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INTERVIEW/327: Menschenrechtsfreie Zone - Grundloser Blutzoll, zerstörtes Vertrauen ...    Shahzad Akbar im Gespräch (SB)


Pakistans Zivilgesellschaft wehrt sich gegen CIA-Drohnenangriffe

Interview mit Mirza Shahzad Akbar am 18. Oktober 2016 in Berlin


Am 18. November hat das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in das Berliner Theater im Aufbau-Haus (TAK) zu einem Diskussionsabend mit dem Titel "Von Washington über Ramstein nach Sanaa: Wie der Drohnenkrieg Recht, Kriegsführung und Gesellschaft verändert" eingeladen. An der politisch brisanten Diskussion nahm unter anderem Mirza Shahzad Akbar teil, der als Anwalt in Pakistan die verletzten Überlebenden der CIA-Drohnenangriffe sowie die Familien der getöteten Zivilopfer in Wasiristan juristisch vertritt. Im Anschluß an der ECCHR-Veranstaltung stellte sich Akbar dem Schattenblick für eine Reihe von Fragen zur Verfügung.


Shahzad Akbar spricht vor dem Publikum - Foto: © 2016 by Schattenblick

Mirza Shahzad Akbar
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Akbar, bitte erzählen Sie uns etwas über Ihren persönlichen und beruflichen Hintergrund sowie darüber, wie Sie dazu kamen, die Angehörigen getöteter Opfer der CIA-Drohnenangriffe in Wasiristan anwaltlich zu vertreten.

Mirza Shahzad Akbar: Ich bin in Pakistan aufgewachsen und habe Jura in Großbritannien studiert. An der Universität von Newcastle habe ich mich zum Solicitor und an der Universität von London zum Barrister ausbilden lassen. Nach dem Studium bin ich in meine Heimat zurückgekehrt und habe eine Stelle als Rechtsberater und Sonderankläger am staatlichen National Accountability Bureau in Islamabad angenommen. Nachdem ich das mehrere Jahre machte, habe ich mich 2010 erstmals mit dem Thema Drohnenangriffe befaßt. In dem Zusammenhang kam ich mit einem Mann namens Karim Khan in Kontakt, der am Silvesterabend 2009 bei einem Drohnenangriff auf sein Haus in Nordwasiristan den 35jährigen Bruder und den 18jährigen Sohn verloren hatte. Khan versuchte damals bei den verschiedenen behördlichen Instanzen in Pakistan verzweifelt, die Umstände dessen, was ihm und seiner Familie widerfahren war, aufzuklären, war aber nicht sehr weit gekommen.

SB: Wie ist der Kontakt zustande gekommen? Ist er an Sie herangetreten?

MSA: Nein, ich an ihn. Zu jenem Zeitpunkt arbeitete ich an einem Aufsatz über die wirtschaftlichen Aspekte von Drohnenangriffen. Ich hatte gar nicht die Absicht, auf diesem Feld als Klage- oder Beschwerdeführer aufzutreten. Nebenbei habe ich Unterricht an einer Anwaltsschule in Islamabad gegeben, an der Khan früher studiert hatte. Dort erzählte mir jemand vom Drohnenangriff auf die Khan-Familie sowie davon, daß Karim Khan nach anwaltlicher Hilfe suchte. Also habe ich mich bei ihm telefonisch gemeldet und ihm meine Rechtsberatung angeboten. Kurz darauf suchte er mich in meinem Büro in Islamabad auf, wo wir ein langes Gespräche führten und er mir alle Einzelheiten des Vorfalls berichtete. Am Ende fragte er mich, ob ich nicht Interesse hätte, ihn und seine Familie als Anwalt zu vertreten.

Am Anfang stand ich der Idee etwas skeptisch gegenüber, denn zu dem Zeitpunkt war ich hauptsächlich im Auftrag einer privaten Kanzlei mit dem Handelsrecht befaßt. Ich schrieb den Aufsatz über Drohnen nebenbei, eher aus akademischem Interesse heraus. Doch Khan ließ nicht locker. Er berichtete mir, wie er bereits von vielen Anwälten und Kanzleien abgewiesen worden war. Also habe ich zunächst versucht, jemanden bei einer Rechtsberatung oder einer Nicht-Regierungsorganisation zu finden, der vielleicht bereit wäre, den Fall der Khan-Familien anzunehmen, eine Klage zu formulieren und sie vor Gericht vorzubringen. Als auch ich überall nur auf Ablehnung und Desinteresse stieß, habe ich mich entschlossen, selbst den Fall anzunehmen und durchzufechten, so gut ich konnte.

Der Grund, warum sich niemand des Falles annehmen wollte, war, daß sie alle Angst hatten, sich mit den USA anzulegen. Als ich diesen Umstand feststellte, hat es mich geradezu motiviert, Khan zu unterstützen. Doch als meine damaligen Arbeitgeber Wind von der Sache bekamen, waren sie nicht gerade begeistert und wollten nicht, daß die Kanzlei damit in Verbindung gebracht würde. Dies hat mich zusätzlich motiviert. Also habe ich in meiner eigenen Kapazität als zugelassener Barrister Khan als privaten Mandanten angenommen. Nach einer kleinen Recherche der rechtlichen Möglichkeiten bin ich zu dem Schluß gekommen, daß die effektivste Vorgehensweise wäre, vor dem pakistanischen High Court den damals zuständigen CIA-Stationschef an der US-Botschaft in Islamabad, Jonathan Banks, wegen Mordes anzuzeigen. Dadurch ist das erste Gerichtsverfahren weltweit gegen die CIA-Drohnenangriffe ins Rollen gekommen. Wir haben zwei Klagen eingereicht. Die erste war eine Zivilklage der Khans gegen Jonathan Banks mit einer Entschädigungssumme von 500 Millionen Dollar wegen widerrechtlicher Tötung zweier Familienangehörigen. Die zweite war jedoch noch wichtiger: eine Anklage gegen Banks wegen Mordes sowie der Durchführung eines illegalen kriegerischen Akts in Pakistan.

