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INTERVIEW/355: Gegenwartskapitalismus - streitbare Avantgarde ...    Dersim Dagdeviren im Gespräch (SB)



In modernen Gesellschaften, die seit sehr, sehr lange Zeit staatliche Strukturen aufweisen und auf einer mit ihnen aufs Engste verzahnten Weise die Anforderungen einer ausschließlich nach Kapitalakkumulationsgesichtspunkten geordneten Produktion realisieren, nimmt auch die Wissenschaft ungeachtet anderslautender Behauptungen stets ihren Platz im Gesamtgefüge herrschaftsfunktionaler Institutionen ein. In einer Gesellschaft wie der kurdischen, die sich niemals in einem eigenen Staat etablieren konnte - wobei die Frage, ob dies tatsächlich als Nachteil zu bewerten ist, noch völlig offen ist -, sieht sich die Wissenschaftsgemeinde auf eine ganz andere Weise gefordert. Welche Ziele und Zweckbestimmungen machen sich ihre Akteure zu eigen?

In Deutschland haben kurdische Hochschulabsolventen 2009 ein "Netzwerk kurdischer AkademikerInnen e.V." (KURD-AKAD) gegründet. [1] Zunächst konzipiert als Forum für den Austausch unter den Akademikerinnen und Akademikern selbst, zielt die Bündelung der verschiedenen Professionen doch auch auf Synergieeffekte ab, die der kurdischen Community insgesamt zugute kommen sollen. Da sich die Forschung zur kurdischen Geschichte und Lebenswirklichkeit in Europa auf einem unzulänglichen Niveau befindet, soll mit der Förderung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung durch das Netzwerk die gesellschaftspolitische Partizipation sowie eine angemessene Repräsentanz der kurdischen Community in Europa realisiert werden.

Angesichts eines solchen Wissenschaftsverständnisses kommt es einer Selbstverständlichkeit gleich, daß sich KURD-AKAD an der Organisation der inzwischen bereits dritten Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern" beteiligte, die vom 14. bis 16. April an der Universität Hamburg stattfand. Das Bündnis "Network for an Alternative Quest", dem neben KURD-AKAD die Internationale Initiative "Freiheit für Abdullah Öcalan - Frieden in Kurdistan", der Verband der Studierenden aus Kurdistan - YXK/JXK, der Kurdistan Report, die Informationsstelle Kurdistan e.V. - ISKU, das Kurdisches Frauenbüro für Frieden - Ceni sowie das Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit - Civaka Azad angehören, hatte die Konferenz diesmal unter das Motto "Demokratische Moderne entfalten - Widerstand, Rebellion, Aufbau des Neuen" gestellt.

Dersim Dagdeviren ist Vorsitzende des Netzwerkes Kurdischer AkademikerInnen. Selbstverständlich war sie an der Universität Hamburg an allen drei Konferenztagen zugegen. Am Abschlußtag, als sich längst abzeichnete, daß die angebotenen Vorträge und Diskussionen von den Teilnehmern mit großem Interesse aufgenommen werden, erklärte sie sich bereit, dem Schattenblick einige Frage zur aktuellen Situation in der Türkei, aber auch in Deutschland sowie der Konferenz selbst zu beantworten.


D. Dagdeviren im Porträt - Foto: © 2017 by Schattenblick

Dersim Dagdeviren
Foto: © 2017 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Auf der zweiten Konferenz 2015 war hier im Audimax eine gewisse Euphorie zu verspüren, seitdem hat es aber auch viele Rückschläge gegeben. Wie würden Sie die Entwicklung in den letzten zwei Jahren bewerten, was waren für Sie die wichtigsten Ereignisse?

Dersim Dagdeviren (DD): Ich stimme nicht ganz damit überein, daß es 2015 eine Euphorie gab, die heute nicht mehr zu spüren ist. Ich glaube, es ist einfach eine andere Art von Euphorie. 2015 ist das Jahr, das wir mit dem Angriff des IS auf Kobanê verbinden. Zum ersten Mal war Rojava, das bis dahin teilweise auch für uns Kurden im Alltag nicht sehr präsent war, in aller Munde und in aller Bilder. Fernsehen und Presse berichteten davon. Wir erfuhren von den jahrelangen Aufbauarbeiten zu dem dritten alternativen Weg, und natürlich brachte das eine andere Art der Euphorie mit sich, als wenn wir jetzt, Jahre später, zurückblicken.

