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INTERVIEW/366: Gegenwartskapitalismus - aufgetrennt und fortgeherrscht ...    Les Levidow im Gespräch (SB)




Auf dem Campus vor dem Audimax - Foto: © 2017 by Schattenblick

Les Levidow
Foto: © 2017 by Schattenblick


Les Levidow ist seit Jahrzehnten auf verschiedenen Feldern politisch aktiv wie insbesondere bei Kampagnen gegen die Kriminalisierung von Einzelpersonen, Gruppen und Communities wie auch gegen die Privatisierung von Gemeingütern. In Reaktion auf die Antiterrorgesetze in Großbritannien im Jahr 2000 gehörte er gemeinsam mit Aktivistinnen der kurdischen Freiheitsbewegung zu den Gründern der Campaign Against Criminalising Communities. Diese Kampagne arbeitete mit zahlreichen Communities zusammen, die kriminalisiert und der Strafverfolgung unterworfen wurden. Parallel dazu kann Les Levidow auf eine lange Geschichte der Unterstützung von Freiheitskämpfen in aller Welt wie insbesondere die der Palästinenser und der Zapatistas zurückblicken.

Auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III", die vom 14. bis 16. April an der Universität Hamburg stattfand, leitete er den Workshop X zum Thema "Securitisation versus commoning". Wie er dabei einleitend ausführte, sei Kriminalisierung ein staatlicherseits bevorzugtes Mittel, um kritische Positionen zu sanktionieren. Dabei komme neben dem normalen Strafrecht ein Arsenal von Sondergesetzen zur Anwendung, wie das alte Gesetz gegen Aufruhr aus dem 19. Jahrhundert oder das relativ neue gegen Terrorismus - ein Begriff, den das Gesetz nur sehr vage definiert, so daß es weitreichend angewendet werden kann. Antikapitalistische Bewegungen würden seit langem kriminalisiert, wobei sich der Staat Legalität verschaffe, um ein ideologisches und reales Kontrollmonopol zu etablieren. Per Definitionsmacht werde verfügt, wer kriminell oder ein Terrorist sei und wer die Bevölkerung gegen diese Bedrohungen verteidige.

Diese Sicherheitspolitik bezichtige bestimmte Kategorien von Menschen oder Verhaltensweisen als extremistisch, sozialfeindlich, verdächtig oder nationale Werte beleidigend. Die so definierte Gefahrenlage gestatte es, juristische und administrative Techniken wie beispielsweise massenhafte elektronische Überwachung anzuwenden. Hinzu kämen Methoden der Oberservierung, Erpressung und Infiltrierung mit Spitzeln, die Mißtrauen schüren. Neben Strafverfahren würden außergerichtliche Formen der Bestrafung wie Präventivhaft, Geldstrafen oder Einschränkung der Bewegungsfreiheit angewendet. Die Bestrafung einzelner Personen oder kleiner Gruppen diene zugleich der Abschreckung vieler anderer Menschen und dämme somit unerwünschte politische Aktivitäten ein.

Levidow stellte diese sicherheitsstaatlichen Strategien in einen größeren historischen und ökonomischen Zusammenhang. Die neoliberale Globalisierung diene dem Zweck, jegliche menschlichen und natürlichen Ressourcen in Waren zu verwandeln, indem Gemeingüter abgeschafft und Gemeinschaften zerstört werden. Der Begriff "Commons" bezeichne ursprünglich Land, das in Besitz des Staates war und deswegen von allen genutzt werden konnte. In Schottland und dann auch in England seien diese Commons abgeschafft worden, um die Ländereien kommerziellen Zwecken zuzuführen und ein Proletariat zu schaffen, das seinen Lebensunterhalt mangels anderer Mittel durch den Verkauf der Arbeitskraft bestreiten mußte. Moderne Formen von Commons seien beispielsweise öffentliche Dienstleistungen, die kollektive Fertigkeiten und kooperative Organisationsformen beinhalten. Die neoliberale Globalisierung kommodifiziere die natürlichen und menschlichen Ressourcen wie Land, Bodenschätze und Biodiversität und diszipliniere die Lohnarbeit durch Isolierung der Menschen, Eliminierung ihrer Qualifikation und Erhöhung der Ausbeutung.

Menschen leisteten diesem Prozeß auf verschiedene Weise Widerstand, weshalb das neoliberale Projekt neuer Waffen wie der Sicherheitsmaßnahmen bedürfe, um dem entgegenzuwirken. Diese Maßnahmen verschleierten den Unterschied zwischen der Sicherheit der Menschen und der staatlichen Kontrolle, kritischem Protest und tödlicher Bedrohung, Polizei und Militär. Einige dieser Methoden seien der Aufstandsbekämpfung in den ehemaligen Kolonien entlehnt, Nordirland sei ein Paradigma für Formen der Repression, die später in ganz Großbritannien zur Anwendung kamen. Aus dem Labor Palästina würden neokoloniale Methoden gewonnen, die Bewegungen und selbst die Identität der Menschen zu kontrollieren.