Die Einreichung dieser beiden Anträge am 13. Dezember 2010 hat wie die sprichwörtliche Bombe eingeschlagen. An dem Abend war der Fall Khan gegen Banks das wichtigste Thema aller pakistanischen Medien. Auch weltweit sorgte er für Schlagzeilen. Alle große internationalen Zeitungen wie die New York Times, das Wall Street Journal und der Londoner Guardian berichteten darüber. Ich wurde vielfach als Agent des pakistanischen Geheimdienstes Inter-Services Intelligence Directorate (ISI) bzw. als Anwalt der Taliban diffamiert. Mein Einreisevisum für die USA, das ich aus meiner Zeit als Staatsanwalt und der Zusammenarbeit mit dem FBI bei zahlreichen Fällen besaß, wurde von der amerikanischen Botschaft in Islamabad ohne jede Erklärung plötzlich für ungültig erklärt. Ich arbeitete zu dem Zeitpunkt als Berater für pakistanisches Recht auch an vielen Projekten zusammen mit der USAID, der Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung. Von den pakistanischen USAID-Stellen bekam ich plötzlich zu hören, daß es für mich bis auf weiteres keine Aufträge mehr geben würde.

Doch es gab nicht nur Rückschläge. Die beste Sache, die sich aus dem Gang zum Gericht ergab, war, daß sich innerhalb von zwei bis drei Wochen rund 15 Familien in Nordwasiristan, die ebenfalls Drohnenangriffsopfer zu beklagen und im Fernsehen den ganzen Trubel um die Anzeige gegen Jonathan Banks mitbekommen hatten, bei mir meldeten und mich baten, sie ebenfalls anwaltlich zu vertreten. Das Problem war, daß ich nicht nach Wasiristan reisen konnte. Kein Auswärtiger kann sich dort hinbegeben, ohne sein Leben zu gefährden. Also habe ich die Familien zu mir nach Islamabad eingeladen. Ich und ein paar Volontäre haben die ganzen Zeugenaussagen aufgeschrieben und begonnen, die Umstände der verschiedenen Angriffe zu recherchieren. Das war in einer Phase, wo ich die Foundation for Fundamental Rights ins Leben gerufen habe. In deren Namen haben wir Einheimische in Wasiristan gebeten, für uns weitere Interviews zu führen, Bilder zu machen und Beweisstücke wie Teile der verwendeten Raketen zu sammeln. Das machte uns dort bekannt, und deshalb vertreten wir inzwischen mehr als einhundert Familien.


Shahzad Akbar sitzend auf der Bühne vor dem Mikrophon - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Also ist die Foundation for Fundamental Rights die wichtigste Rechtsvertreterin der Drohnenopfer in Pakistan?

MSA: Sie ist nicht nur die wichtigste, sondern auch die einzige.

SB: Ist die Arbeit für diese Familien nun ihre Hauptbeschäftigung?

MSA: Von 2010 bis Mitte 2011 habe ich in beruflicher und persönlicher Hinsicht eine schwere Zeit durchmachen müssen. Wegen meines Interesses an der Drohnenproblematik bekam ich Probleme mit der Kanzlei, für die ich bis dahin gearbeitet hatte. Leute aus meinem persönlichen Umfeld gingen auf Abstand zu mir. Egal wohin ich ging, hingen mir irgendwelche pakistanischen Geheimdienstleute an den Fersen. Eine Hälfte der pakistanischen Öffentlichkeit glaubte, ich arbeitete für das ISI, die andere Hälfte für die Taliban.

SB: Doch als der Politiker und frühere Cricket-Spieler Imran Khan auf das Thema Drohnenkrieg eingestiegen ist, hat Sie das vermutlich zum Nationalhelden gemacht, oder?

MSA: Imran Khan war von Anfang an ein schonungsloser Kritiker der Drohnenangriffe der USA in Wasiristan gewesen, hat das Thema auf der Fahne seiner Pakistanischen Bewegung für Gerechtigkeit (Pakistan Tehreek-e-Inshaf - PTI) jedoch erst 2012 groß geschrieben. Dazu kommt, daß Imran Khan lange Zeit als politisches Leichtgewicht abgetan wurde, der nur von seinem Ruhm als Kapitän der siegreichen pakistanischen Nationalmannschaft bei der Cricket-Weltmeisterschaft 1992 zehre. Wegen seines Einsatz für die Opferfamilien wurde er, genau wie ich, zunächst als Taliban-Apologet gebrandmarkt. Auch wenn es häufig mit öffentlichem Mißtrauen verbunden war, haben wir häufig gemeinsame Veranstaltungen abgehalten.

