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INTERVIEW/347: Übergangskritik - Friedensgebot des Raubes ...    Markus Wissen im Gespräch (SB)


Der Politologe Markus Wissen arbeitet an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR). Sein Arbeitsschwerpunkt sind sozial-ökologische Transformationsprozesse. Auf der Konferenz "Am Sterbebett des Kapitalismus?", die am 3. und 4. März bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin-Friedrichshain stattfand, nahm er an der Podiumsdiskussion über "Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Sozial-ökologische Krise und die Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse" teil. Das von Markus Wissen und Ulrich Brand verfaßte Buch "Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus" wurde soeben veröffentlicht.


Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Markus Wissen
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Wissen, wie ist das von Ulrich Brand und Ihnen verfaßte Buch "Imperiale Lebensweise" entstanden?

Markus Wissen (MW): Genaugenommen reicht die persönliche, politische und wissenschaftliche Entstehungsgeschichte relativ weit zurück. Wir haben uns in den 90er Jahren in der BUKO, der Bundeskoordination Internationalismus, kennengelernt und zusammen zu Weltwirtschaftsfragen gearbeitet. Aus dieser politischen Kooperation ist eine wissenschaftliche geworden, die dann darin mündete, daß wir vier Jahre in Wien im Institut für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt auf ökologische Fragen gearbeitet haben. In dieser Zeit ist das Konzept der "imperialen Lebensweise" entstanden. Der Begriff geht auf Ulrich zurück. Wir haben die Idee zu dem Begriff dann gemeinsam in verschiedenen Veröffentlichungen ausgearbeitet. Nachdem wir im letzten Jahr Zeit fanden, uns intensiver damit auseinanderzusetzen, ist daraus dieses Buch resultiert.

Der gesellschaftliche Hintergrund ist natürlich ganz stark durch das vorgegeben, was sich in den letzten Jahren ereignet hat und in der Regel als multiple Krise, als Vielfachkrise, bezeichnet wird: also die Krise der Naturverhältnisse, der Energieversorgung, der Wirtschaft, der Finanzen und der Demokratie. Unsere Ausgangsfrage war: Wie kommt es, daß sich in diesen vielfältigen Krisen so wenig von links her bewegt? Eine unserer Annahmen, die wir in einem Artikel von 2011 weiter ausgearbeitet und dann vor allen Dingen in dem Buch dargestellt haben, betrifft ganz stark die stabilisierenden Momente einer bestimmten Produktions- und Lebensweise, die wir als imperial bezeichnen. Diese beruht darauf, daß bestimmte Länder und Gesellschaften überproportional auf Ressourcen, Senken und Arbeitskraft in globalem Maßstab zugreifen. Das kann natürlich gerade in Krisensituationen stabilisierend wirken, weil die Reproduktionskosten der Subalternen einigermaßen niedrig gehalten werden.

Das ist keine analytische Gleichmacherei. Ich hatte in der Diskussion darauf hingewiesen, daß wir auch den hierarchisierenden Charakter der imperialen Lebensweise in den Blick nehmen. Sie führt in gewisser Weise dazu, daß sich Wohlstandsniveaus angleichen. Aber sie hierarchisiert in dieser Angleichung trotzdem noch, und zwar derart, daß Menschen mit niedrigerem Einkommen weniger Ressourcen verbrauchen und weniger Emissionen produzieren, als das bei Menschen mit höherem Einkommen der Fall ist. Das sind einige der Gesichtpunkte, die wir noch einmal in dem Buch weiter auszuarbeiten versucht haben. Zu den verschiedenen Bestandteilen der imperialen Lebensweise gehört das Moment der Externalisierung und Hierarchisierung, das Moment der hegemonialen Stabilisierung von sozialen Verhältnissen wie auch das Moment der Subjektivierung, also wie Individuen durch bestimmte Subjektivierungsprozesse, die wiederum nicht losgelöst vom kapitalistischen sozialen Kontext zu sehen sind, in ebendiese Lebensweise gewissermaßen hineinsozialisiert werden.