Ich glaube, daß das generell mit der Entwicklung von Emotionen bei uns Menschen zu tun hat. Trotzdem bin ich auch heute euphorisch, weil ich richtig stolz bin auf das, was dort trotz der Blockadepolitik schon erreicht wurde. Gestern hat hier eine der Rednerinnen gesagt, daß vieles in Rojava vielleicht sogar besonders gut und wirklich innovativ entwickelt werden konnte, weil es diese Blockadepolitik gab und man nicht auf Einfuhren zurückreifen konnte, weshalb man zusehen mußte, wie man mit den Mitteln vor Ort das Leben gestaltet.

SB: In der Türkei muß man inzwischen eigentlich schon von offen diktatorischen Verhältnissen reden. Heute findet das Referendum statt, da kann sich das sogar noch weiter verschärfen. Inwieweit ist die kurdische Bewegung von dieser Entwicklung betroffen und wie geht sie damit um?

DD: Dazu muß man sagen, daß in der Wahrnehmung der Medien die Entwicklungen in der Türkei insbesondere im Zusammenhang mit den Geschehnissen nach dem Militärputsch vom 15. Juli 2016 stehen. Für die Kurdinnen und Kurden in der Türkei, aber natürlich auch in den anderen Teilen Kurdistans, denn Innenpolitik hat auch immer einen außenpolitischen Aspekt, sind die Repressionen ja nichts Neues. Damit will ich jetzt nicht zurückgreifen auf den 30 Jahre langen Krieg. Wenn wir uns die Jahre 2013/14 anschauen, gab es da eine Phase des Dialogs zwischen der kurdischen Bewegung, insbesondere ihrem Vorsitzenden Abdullah Öcalan, und der türkischen Regierung. 2015 kamen dann die Parlamentswahlen, bei denen Erdogan und seine AKP zweimalig eine Niederlage erlitten. Sie haben nicht die Mehrheit für die Einführung des Präsidialsystems. Und was passierte? Der "Friedensprozeß" - in Anführungszeichen -, besser gesagt der Dialog mit der kurdischen Seite, wurde ad acta gelegt. Ganze Stadtteile in Kurdistan wurden dem Erdboden gleich gemacht.

Auch wenn heute viele sagen, daß man nicht mehr so stark präsent ist auf den Straßen in Kurdistan wie früher, hat die kurdische Bewegung insbesondere an Newroz dieses Jahres doch gezeigt, daß die Menschen zu ihr und ihren Idealen und Zielen, nämlich Frieden, Freiheit und Demokratie nicht nur in der Türkei, sondern in der gesamten Region des Mittleren Ostens zu etablieren, stehen und weiter für sie kämpfen. Das haben sie nicht nur an Newroz deutlich gemacht, denn auch gestern gab es anläßlich des Referendums eine große Veranstaltung in Diyarbakir, wo hunderttausende Kurdinnen und Kurden noch einmal trotz oder gerade wegen aller Repressionen Nein zur Präsidialdiktatur gesagt haben.

SB: Auf der ersten Konferenz 2012 war die Gülen-Bewegung ein sehr wichtiges Thema. Sie erschien zum damaligen Zeitpunkt fast als der größere Feind als Erdogan. Jetzt ist die Gülen-Bewegung ihrerseits sehr stark von Repressionen betroffen. Hat sich aus Ihrer Sicht irgendetwas in ihrem Verhältnis zur kurdischen Bewegung geändert?