Die entscheidende Wendung in der öffentlichen Meinung erfolgte im Frühjahr 2011. Auslöser waren der von Ihnen vorhin bei der Diskussion erwähnte, spektakuläre Drohnenangriff auf ein Treffen von Dorfältesten in Datta Khel und die ihm vorausgehenden Affäre um die Verhaftung des CIA-Agenten Raymond Davis wegen der Erschießung zweier Männer auf offener Straße in Labore. Dieser Komplex hat die politische Landschaft völlig verändert. Bis zum Frühjahr 2011 hatte ich lediglich das Mandat von rund 30 Familien übernommen und einige Helfer in Nordwasiristan engagiert. Mir fehlte jedoch die Unterstützung der Stammesältesten in der Region. Nach der Ermordung der 42 Teilnehmer der Loya Jirga in Datta Khel am 17. März 2011 hatte ich sie - und zwar uneingeschränkt. Plötzlich riefen die paschtunischen Stammesanführer zu Protesten auf und ermutigten weitere Opfer, sich bei mir in Islamabad zu melden und sich von mir vertreten zu lassen. Unabhängig ihrer politischen Parteizugehörigkeit oder ihrer religiösen Ausrichtung waren sich die Dorfältesten einig: Sie sprachen sich gegen Vergeltungsmaßnahmen und für ein Beschreiten des Rechtsweges aus und ermutigten alle in Wasiristan, der Foundation for Fundamental Rights bei ihrer Arbeit jedwede Hilfe zu gewähren.

Das war für uns sehr gut, denn die NGOs haben in Wasiristan wirklich einen schweren Stand. Dort werden sie von vielen Menschen als trojanische Pferde westlicher Geheimdienste betrachtet. Dazu hat nicht zuletzt der Mißbrauch eines Impfprogramms der Hilfsorganisation Save The Children durch die CIA, um das Versteck Osama Bin Ladens in Abbottabad ausfindig zu machen und den Chef von Al Kaida im Mai 2011 dort zu liquidieren, beigetragen. Doch aufgrund unseren Engagements sind wir inzwischen in den Stammesgebieten willkommen; unsere Rechercheure können ohne Gefahr dorthin, um Zeugenaussagen zu protokollieren und Tatorte zu untersuchen, während wiederum die Menschen von dort regelmäßig auch zu uns ins Büro kommen, wo wir sie mit Vertretern der Presse zusammenbringen, um Publizität für ihre Fälle zu erzeugen.

SB: Aus Ihren Erkenntnissen über die Lage in Wasiristan heraus, was sagen Sie zu der provokanten These, daß es dem US-Militär mit den Drohnenangriffen dort weniger um die Ausschaltung irgendwelcher "Terroristen" als vielmehr darum geht, eine fast wehrlose Stammesgesellschaft einem wissenschaftlichen Großexperiment zu unterziehen?

MSA: Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Mir fällt spontan dazu ein Dokument des britischen Militärs aus den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts ein, als die Royal Air Force in Wasiristan Flächenbombardements durchführte, in dem ein RAF-Brigadegeneral mit den Worten zitiert wird: "Das Völkerrecht gilt für die Menschen, aber nicht für die Wilden der Erde. Wir müssen diese Leute nur ausreichend bombardieren, da werden sie uns schon gehorchen." Dieselbe Verachtung wie damals die Briten gegenüber der Bevölkerung in Wasiristan legen heute auch die Amerikaner an den Tag. Sie begnügen sich nicht damit, einzelne "Topterroristen" auszuschalten, sondern führen sogenannte "signature strikes", Drohnenangriffe aufgrund irgendwelcher Algorithmen, durch und greifen damit eine ganze Gesellschaft an. Die Menschen in Wasiristan sind umzingelt. Die Region ist umgeben vom Militär - auf pakistanischer Seite Pakistans Armee und Polizei und auf afghanischer Seite NATO und die Streitkräfte Afghanistans. Es gibt für sie kein Entkommen. Die Drohnen, bewaffnet oder nur zur Aufklärung, sind permanent in der Luft und verbreiten Angst. Das ganze gesellschaftliche Leben leidet unter der ständigen Beobachtung sowie der Dauergefahr, daß es überall knallen kann. Schulen wurden angegriffen, ebenso Madrassas, Moscheen, Loya Jirgas. Eine ganze Bevölkerung wird von der CIA bestraft. Während Zivilopfer in anderen Ländern entschädigt wurden, gab es für die unschuldigen Opfer im pakistanischen Wasiristan bislang nichts. Als seien sie Untermenschen, deren Leben nichts wert ist.

SB: In den letzten Jahren ist die Zahl der Drohnenangriffe in Pakistan und in der Folge die der Getöteten gefallen. Worauf führend Sie diesen Trend zurück - auf Ihre Kampagne oder vielleicht auf andere Faktoren?

