtausende unterdrückt haben. Daher ist für uns nicht nur die politische Bildung der Frau absolut wichtig, sondern auch ihre gesellschaftliche Stellung, damit sie sich innerhalb der Gesellschaft mit einbringt und entsprechend auftreten kann.

SB: Rojava ist wirtschaftlich weitgehend isoliert, es gibt kein Trinkwasser und keinen Strom. Die Menschen dort sind in der Grundversorgung ganz auf sich allein gestellt. Wie bewältigen Sie diese Notlage und gibt es irgendwelche Hilfe von außen?

AA: Man muß wissen, daß die drei Kantone Cizire, Afrin und Kobanê einem Embargo ausgesetzt sind, so daß kein Handel möglich ist. Das ist ein ganz großes Problem. Offenbar wird versucht, Rojava auszuhungern. Durch diese Situation steigt die Armut immer weiter an und immer mehr Menschen leiden Hunger. Deswegen gab es von unserer Seite wiederholt einen Aufruf an die internationale Staatengemeinschaft zur humanitären Hilfe. Das gilt vor allem für den Wiederaufbau von Kobanê. Alles, was Kobanê benötigt, muß von außen importiert werden. Kobanê hat wirklich nichts.

So stehen für die Bergung der vielen Leichen derer, die im Kampf gegen die Milizen des IS gefallen sind, nur drei Traktoren zur Verfügung. Diese Arbeit muß dringend geleistet werden, damit keine Seuchen ausbrechen. Allein das zeigt, welche Schwierigkeiten es in Kobanê für den Wiederaufbau gibt. Wir haben einen großen Aufruf gemacht, damit ein Hilfskorridor an der türkischen Grenze errichtet wird, um humanitäre Hilfe zu gewährleisten. Existentiell wichtig ist auch die Einfuhr von Medikamenten und medizinischem Gerät. Wir brauchen das ganze Spektrum der technischen Mittel, derer es bedarf, um ein Krankenhaus aufzubauen. Alle Arten von Hilfsgütern sind nötig, um die Stadt zu verwalten und zu versorgen. Denn Kobanê ist, wie allen bekannt sein dürfte, vom Angriff des IS am meisten zerstört worden. Unser Aufruf geht an alle Institutionen, Regierungs- wie Nichtregierungsorganisationen, damit sie sich vor Ort ein Bild davon machen, was wirklich benötigt wird.

SB: Vielfach wird gesagt, daß die demokratische Autonomie ein Modell für den gesamten Nahen Osten sein könnte, also für alle Menschen und Völker in dieser Region. Gibt es Ihres Wissens in anderen Staaten des Nahen Osten Gruppen, die diese Idee aufgegriffen haben?

AA: Was wir in den drei Kantonen Rojavas praktizieren, ist einzigartig und erst durch die Revolution entstanden. Aber es gibt ähnliche kleinere Projekte zum Beispiel in Dubai und in den Arabischen Emiraten, aber dort werden sie nicht so gelebt wie in Rojava, weil die Vielfalt ethnischer und religiöser Gemeinschaften nicht berücksichtigt wird. Prinzipiell kann das Projekt einer demokratischen Autonomie überall angewendet werden und müßte nicht auf Syrien reduziert bleiben. In Syrien herrscht allerdings die Angst vor, daß Rojava sich abspalten oder einen Separatismus verfolgen könnte, was aber nicht stimmt, denn wir wollen auch in Zukunft ein Teil Syriens bleiben und Kontakte mit den anderen Regionen des Landes pflegen. Allein in Aleppo leben Zigtausende Kurden, die wir nicht ausschließen möchten, zumal die verschiedenen Bevölkerungsgruppen dort Verwandte und Bekannte in Rojava haben. Alles in allem gibt es das Modell, das wir gerade aufbauen, nur in Rojava und in keinem anderen Land in diesem Ausmaß.

SB: Die kurdische Freiheitsbewegung ist sehr progressiv und bringt in Syrien neben der Frauenemanzipation auch sozialistische Ideen mit ein, die in der Tradition der patriarchalen Stammesgesellschaft nicht vorgesehen sind. Wie verhält sich diese Entwicklung zur Kontinuität kurdischer Traditionen, die diesen tiefgreifenden Veränderungen ebenfalls ausgesetzt sind?

AA: Man muß berücksichtigen, daß wir in einem Krieg des IS gegen Menschlichkeit und Vielfalt in dieser Region stecken. Neben dem Aufbau einer demokratischen Autonomie müssen wir uns auch um den Schutz und die Verteidigung der Menschen in Rojava sorgen. Beides muß parallel laufen; wenn nur eines vernachlässigt wird, scheitert beides. Schutz und Verteidigung sind unerläßlich, damit das Konzept umgesetzt werden kann.

Die Errungenschaften und Erfolge der letzten Jahre stellen eine Bereicherung für die Menschen in Rojava und Syrien dar, vor allem für die Kurden, die hinsichtlich ihrer Traditionen und Kulturen immer unterdrückt wurden. Daher ist die Förderung der kurdischen Kultur auch Bestandteil der demokratischen Autonomie. Beispielsweise wurde zum ersten Mal in der Geschichte in einem Dorf eine Schule errichtet, wo in kurdischer Sprache unterrichtet wird. So etwas gab es vorher nicht, und das hat viele zum Nachdenken gebracht und natürlich auch Interesse geweckt. Daß die Menschen wählen durften, war so neu für sie, daß wir oft den Satz hörten: Wählen? Was ist das? All das hat dazu geführt, daß sich die Menschen Gedanken machen.

Allerdings sehen wir es nicht so, daß wir an Tradition verlieren, sondern wir bekommen erstmals die Möglichkeit, in der Vielfalt eine Bereicherung zu sehen und zu fördern. In diesem Sinne war die Eröffnung von Kulturzentren ein ganz wichtiger Punkt, weil alle ethnischen Gruppen und Glaubensrichtungen in den Aufbau einer neuen Gesellschaft eingebunden wurden. Das heißt, der Fortschritt hat auch eine Förderung der verschiedenen Traditionen mit sich gebracht. So gesehen ist die Revolution vor allem eine Revolution des veränderten Bewußtseins. Sie hat vielen Menschen ein neues Leben ermöglicht, die das Assad-Regime immer nur ausgegrenzt und verachtet hat. Indem wir das Bewußtsein der Menschen verändern, zeigen wir ihnen, wie man demokratisch und vielfältig miteinander leben und sich gegenseitig bereichern kann. Diese Revolution steht für die Umkehr der Ausgrenzung und verwirklicht Menschlichkeit als eine unserer größten Errungenschaften.

SB: Frau Abdullah, vielen Dank für das Gespräch und eine gute Zukunft für Rojava.


Beim Interview im Hörsaal - Foto: © 2015 by Schattenblick

Dolmetscher Yilmaz Kaba, Asya Abdullah
Foto: © 2015 by Schattenblick


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" im Schattenblick unter
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