DD: Man muß klar sagen, daß die Gülen-Bewegung ein zentraler Teil der AKP war und sie ausgemacht hat. Bis 2011, als das Korruptionsverfahren gegen einige Minister eingeleitet wurde, war es so, daß Erdogan und die Gülenisten eine sehr enge Kooperation hatten. Sie waren nahezu identisch, muß man sagen, denn es war ja die Gülen-Bewegung, die die AKP in der Gesellschaft dermaßen verankert hat. Jetzt ist es natürlich so, daß Erdogan in der Türkei gegen die Anhänger der Gülen-Bewegung vorgeht. Wenn man sich aber ansieht, daß kein AKP-Abgeordneter von diesen Repressionen betroffen ist, muß man sich doch die Frage stellen, warum das so ist. Dazu muß man klar sagen, daß Erdogan und seine AKP-Gefolgschaft natürlich nicht im Bereich der Abgeordneten intervenieren, weil sie dann weitere Mehrheitsverhältnisse verlieren. Deswegen, glaube ich, ist einfach der Fokus ein anderer geworden. Aber dennoch muß man sagen, daß sich die kurdische Bewegung gegen jegliche Art einer solchen Organisierung wendet. Das betrifft die Gülen-Bewegung genauso wie die AKP in ihrer jetzigen Form.

SB: Hier in Deutschland gibt es seit langem Initiativen, die sich für die Aufhebung des PKK-Verbots einsetzen. Wie ist der aktuelle Stand dieser Bemühungen?

DD: Es gibt erfreulicherweise immer wieder diese Initiativen. Allerdings sind wir in diesem Jahr, insbesondere im Zuge der verbalen Attacken der Türkei gegen Deutschland auch in bezug auf den Fall Deniz Yücel, dem in der Türkei inhaftierten Journalisten, an einen Punkt gekommen, an dem wir mit einer Intensivierung der Verbotspolitik konfrontiert sind. Wie Sie wissen, wurde das Zeigen der Fahnen der YPG und YPJ [1] verboten. Das sind beides Strukturen, die die wichtigsten Partner des Westens im Kampf gegen den terroristischen IS darstellen. Auch das Zeigen der Fahne der PYD [2], die auf internationalem Parkett Politik betreibt, ist verboten worden.

SB: Wie wurde das begründet?

DD: Die Begründung war, daß diese Fahnen und Flaggen auf kurdischen Demonstrationen gezeigt wurden, die inhaltlich zum Beispiel aufgrund der skandierten Parolen eine PKK-Nähe aufweisen würden. Davon ist auch der Verband der Studierenden aus Kurdistan YXK betroffen. Er selbst ist nicht verboten, aber das Zeigen seiner Fahnen auf kurdischen Großveranstaltungen und Demonstrationen wurde verboten, und das ist absolut inakzeptabel. Der Hintergrund dessen ist natürlich klar: Die Türkei hat Deutschland vorgeworfen, den PKK-Terrorismus zu unterstützen. Das kennen wir von der deutschen Politik auch aus der Vergangenheit. Deutschland versucht Signale zu setzen, aber in die falsche Richtung, und wieder sind wir Kurden davon betroffen. Das muß natürlich ein Ende finden, denn es kann nicht sein, daß man die stabilsten Partner, wenn es um den Kampf gegen den IS, aber auch um demokratische Strukturen geht, hier kriminalisiert. Das ist völlig inakzeptabel.

SB: Die aktuelle Situation in der Türkei, aber auch in Syrien und im Irak, mit der sich die kurdische Bewegung befassen muß, steht nicht im Mittelpunkt der Konferenz, sondern der Aufbau neuer demokratischer Strukturen. Steht die kurdische Bewegung da nicht vor einer Doppelaufgabe? Wie wird das bewältigt?

DD: Das ist natürlich schwierig, weil man zum einen tagespolitisch up to date sein muß, um reagieren und agieren zu können. Aber es ist ganz wichtig, dabei immer zukunftsorientiert zu handeln, denn ohne Vorstellungen, wie unsere Zukunft aussehen soll, können wir keine Wege für das Jetzt und Heute entwickeln, die uns ja vorwärts bringen sollen. Von daher ist es natürlich so, daß wir mit einer Doppelbelastung konfrontiert sind, aber die schultern wir gerne, denn das ist ja kein Kampf, den wir Kurden nur für uns kämpfen. Rojava, aber auch die Partei der Demokratie der Völker (HDP) in der Türkei sind beste Beispiele dafür, daß wir für eine globale Demokratie und für Frieden und Freiheit weltweit kämpfen. Deshalb nehmen wir diesen Kampf und die Doppelbelastung gern auf uns.