MSA: Ich hätte gerne gesagt, daß das alles die Früchte unserer Arbeit seien. Tatsächlich sind aber hier eine ganze Reihe verschiedener Faktoren im Spiel. Als es 2004 mit den Drohnenangriffen in Pakistan losging, hatten wir einen Diktator in Form von General Pervez Musharraf an der Macht. Er war stark auf das Wohlwollen der USA angewiesen, also konnte die CIA in Wasiristan nach Belieben schalten und walten. Aus Islamabad kam kein Widerspruch. Als die Drohnenangriffe 2007, 2008 ihren Höhepunkt erreichten, kämpfte Musharraf mit dem Parlament und der Richterschaft um sein politisches Überleben. Islamabad war zu sehr mit der innenpolitischen Krise beschäftigt. Von dort gab es keinerlei Kontrolle dessen, was in den Stammesgebieten los war. Benazir Bhutto hatte die USA überzeugt, daß Musharraf der Grund für die fehlende Begeisterung der Pakistaner für den "Antiterrorkrieg" gewesen ist. Darum hat Washington mitgeholfen, Musharraf zum Abgang zu bewegen und ihn durch die gewählte und damit demokratisch legitimierte Präsidentin zu ersetzen. Als jedoch Bhutto auf einer Wahlkampfveranstaltung Ende 2007 einem Bombenattentat zum Opfer fiel, hat ihr Mann Ali Asif Zardari ab 2008 die ihr zugedachte Rolle übernommen.

Die Rückkehr zur Demokratie war schon eine positive Entwicklung. 2011 kam es, wie vorhin erwähnt, zu der Raymond-Davis-Affäre und dem Drohnenangriff auf die Loya Jirga in Datta Khel. 2012 machten drei Akademiker der kalifornischen Stanford University mit der Studie "Living Under Drones: Death, Injury and Trauma to Civilians from US Drone Practices in Pakistan" auf das Leid der Bevölkerung in Wasiristan aufmerksam. 2013 haben wir im Namen der Opferfamilien von Datta Khel vor dem High Court in Peshawar das historische Urteil erzielt, wonach die Drohnenangriffe in Wasiristan den Tatbestand des Kriegsverbrechens erfüllen, weil sie illegal, unmenschlich und einen Verstoß gegen die UN-Menschenrechtscharta darstellen. Zu dem Zeitpunkt tobte in Pakistan wieder der Wahlkampf. Alle Parteien erklärten sich öffentlich mit dem Urteil zufrieden und stellten die Umsetzung der Empfehlung der Richter, wegen der wiederholten Verletzung der pakistanischen Souveränität durch die USA den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York anzurufen, in Aussicht. Auch wenn es hierzu aus realpolitischen Gründen bislang nicht gekommen ist, haben Pakistans Behörden ein viel offeneres Ohr für die Drohnenopfer und tun sie nicht mehr wie früher einfach als Taliban-Sympathisanten ab. Wir von der Foundation for Fundamental Rights haben jedenfalls die pakistanische Regierung wegen der fehlenden Umsetzung des Urteils beim High Court in Peshawar wegen Mißachtung des Gerichts angezeigt. Der innenpolitische Druck auf Islamabad und auch die Wandlung in der öffentlichen Meinung scheinen die USA dazu bewogen zu haben, die Anzahl der Drohnenangriffe zurückzufahren, um die pakistanische Politelite vor der eigenen Bevölkerung nicht dumm dastehen zu lassen.

Man darf auch nicht vergessen, daß das pakistanische Militär selbst 2014 mit 30.000 Soldaten eine großangelegte Offensive gegen die verschiedenen Dschihadistengruppen in Nordwasiristan gestartet hat, die, obwohl fast abgeschlossen, bis heute noch andauert. Vermutlich hat das die Zahl der Ziele für die USA dort verringert. Derzeit sieht die Lage so aus, daß 70 Prozent der rund eine Millionen Binnenflüchtlinge, die wegen der Kämpfe Wasiristan verlassen mußten, inzwischen wieder in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt sind. Noch dreißig Prozent wartet auf die Wiederansiedlung, die bis Ende dieses Jahres abgeschlossen sein sollte, so die Behörden in Islamabad. In diesem Jahr gab es bislang nur drei CIA-Drohnenangriffe, was im Vergleich zu den Jahren davor eine deutliche Verringerung ist. Dennoch hängen die Aufklärungsdrohnen die ganze Zeit in der Luft über Wasiristan. Mal sehen, wie sich die Dinge weiterentwickeln. Ich glaube nicht, daß die USA gänzlich auf den Einsatz von bewaffneten Drohnen gegen Ziele in Pakistan verzichten werden. Schließlich haben sie im vergangenen Mai erstmals außerhalb der Stammesgebiete einen tödlichen Drohnenangriff durchgeführt, als sie in der Provinz Belutschistan den Chef der afghanischen Taliban, Mullah Aktar Mohammad Mansur, als dieser mit dem Auto von einer Reise in den Iran zurückkehrte, hinrichteten.


SB-Redakteur und Shahzad Akbar im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Der Schattenblick und Shahzad Akbar gehen in die Details Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Sie haben vor einigen Jahren Ihre Bedenken wegen des Drohnenkrieges gegenüber einigen der politischen Entscheidungsträger in Washington vortragen können. Wie kam Ihre Botschaft dort an? Fühlten Sie sich mit Ihrem Anliegen ernst genommen?

MSA: 2012 durfte ich für wenige Tage in die USA einreisen, um an einer Anti-Drohnenkonferenz der amerikanischen Friedensgruppe Code Pink teilnehmen zu können. Ich würde nicht sagen, daß sich die Reise nicht gelohnt hätte, aber im Grunde kam ich in Washington fast ausschließlich mit Aktivisten zusammen, die wie ich in der Materie drinstecken und dem Einsatz von bewaffneten Drohnen ablehnend gegenüberstehen. Ich habe so gut es ging versucht, Kontakt zu den politischen Vertretern der USA aufzunehmen. Ich habe zum Beispiel ein langes Gespräch mit Dennis Kucinich, damals Kongreßabgeordneter aus Ohio, in seinem Büro auf dem Kapitol geführt. Doch Kucinich gilt als Linksaußen bei den US-Demokraten. In der großen Politik hatte er wenig zu melden und verlor seinen Sitz bei den Zwischenwahlen am Ende desselben Jahres.