SB: Auf der einen Seite werden Flüchtlinge in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, auf der anderen Seite hat es allein im letzten Jahr einen Zuwachs von 3,6 Prozent an Flugreisen von Deutschland ins Ausland gegeben, vor allen Dingen nach Spanien, also in den Urlaub. Wie geht man mit diesem Widerspruch um, wenn man einmal die Behauptung ernstnimmt, daß Menschen gleichberechtigt sind?

MW: Das ist sicherlich eine Erscheinungsform der imperialen Lebensweise. Wir gehen in dem Buch historisch noch einen Schritt zurück und verorten die Entstehung der imperialen Lebensweise im Kolonialismus. Indem wir verschiedene Phasen unterscheiden, machen wir deutlich, daß die imperiale Lebensweise bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein Luxusphänomen der herrschenden Klassen war, die sich das leisten konnten. Man kann dies wunderbar am Beispiel der Automobilität nachvollziehen, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts kein Massenphänomen war. Die Phase des Fordismus, die in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, war eine Phase der Verallgemeinerung der imperialen Lebensweise im innergesellschaftlichen Maßstab des globalen Nordens. Automobilität wurde ein Massenphänomen. Mit ihrer Hilfe wurden die Menschen gewissermaßen in die kapitalistische Produktionsweise hineinsozialisiert. Wir zitieren in dem Buch unter anderem André Gorz, der den Straßenverkehr als Modell der Einübung in kapitalistische Konkurrenzpraktiken bezeichnet.

Das ist ein gutes Beispiel, zeigt es doch die enge Verbindung zwischen kapitalistischer Produktionweise und imperialer Lebensweise. Der Begriff der Lebensweise impliziert bei uns immer auch die Produktionsweise. Imperiale Lebensweise will sagen, daß bestimmte Produktions- und Konsummuster für Menschen klassenübergreifend attraktiv sind und unterschiedlich in ihrem Niveau erreicht und praktiziert werden können, je nach der Klassen- bzw. sozialen Position. Auch Geschlechterdifferenzen sind dabei in Rechnung zu stellen. Der Begriff will aber auch sagen, daß Menschen nur eine begrenzte Wahl haben, sich dem zu entziehen. Das heißt, durch die Notwendigkeit, die eigene Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen, werden Menschen gewissermaßen in die imperiale Lebensweise hineingezogen. In der Art und Weise, wie sie produzieren, auf Ressourcen aus anderen Ländern zurückgreifen und sie verarbeiten, in der Art und Weise, wie sie konsumieren, profitieren sie von Vorleistungen arbeitskraftbezogener Art aus anderen Ländern. So werden sie über das kapitalistische Lohnarbeitsverhältnis in eine imperiale Lebensweise hineingezwungen. Insofern ist das immer beides. Die imperiale Lebensweise ist Zwang, aber gleichzeitig auch ein Versprechen auf Wohlstand und materielle Unabhängigkeit, also auf ein in einer bestimmten Weise verstandenes gutes Leben.

SB: Gesellschaftlich wird der Umbau zur E-Mobilität gefordert. Doch unabhängig davon müßten für eine größer werdende Bevölkerung immer mehr Straßen gebaut werden, was in einem erheblichen Ausmaß zu einer Flächenversiegelung und einem wachsenden Rohstoff- und Energie-Input führen würde. Wäre das für Sie eine Abkehr von der imperialen Lebensweise oder ließe sie sich auch unter grün-kapitalistischen Bedingungen reproduzieren?

MW: Die Elektroautomobilität wäre das klassische Beispiel einer ökologischen Modernisierung der imperialen Lebensweise. Sie löst keines der mit der Automobilität einhergehenden Probleme, nicht einmal das der CO2-Emission, weil Elektroautos im Herstellungsprozeß CO2-intensiver sind als solche mit normalem Verbrennungsmotor. Sie löst auch nicht die Ressourcenfrage, weil die Karosserien und Batterien für die Elektroautos ressourcenintensiv sind. Wenn die Automobilität auf dem gegebenen Niveau auf Elektroautomodelle umgestellt würde, müßten wir schnell feststellen, daß diese Ressourcen einfach nicht in ausreichendem Ausmaß zur Verfügung stehen.