SB: Wie ich gehört habe, wurde in Syrien bereits ein vierter Kanton ausgerufen, in dem überwiegend arabische Menschen leben?

DD: Das ist richtig. In der syrischen Stadt Manbidsch haben vor allem die demokratischen Kräfte Syriens gegen den IS gekämpft. Die Türkei hat versucht, in dem Gebiet zu intervenieren, doch nachdem der IS aus der Region vertrieben wurde, hat sich auch dort neben dem vorher bereits existierenden Militärrat, der von den demokratischen Kräften Syriens gegründet worden war, ein Volksrat etabliert, der zum größten Teil aus den dort lebenden Arabern besteht. In Manbidsch leben aber auch Kurden, die den dortigen Mehrheitsverhältnissen entsprechend repräsentiert sind. Die Ausrufung dieses Kantons bedeutet nicht, daß es ein kurdischer Kanton wäre. Das ist ein Kanton der Demokratischen Föderation Nordsyriens. Es geht also nicht darum, daß die kurdische Bewegung in Syrien dieses Gebiet für sich beansprucht, sondern für die Völker, die in dieser Region leben.

SB: Könnte man Ihrer Einschätzung nach sagen, daß es gerade mit diesem Kanton eine besondere Bewandtnis hätte, weil er faktisch unter Beweis stellt, daß der Nationalismusvorwurf gegen die kurdische Bevölkerung vollkommen fehlangewandt ist, denn es wird ja gerade mit anderen Kulturen und Volksgruppen zusammenarbeitet?

DD: Genau so ist es. Zum einen wird dieser Vorwurf damit ad acta gelegt, zum anderen muß man natürlich auch sagen, daß dieses Beispiel zeigt, daß das Projekt des demokratischen Konföderalismus, also der basisdemokratischen Organisierung, nicht nur ein Projekt für Kurden und Kurdengebiete ist, sondern für alle Völker in der Region und sogar auch Perspektiven bietet für alle Völker dieser Welt.

SB: Ein Schlußwort vielleicht noch zur Konferenz. Heute ist der letzte Tag, können Sie schon ein erstes Fazit ziehen?

DD: Wir freuen uns sehr über die zahlreichen Teilnehmer. Es waren am Freitag allein 1200, die sich hier registriert haben. Wenn wir bedenken, daß wir auf der ersten Konferenz mit etwa 400 Teilnehmern angefangen haben, 2015 dann bei etwa 800 waren und die Zahl jetzt noch einmal steigern konnten, dann sehen wir, daß viele Menschen auf der Suche nach Alternativen sind. Wir freuen uns, daß die kurdische Bewegung einen Anlaß bietet, diese Alternativen zu diskutieren, und es ist natürlich auch sehr positiv zu sehen, daß wir praktische und gelebte Beispiele präsentieren können. Es ist nicht nur eine theoretische Diskussion, die wir führen, sondern wir zeigen, daß diese Theorien umsetzbar sind und schon umgesetzt werden. Ich kann durchaus ein sehr positives Fazit von der Konferenz ziehen.

SB: Ich bedanke mich, Frau Dagdeviren, für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] www.kurd-akad.com

[2] YPG und YPJ sind die Volks- bzw. Frauenverteidigungseinheiten in Rojava, den kurdischen Kantonen im Norden Syriens.

[3] PYD ist die Partei der Demokratischen Einheit in Rojava/Syrien.


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUERGER → REPORT:

BERICHT/262: Gegenwartskapitalismus - den Droh- und Vernichtungswuchten revolutionär entgegen ... (SB)
BERICHT/264: Gegenwartskapitalismus - für Kurden und für alle Menschen ... (SB)
INTERVIEW/351: Gegenwartskapitalismus - fundamentale Gegenentwürfe ...    Yavuz Fersoglu im Gespräch (SB)
INTERVIEW/352: Gegenwartskapitalismus - unterdrückt und totgeschwiegen ...    Mako Qocgiri im Gespräch (SB)
INTERVIEW/353: Gegenwartskapitalismus - im Namen der Revolution ...    Zilan Yagmur im Gespräch (SB)

5. Mai 2017


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