Dennoch war die Reise für mich lehrreich. Aus Gesprächen mit Mitarbeitern des State Departments habe ich herausgehört, daß sie sich wenige Sorgen um die Drohnenproblematik in Pakistan machten, weil sich die pakistanische Öffentlichkeit für das Thema nicht allzusehr interessiere. In dem Moment begriff ich, daß wir in Pakistan mit verstärkter Öffentlichkeitsarbeit die einfachen Menschen mehr mobilisieren müssen, damit die politisch Verantwortlichen in den USA das Thema nicht weiter einfach ignorieren können. Darum haben wir im selben Jahr zusammen mit Imran Khan und seiner PTI einen großen Friedensmarsch nach Wasiristan veranstaltet. An dem Marsch nahmen auch eine Gruppe Vertreterinnen von Code Pink teil. Im Vorfeld war die US-Botschaft von dem Vorhaben überhaupt nicht angetan. Dort befürchtete man, die Friedensaktivistinnen könnten in Nordwasiristan von den Taliban entführt werden.

SB: Oder sogar getötet werden.

MSA: Ganz genau. Die Leute in der Botschaft ärgerten sich über die ungebetene Einmischung ihrer Mitbürger in die US-Drohnenpraxis in Pakistan und befürchteten, der Marsch könnte in einem PR-Fiasko für die Regierung Barack Obamas enden. Also hat die US-Botschaft, die sonst mit mir und der Kampagne gegen die Drohnenangriffe nicht das Geringste zu tun haben will, Kontakt mit mir aufgenommen und mich gebeten, ob ich die Frauen von Code Pink, die meisten von ihnen älteren Semesters, nicht irgendwie davon abbringen könnte, sich an dem Marsch zu beteiligen. Es war schon skurril. Ich sagte dem Botschaftsvertreter am Telefon: "Diesmal stehen wir auf derselben Seite. Ich will auch nicht, daß sie dahingehen, aber sie sind wild entschlossen und ich kann sie nicht daran hindern. Ich habe ihnen bereits mehrmals erzählt, wie gefährlich es ist, aber sie hören mir überhaupt nicht zu!" Schließlich bestand der Botschafter auf ein Treffen. Daran nahmen er, ich und die Frauen von Code Pink teil. Am Ende mußte ich sogar den armen Botschafter in Schutz nehmen, weil die Code-Pink-Vertreterinnen so scharf mit der US-Drohnenpraxis ins Gericht gingen und ihren diplomatischen Stellvertreter in Islamabad dafür verantwortlich machten. Sie sagten ihm, sie seien freie Bürgerinnen und er habe darüber nicht zu bestimmen, was sie in Pakistan machten oder wohin sie gingen. Da schaltete ich mich ein und erklärte, 'der Botschafter hat das Recht. Er macht sich Sorgen um Ihre Sicherheit. Ich mache mir auch Sorgen um Ihre Sicherheit. Aber am Ende liegt die Entscheidung bei Ihnen'.

SB: Aber Sie hatten im Vorfeld grünes Licht für dem Marsch von den Dorfältesten in Nordwasiristan bekommen oder nicht?

MSA: Klar hatten wir das, aber die Dorfältesten sprechen nicht unbedingt für die pakistanischen Taliban. Wir hatten auch Zusicherungen von der pakistanischen Polizei und Armee, daß sie alles tun würden, um die Sicherheit der Teilnehmer des Marsches zu gewährleisten. Das Ganze wurde letztlich zum Riesenerfolg. Wir haben sehr viel Publizität erfahren, insbesondere wegen der Teilnahme der Frauen von Code Pink. Es war schon mutig von ihnen, und ich zolle ihnen Respekt. Aber nachdem die ganze Sache vorbei war, war ich wahnsinnig erleichtert, daß alles gut gegangen und niemandem zu Schaden gekommen war.

SB: Sind die Drohnenangriffe der USA in der Grenzregion zu Afghanistan noch ein wichtiges Thema der pakistanischen Politik?

MSA: Sie sind zwar noch ein Thema, nur vielleicht nicht so groß wie vor einigen Jahren. Im Parlamentswahlkampf 2013 hatten alle Parteien im Programm Stellung zu den Drohnenangriffen bezogen. Doch so wie die Zahl der Angriffe gesunken ist, hat auch das Thema in der Öffentlichkeit an Dringlichkeit verloren. Für mich und die Foundation for Fundamental Rights ist die Frage der Entschädigung der Opferfamilien nach wie vor ein ganz wichtiges Anliegen. Wir üben weiterhin politischen Druck aus, schreiben Briefe, telefonieren mit Politikern, halten Veranstaltungen ab et cetera. Aktuell arbeite ich mit einer Gruppe Parlamentarier aus allen Parteien, darunter auch der Vorsitzende des pakistanischen Senats, an einem Gesetzesentwurf, der nach der Verabschiedung den Familien die Möglichkeit eröffnen soll, Entschädigungszahlungen zu beantragen und zu bekommen.