Auch das Problem, von dem unsere Städte ständig betroffen sind, weil Automobile den meisten Platz im städtischen Raum einnehmen, der ansonsten für Kinder, Fahrradfahrer oder Fußgänger zur Verfügung stünde,wird dadurch nicht gelöst. All das wird oft gar nicht mitbedacht, wenn über die Transformation der Automobilität diskutiert wird. "Die Unwirtlichkeit unserer Städte", wie Mitscherlich es einmal genannt hat, wird ganz stark durch die automobilen Infrastrukturen hergestellt. Dieser Umstand wird durch die E-Mobilität in keinster Weise angegangen, es sei denn, die E-Mobilität würde im Kontext einer grundlegenden Transformation unserer Mobilitätspraktiken gesehen. Das würde dann bedeuten, daß etwa Car-Sharing-Autos oder Firmenflotten auf der Basis von Elektromotoren betrieben und die Verbrennungsmotoren ausgemustert werden oder daß andere Formen der E-Mobilität gestärkt werden. In den Straßenbahnen haben wir ja E-Mobilität, man könnte auch Busse mit Elektromotoren betreiben und dergleichen. Das sind Formen von E-Mobilität, die man ausbauen müßte, aber auf die Elektroautomobilität zu setzen, in der Annahme, daß die Umstellung von Verbrennungsmotoren auf Elektromotoren auf dem gegebenen Niveau der Automobilität irgendein Problem lösen könnte, ist völlig illusorisch.

SB: In der Landwirtschaft wird unter hohem Energieeinsatz und Output von Treibhausgasen insbesondere in der Tierproduktion produziert. Haben Sie sich in Ihrem Buch auch diesem Thema gewidmet?

MW: Wir haben das nicht näher untersucht, gehen aber schon auf die Landwirtschaft ein, weil ihre Industrialisierung ein wesentliches Moment des Fordismus und der Herausbildung von fordistischen Ernährungspraktiken war. Wir haben uns an mehreren Stellen des Buches auf den US-amerikanischen Agrarsoziologen Philip McMichael bezogen, der die Abfolge von verschiedenen Food Regimes, wie er es nennt, unterscheidet. Das Food Regime, das für den globalen Norden seit den 30er Jahren bzw. seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschend war, beruhte stark auf der Industrialisierung der Landwirtschaft und der Herstellung von Massengütern im Ernährungsbereich. Das ist natürlich auf die Ökologie angewandt fatal.

Man könnte natürlich sagen, daß die Grüne Revolution, die im wesentlichen versucht hat, mit Agrarchemie und hybriden Hochertragssorten den Hunger in der Welt zu bekämpfen, seit den 60er Jahren dazu beigetragen hat, die Ernährungsgrundlage zu verbessern. Aber die Folgekosten waren immens. Nicht nur, daß kleinbäuerliche Existenzen zerstört wurden. Die im Kontext der industriellen Landwirtschaft von Marx relativ früh thematisierte kurzzeitige Steigerung der Bodenproduktivität wird mit der langfristigen Auslaugung der Böden erkauft, die dann keinen Ertrag mehr abwerfen. Das sind einige der Folgen der industriellen Landwirtschaft, mit denen wir zunehmend konfrontiert sein werden.

Das Problem bei der industriellen Landwirtschaft ist die Konvertierung der Energieverhältnisse. Früher war die Landwirtschaft ein Nettoerzeuger von Energie. Heute wird mehr an energetischen Inputs in die Landwirtschaft reingesteckt als an Energie über die Ernährung, das heißt über die Pflanzen, die produziert werden, aus der Landwirtschaft herausgezogen wird. Das kann so nicht weitergehen. Es ist absehbar, daß das nicht funktioniert. Da braucht man gar nicht nur über die fossilen Energieträger zu reden, die in der Landwirtschaft zum Einsatz kommen. Auch wichtige Produktionsinputs wie Phosphor oder dergleichen werden auf Dauer knapp werden. An einer Transformation der industriellen Landwirtschaft, die ein wesentlicher Bestandteil der imperialen Lebensweise ist, führt genauso wie an einer grundlegenden Transformation der Automobilität kein Weg vorbei.