SB: Wie sehr haben die CIA-Drohnenangriffe in Wasiristan und der anhaltende Krieg der USA im Nachbarland Afghanistan zu der Radikalisierung von Teilen der pakistanischen Gesellschaft beigetragen? 2007 gingen Pakistans Anwälte für Demokratie und Rechtsstaat gegen Musharrafs Diktatur auf die Straße. Im Februar dieses Jahres waren es wieder Anwälte, welche die Demonstrationen gegen die Hinrichtung von Mumtaz Qadri anführten, der 2011 als Leibwächter seinen eigenen Arbeitgeber, den damaligen Gouverneur der Provinz Punjab, Salman Taseer, aus religiösen Gründen, nämlich wegen dessen Ablehnung des umstrittenen pakistanischen Blasphemiegesetzes, mit seinem Maschinengewehr vom Typ AK-47 ermordet hatte. Können Sie uns diese Wandlung bei den pakistanischen Juristen erklären?


Zweiergespräch SB-Redakteur und Shahzad Akbar aus der Halbdistanz - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick

MSA: Die Radikalisierung der pakistanischen Gesellschaft ist kein neues Phänomen, sondern ist über einen langen Zeitraum gewachsen. Traditionell liegen die Wurzeln des pakistanischen Islams im Sufitum. Die in Pakistan traditionell vorherrschende sunnitische Ausrichtung der Barelwi ist eine Art Volksislam, der sich stark von der strengen Koran-Auslegung der Deobandi-Schule unterscheidet und deshalb auch von letzterer heftig bekämpft wird. Parallel zur Unterstützung der Mudschaheddin im Kampf gegen die kommunistische Regierung in Kabul und die Sowjetarmee in Afghanistan kam es unter der Leitung des damaligen Diktators General Zia Ul Haq zu einem Aufschwung des islamischen Fundamentalismus in Pakistan. Zu der Radikalisierung trug Saudi-Arabien durch die landesweite Förderung des Baus und Betriebs von unzähligen religiösen Schulen bei. In einigen Madrassas bekamen die Schüler Lehrmaterial, das von der CIA konzipiert worden war und das ihnen den Haß auf die Sowjets eintrichtern sollte. Unter Präsident Zia wurde in Pakistan die wahhabitische Auslegung des Korans vom Staat gefördert, zum Nachteil des bis dahin gesellschaftlich prägenden Sufitums. Also hat die Radikalisierung Pakistans in den achtziger Jahren ihren Lauf genommen.

Nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 und dem Einmarsch der NATO-Mächte USA und Großbritannien in Afghanistan ein Monat später bekamen viele Pakistaner, die bis dahin nicht besonders religiös waren, das Gefühl, der globale Antiterrorkrieg des Westens richte sich gegen arme Moslems, und identifizierten sich mit ihnen. Die Verschleppung zahlreicher Moslems als "islamistische Terroristen" nach Guantánamo Bay, Bagram und anderswo hat die Menschen in Pakistan empört. Einige junge Leute haben sich dem Guerillakampf der pakistanischen Taliban angeschlossen, andere wie der "Times Square Bomber" Faisal Shahzad haben Vergeltungsaktionen im Westen gestartet. Vor Gericht sagte Shahzad später aus, Berichte im Internet über die CIA-Drohnenangriffe und deren Auswirkung auf die Zivilbevölkerung hätten ihn radikalisiert. Drohnenangriffe, Folter, Verschleppung - alle drei Maßnahmen waren Wasser auf die Mühlen der Radikalislamisten, denn sie haben deren Hauptvorwurf, der westliche Neoimperialismus sei unmenschlich, praktisch bestätigt. Natürlich betreiben die Dschihadisten Propaganda. Das steht außer Zweifel. Aber die USA liefern ihnen den Stoff dazu frei Haus. Nehmen wir nur zum Beispiel das Leiden der Aafia Siddiqui, der vermeintlichen Al-Qaida-Braut. Der Frau ist von den US-Geheimdiensten Schreckliches angetan worden. Der Fall schlägt in Pakistan bis heute hohe Wellen. Im Westen dagegen haben die allerwenigsten von der Geschichte überhaupt Notiz genommen.

Was die von Ihnen erwähnten Proteste der Anwälte anläßlich der Hinrichtung von Mumtaz Qadri betrifft, so muß ich einiges klarstellen. Als die USA nach 9/11 den Kampf gegen den Wahhabismus aufnahmen, haben sie gleichzeitig die in Pakistan rivalisierende Barelwi-Ausrichtung finanziell unterstützt. Qadri ist ein Anhänger dieser Schule, die zwar Friedfertigkeit predigt, gleichwohl eine Sache mehr als alles andere betont, nämlich den Respekt vor dem Propheten Mohammed. Salman Taseer hatte sich für eine Christin namens Asia Bibi stark gemacht, die 2009 von ihren muslimischen Nachbarn bezichtigt worden war, den Propheten beleidigt zu haben und deshalb nach dem Blasphemie-Gesetz hingerichtet werden sollte. Wegen seines Einsatzes gegen das Todesurteil von Bibi hat Qadri Taseer ermordet (2015 wurde Bibis Todesurteil in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt - Anm. d. SB-Red.). Es gibt rund 100.000 Anwälte in Pakistan. Nur rund 200 von ihnen haben gegen die Hinrichtung Qadris öffentlich demonstriert. Es war also keine große Aktion. Das Foto von der Demonstration, das damals in der nationalen und internationalen Presse erschien, ließ sie viel größer erscheinen, als sie tatsächlich war.

SB: Vor zwei Tagen hat Indiens Premierminister Narendra Modi Pakistan als "das Mutterschiff des Terrorismus" bezeichnet. Könnten Sie bitte diese Äußerung kommentieren und was meinen Sie, wie der Kaschmir-Konflikt friedlich beigelegt werden könnte?

MSA: Ich denke nicht, daß es Modi zusteht, irgendein Urteil über Pakistan zu fällen, denn er selbst gilt doch als "Schlächter von Gujarat". Als damaliger Ministerpräsident jener Provinz ließ er die Pogrome geschehen, die im Jahr 2002 bis zu 2000 einfachen Moslems das Leben kosteten. Die diskriminierende, chauvinistische Haltung von ihm und seiner hindunationalistischen Bharatiya Janata Party ist hinlänglich bekannt. Für das Kaschmir-Problem gibt es meines Erachtens nur eine Lösung: Man muß den Willen der Bevölkerung dort respektieren und die Menschen dort darüber abstimmen lassen, ob die Region zu Indien oder Pakistan gehören oder doch noch unabhängig von beiden werden soll. Das war der offizielle Standpunkt der Vereinten Nationen 1948. Damals, als es zwischen den beiden neuen Staaten Indien und Pakistan zu einem kurzen Krieg wegen Kaschmir kam, hat man beim Waffenstillstand vereinbart, daß eine Volksbefragung die Frage der staatlichen Zugehörigkeit der Region entscheiden sollte. Bis heute weigert sich Indien aus Angst, die Kontrolle über Kaschmir zu verlieren, jenes Plebiszit durchzuführen. Modis BJP-Regierung hat erklärt, daß die Zugehörigkeit Kaschmirs zu Indien absolut und nicht in Frage zu stellen sei.

SB: Was könnte Islamabad machen, um Entspannung in die Problematik hineinzubringen?

MSA: Es hat in den vergangenen Jahren seitens Pakistans eine ganze Reihe von Initiativen gegeben, den Kaschmir-Konflikt mit Indien friedlich beizulegen, die Kriegsgefahr zu bannen und endlich die Beziehung der beiden Nachfolgestaaten von British India zu normalisieren. Doch sie haben aus welchem Grund auch immer nicht gefruchtet. Früher war es in Pakistan aus innenpolitischen Gründen angesagt, Indien-Bashing zu betreiben. Heute ist das nicht mehr der Fall. Die Pakistaner haben begriffen, daß die Politik ihres Landes vom Thema Kaschmir nicht länger in Geiselhaft genommen werden darf. Pakistan hat genügend eigene Probleme mit religiösen Extremisten und Aufständischen wie den pakistanischen Taliban. Damit sollten wir uns mehr befassen, als uns dauernd über die Menschenrechtsverletzungen Indiens in Kaschmir aufzuregen. Der Schicksal der mehrheitlich muslimischen Menschen in Kaschmir wird für Pakistan immer ein wichtiges Thema sein. Das ist auch gut so. Doch Kaschmir darf nicht das alles beherrschende Thema der pakistanischen Innen- und Außenpolitik sein.

Aus diesem Grund genoß Musharraf sehr breite Unterstützung in der pakistanischen Bevölkerung, als er 2006 versuchte, ohne irgendwelche Vorbedingungen mit Indien den Kaschmir-Konflikt zu lösen und dabei Bereitschaft signalisierte, auch über Pakistans territoriale Ansprüche zu verhandeln. Musharrafs ehrgeiziger Vier-Punkte-Plan sah den Wegfall der Grenzen, also freien Verkehr für Menschen und Güter, den Abzug der Streitkräfte beider Staaten von der Line of Control (LoC), also Demilitarisierung, und Kaschmir als Autonomieregion unter gemeinsamer, nomineller Verwaltung Neu-Delhis und Islamabads vor. Leider wurde aus dem Vorstoß nichts. Meiner Meinung nach liegt das Problem auf der Seite Indiens. Aus politischen Gründen kann es sich keine der beiden großen Parteien Indiens, weder die konservative BJP noch die sozialdemokratische Kongreß-Partei - die vor zehn Jahren unter Premierminister Manmohan Singh an der Macht war - leisten, Zugeständnisse gegenüber Pakistan zu machen. Aus Sicht Indiens bleibt Pakistan der Feind, bei dem man stets auf der Hut sein und den man im Notfall auf dem Schlachtfeld bezwingen muß. An nachbarschaftlichen Beziehungen und einer Zusammenarbeit mit Pakistan, wie man es heute zwischen den beiden früheren Erzfeinden Deutschland und Frankreich erlebt, ist in Indien nur eine Minderheit interessiert. Die Kaschmir-Problematik zu lösen, das kann auf indischer Seite nur die BJP schaffen. Die Hindu-Nationalisten könnten die Art von Zugeständnissen machen, weswegen sie der Kongreß-Partei, würde letztere gegenüber Pakistan eine solche Kompromißlinie fahren, die Hölle heiß machten.

SB: Wie Nixon in China.