SB: Laut dem von der Bundesregierung betriebenen Projekt der Dekarbonisierung sollen bis 2050 50 Prozent der Treibhausgase, also CO2 und Äquivalente, eingespart werden. Was halten Sie von dieser Perspektive und der damit verbundenen Quantifizierung gesellschaftlicher Naturverhältnisse?

MW: Wenn damit Transformationsnotwendigkeiten deutlich gemacht werden, halte ich sie durchaus für sinnvoll. Ich denke, an dieser eindrucksvollen Vorgabe, bis 2050 50 Prozent der CO2-Emissionen in einem globalen Maßstab einzusparen, was auf die Industrie bezogen 80 bis 90 Prozent heißt, zeigt sich, daß noch einiges machbar ist. Auch kann es dazu dienen, die Bundesregierung an ihren eigenen Taten zu messen. Offensichtlich scheint sie dieses Ziel zwar vorzugeben, aber es dann doch nicht so ernst zu nehmen. So kommt beispielsweise der Kohleausstieg nicht so richtig voran, und ohne den wird es einfach nicht funktionieren.

Ansonsten sehe ich auch die Gefahr, daß man das Ganze quantifiziert und auf der Grundlage dessen Instrumente entwickelt oder weiter betreibt, die sich als unwirksam erwiesen haben wie etwa der Europäische Emissionshandel. Der funktioniert in dieser Form nicht, weil er auf der Illusion beruht, daß man nach dem Lehrbuch neoklassischer Ökonomen einen Markt für Emissionszertifikate einrichten könnte. Die Realität funktioniert aber nicht so, wie das die Neoklassik gerne hätte. Die Konstitution eines Marktes ist ein politischer Prozeß. Da wird gekämpft um die Art und Weise, wie er eingerichtet wird, wer wieviel emittieren darf, wer von welchen Sonderregelungen profitiert, wer vielleicht auch Emissionszertifikate kostenlos zur Verfügung gestellt bekommt und so weiter. Wenn man das alles in Rechnung stellt, kann eine solche Quantifizierung natürlich auch auf eine völlig falsche Spur führen, weil den grundlegenden Transformationsnotwendigkeiten eben nicht Rechnung getragen wird.

Viel besser, als mit solchen Instrumenten wie mit dem Emissionshandel weiter herumzuoperieren, wäre es, auf regionaler Ebene eine nachhaltige Landwirtschaft zu fördern, Städte umzustrukturieren, den Autoverkehr einzudämmen, das Dieselverbot endlich voranzubringen, die Autos aus den Städten zu verbannen und den Autoverkehr insgesamt zugunsten kollektiver Formen der Mobilität zurückzudrängen. Das wären nicht nur Maßnahmen des Klimaschutzes, sie würden auch ansonsten zu einem guten Leben führen. Überhaupt sind Dinge, die zu einem guten, sozial gerechten und demokratischen Leben beitragen, meistens auch diejenigen, die dazu beitragen, die CO2-Emissionen und den Ressourcenverbrauch zu reduzieren.

SB: In der Linken wird die Postwachstumsdebatte bis auf die kleine Community in der Degrowth-Szene kaum geführt, weil man möglicherweise Probleme mit dem Gedanken hat, expansive Formen des Wirtschaftens zurückzudrehen bzw. ganz umzukehren. Welche Position nehmen Sie dazu ein?

MW: Ich halte die Postwachstumsdebatte für sehr wichtig, weil sich in ihr noch einmal ein diffuses Unbehagen an den aktuellen Entwicklungen artikuliert. Ich bin sehr beeindruckt davon, wie viele Menschen an den Postwachstumskongressen teilnehmen. Es geht ja in die Tausende. Das erinnert mich an die Aufbruchsstimmung der globalisierungskritischen Bewegung zu Beginn der 2000er Jahre, als Attac sehr viele Leute mobilisieren konnte. Auch damals konnte man sehen, daß die Menschen durch eine bestimmte Forderung oder die Bereitstellung eines bestimmten Raumes in der Lage sind, sich mit sozialen Verhältnissen zu beschäftigen und sie analytisch zu durchdringen, die ihnen bis dahin eher ein diffuses Unbehagen bereitet haben. Dieses diffuse Unbehagen findet nun plötzlich einen politischen Ausdruck, und das ist ein sehr wichtiges Verdienst der Postwachstumsdebatte und der Aktivitäten, die sich aus dieser Debatte heraus ergeben haben. Es gibt eine ganze Reihe interessanter Bildungsansätze wie das Konzeptwerk Neue Ökonomie in Leipzig, das wunderbare Bildungsmaterialien zum Thema erstellt, mit denen man in allen möglichen Kontexten arbeiten kann. Insofern habe ich schon den Eindruck, daß sich das schrittweise verbreitet.

Ein ganz entscheidender Punkt wird sein, noch andere gesellschaftliche Akteure mit ins Boot zu nehmen, vor allen Dingen die Gewerkschaften, bei denen es bisher einige Querverbindungen gibt. Norbert Reuter als Ökonom bei ver.di ist jemand, der eine starke Brückenfunktion zwischen beiden Seiten ausübt. Ich glaube, die Gewerkschaften müßten alle ins Boot geholt werden. Das ist nicht einfach, weil Wachstum bisher immer die Voraussetzung für Umverteilung und Lohnerhöhung und so weiter war. Ich glaube, von diesem Denken müssen wir uns verabschieden, das wird nicht mehr so funktionieren. Die Postwachstumsdebatte kann für die Gewerkschaften nochmal ein Anreiz sein, darüber nachzudenken, ob wir den historischen Kompromiß zwischen Arbeit und Kapital nicht anders ausrichten müssen. Langfristig geht es darum, das Kapitalverhältnis zu überwinden. Aber daß dies schwerfällt, liegt eben auch an der Spezifik des historischen Kompromisses zwischen Arbeit und Kapital, nämlich daß die Arbeit den Kapitalismus grundsätzlich unter der Voraussetzung akzeptiert, daß sie an der Wohlstandssteigerung, die die kapitalistische Gesellschaft ermöglicht hat, in Gestalt höherer Löhne partizipieren kann.

Wir müssen den Wohlstand anders definieren. Da kann man durchaus auch an gewerkschaftliche Vorstellungen von Arbeitszeitverkürzung und dergleichen andocken. Diese Debatte muß geführt werden. In diesem Sinne sehe ich einen wichtigen Schnittpunkt zwischen Gewerkschaften und der Degrowth-Bewegung. Der Wohlstand muß heute eher in Zeit als in Lohnerhöhung definiert werden - keine Lohnerhöhungen mehr, dafür Verkürzung der Arbeitszeit. Für viele ist das natürlich ein Problem, weil sie ohnehin nicht genug verdienen, als daß sie noch mit einer verkürzten Arbeitszeit über die Runden kämen. Das bedeutet eben auch, daß Arbeitszeitverkürzung einhergeben müßte mit einer gesellschaftlichen Umverteilung. Arbeitszeitverkürzung würde ich bei vollem Lohnausgleich fordern und natürlich verbunden mit einer Aufstockung der Gehälter, die so schon nicht zum Leben reichen. Degrowth und die Debatte um eine Verkürzung der Arbeitszeiten dürfen sich natürlich nicht um die massive soziale Ungleichheit, die es auch im globalen Norden, aber insbesondere im Verhältnis zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden gibt, herumdrücken.

SB: Herr Wissen, vielen Dank für das Gespräch.


Beiträge zur Konferenz "Am Sterbebett des Kapitalismus?" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

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18. April 2017


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