MSA: So ist es. Gerade weil Richard Nixon der Ruf als republikanischer Kommunistenfresser vorauseilte, konnte er als erster US-Präsident 1972 die Volksrepublik China besuchen, mit Mao Zedong Tee trinken und eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Peking und Washington in die Wege leiten, ohne Gefahr zu laufen, daheim als wirklichkeitsfremder Friedensaktivist diffamiert zu werden. Ähnlich konnte es sich Musharraf wegen seines Rufes als Militär, der bereits 1999 als Generalstabschef beim Kargil-Konflikt die Klingen mit Indien gekreuzt hatte, innenpolitisch leisten, in der Kaschmir-Frage auf Neu-Delhi zuzugehen. Er mußte nicht befürchten, wegen Unerfahrenheit oder fehlendem Realismus auf dem Feld der Sicherheitspolitik angegriffen zu werden. Derzeit sehen wir uns mit einer sehr traurigen Situation in Kaschmir konfrontiert. In der Region regt sich immer Widerstand gegen die Repression durch Indiens Armee und Polizei, während es an der LoC fast jeden Tag zu Artillerieduellen und ähnlichem kommt, aus denen jederzeit ein großangelegter Krieg beider Staaten resultieren kann. Die Leidtragenden der verfahrenen Lage sind die einfachen Menschen in Kaschmir, in Pakistan und in Indien.

SB: Vor dem Hintergrund der Pläne Chinas, für rund 51 Milliarden Dollar die Infrastruktur Pakistans in den Bereichen Energie, Straße und Schiene zu modernisieren und zwischen dem Tiefseehafen Gwadar im pakistanischen Belutschistan und der westchinesischen Autonomieregion Xinjiang einen Wirtschaftskorridor samt Transportachse zu errichten, was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen für die Außenpolitik Islamabads im besonderen, der pakistanischen Gesellschaft im allgemeinen?

MSA: Pakistan hat wegen der Aktivitäten der Taliban und anderen extremistischen Gruppen im Land ein großes Image-Problem. Ich glaube, daß bei uns die Militärs und Politiker inzwischen eingesehen haben, daß dagegen etwas unternommen werden muß und daß, um das zu schaffen, wirtschaftlicher Fortschritt erforderlich ist. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze steht an oberster Stelle der politischen Prioritäten, denn aktuell besteht über die Hälfte der Bevölkerung Pakistans aus Kindern und Jugendlichen. Sie müssen eine sinnvolle Aufgabe für sich in der Gesellschaft finden, müssen in der Lage versetzt werden, eigene Familien zu gründen, sonst werden sie von den radikalen Kräften, die ihre Ziele mittels Gewalt erzielen wollen, angezogen. Man kann junge Menschen nicht deradikalisieren, indem man ihnen Predigten hält, sondern nur, indem man ihnen vernünftige Lebensperspektiven bietet. Parallel zur Schaffung von Arbeitsplätzen gehören dazu auch höhere Investitionen in den Bereichen Bildung und Gesundheit, damit die einfachen Menschen sehen, daß der Staat etwas für sie macht und nicht nur da ist, um die Eliten zu bedienen.

Was die Zukunft Pakistans betrifft, so bin ich optimistisch. Ich verfolge die pakistanische Innenpolitik sehr intensiv und bin der Meinung, daß wir als Gesellschaft, sowohl die politische Führung als auch die einfachen Bürger, erkannt haben, daß wir neue Wege gehen und den bisherigen korrupten Klientelismus hinter uns bringen müssen. Seit Jahren blockieren die USA den Versuch Islamadads, den chronischen Strommangel im Lande durch den Ausbau einer Erdgastrasse vom Iran über Pakistan nach Indien, die sogenannte IPI-Pipeline, zu beheben. Jene Pipeline hätte nicht nur pakistanische Betriebe und Privathaushalte mit Energie beliefert, sondern eine Menge Transitgebühren in die Staatskasse gespült und zu einer Verbesserung der Beziehungen zu Indien geführt.

Seit dem Staatsbesuch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping im April 2015 steht nun statt dessen das Riesenprojekt CPEC, der China-Pakistan Economic Corridor, im Raum. Dieser soll in den nächsten 15 Jahren mindestens 700.000 Arbeitsplätze schaffen und das Wachstum des pakistanischen Bruttoinlandsprodukts um jährlich zwei bis zweieinhalb Prozent erhöhen. Es sind nicht nur der Ausbau der Transportwege und Energietrassen von Gwadar nach China, sondern auch die Errichtung moderner Kraftwerke sowie die Schaffung mehrerer Sonderwirtschaftszonen in Pakistan vorgesehen. CPEC dürfte der pakistanischen Wirtschaft einen enormen Schub geben. Pakistan steht vor größeren Herausforderungen als der Bekämpfung des "Terrorismus", nämlich vor der Gewährleistung der Nahrungsmittel- und Wassersicherheit für mehr als 200 Millionen Menschen. Legt die Regierung in Islamabad ihr Hauptaugenmerk auf die wirtschaftliche Entwicklung, denn dürfte Pakistan auf einem guten Weg in die Zukunft sein.

SB: Vielen Dank, Mirza Shahzad Akbar, für das Interview.


Teilnehmer der ersten Diskussionsrunde auf der Bühne sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

(v.l.n.r.) Jennifer Gibson, Jeremy Scahill, Sarah Harrison, Shahzad Akbar & Chris Wood
Foto: © 2016 by Schattenblick


Bisherige Beiträge zum ECCHR-Diskussionsabend um den Drohnenkrieg der USA im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/248: Menschenrechtsfreie Zone - Die Lizenz zum Töten (1) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0248.html

BERICHT/249: Menschenrechtsfreie Zone - Die Lizenz zum Töten (2) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0249.html


2. November 2016


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