Was könne man dieser Sicherheitsagenda entgegensetzen? Eine Kombination von Widerstand und Kreativität könnte geeignet sein, Furcht und Mißtrauen zu überwinden. Gemeinschaft sei das Angriffsziel der Sicherheitspolitik und zugleich die Antwort darauf. Commons beruhten stets auf Gemeinschaften, die sie pflegen und schützen. Man könne sie als Alternative zur kapitalistischen Akkumulation und zum Staat auffassen. Nicht nur Gemeingüter, sondern auch Kooperation und gegenseitiges Vertrauen seien Ressourcen beim Aufbau einer anderen Gesellschaft. In Rojava seien die Kurdinnen bestrebt, in einer solidarischen Ökonomie alle wirtschaftlichen Aktivitäten mit einem politischen Ziel zu versehen, nämlich Solidarität zu schaffen und die Marktkonkurrenz durch Kooperation zu ersetzen. Das Embargo bereite ihnen große Probleme, biete aber zugleich die Möglichkeit, eine vom Weltmarkt unabhängige Ökonomie aufzubauen.

Am Rande der Konferenz beantwortete Les Levidow dem Schattenblick einige Fragen zum Stand staatlicher Sicherheitspolitik in Großbritannien, zur Repression gegen migrantische Communities, zur Palästinasolidarität und zur Unterstützung der kurdischen Freiheitsbewegung.


Les Levidow beim Vortrag im Workshop - Foto: © 2017 by Schattenblick

Widerstand gegen den Sicherheitsstaat
Foto: © 2017 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Herr Levidow, Sie bringen die staatliche Sicherheitspolitik in Großbritannien auf den Begriff "Securitisation". Was genau fassen Sie darunter, welche Strategie repressiver Durchdringung der Gesellschaft wird damit charakterisiert?

Les Levidow (LL): Wir verwenden den Begriff "Securitisation", um eine staatliche Strategie zu beschreiben, jegliche gesellschaftlichen Konflikte in sogenannte Bedrohungen der allgemeinen Sicherheit zu verwandeln. Diese postulierte Unsicherheit rechtfertigt ein Arsenal administrativer Maßnahmen, das die Konflikte mit dem maßgeblichen Ziel depolitisiert, alle Formen der Solidarität unter den Menschen zu zerstören, sie in Furcht vor den unterstellten Bedrohungen zu versetzen und Mißtrauen zu schüren, so daß sie glauben, staatlichen Schutzes voreinander zu bedürfen. Unsere Antwort darauf besteht darin, diese Strategie als das Bestreben offenzulegen, Macht und Kontrolle seitens des Staates auszubauen. Zugleich geht es uns darum, die Solidarität und das gegenseitige Vertrauen zu stärken und die gemeinsamen Bedürfnisse erkenntlich zu machen. So läßt sich unser Konzept in kurzen Worten beschreiben.

Die implementierten Maßnahmen umfassen zum einen verschärfte Strafverfolgung als eine Option, doch gehen sie weit darüber hinaus. Hinzu kommen diverse Erweiterungen exekutiver Macht wie Strafen ohne Gerichtsverfahren, stets von Bedrohungsszenarien flankiert, die über die Massenmedien transportiert werden, um bestimmte Teile der Bevölkerung oder bestimmte Verhaltensweisen zu dämonisieren und stigmatisieren. Unsere Kampagne begann im Jahr 2000 in Reaktion auf das neue Antiterrorgesetz, das uns insofern überraschte, als viele von uns von den Erfahrungen aus dem Kampf gegen das Terrorgesetz von 1974 ausgingen, das sich gegen die irische Bevölkerung gerichtet hatte. Es säte Furcht in ihr und gegen sie, niemand war sich mehr sicher, wer als Informant für den Staat arbeitete, der Krieg gegen die Nationalisten in Nordirland führte. Wir waren davon ausgegangen, daß sich dieses Antiterrorgesetz ausschließlich gegen Nordirland richtete, und mußten 2000 erfahren, daß es auf die gesamte britische Gesellschaft ausgeweitet wurde.

SB: Auf welches Feindbild war dieses neue Antiterrorgesetz zugeschnitten?

LL: Wir prüften akribisch die Begründung dieses neuen Gesetzes einschließlich der des namhaften Politikwissenschaftlers und "Terrorexperten" Paul Wilkinson, der eine sehr entlarvende Erklärung beisteuerte. Wie er ausführte, richte sich die Gesetzgebung gegen substaatliche Akteure, die sich öffentlicher Unterstützung erfreuten. Genannt wurden insbesondere Organisationen in den Communities von Migranten aus Konfliktgebieten wie Kurdistan oder den Tamilengebieten Sri Lankas, um nur einige zu nennen, also Communities, die Befreiungsbewegungen gegen staatliche Repression in Ländern unterstützten, die Allianzen mit dem britischen Staat bildeten. Wilkinson sah den Zweck dieses Gesetzes vor allem darin, diese Befreiungsbewegungen zu delegitimieren und die Communities in Großbritannien potentiell zu kriminalisieren. Ein ausgewiesenes Ziel war offensichtlich die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), was die kurdischen Aktivistinnen realisierten und sich mit zahlreichen Aktivisten aus anderen politischen Bewegungen wie uns zusammenschlossen, um eine Kampagne gegen die Kriminalisierung der Communities ins Leben zu rufen und das Terrorgesetz von 2000 als politische Operation auszuweisen, staatlichen Terror in jenen Ländern zu legitimieren, aus denen diese Menschen geflüchtet waren.

Wir forderten die Abschaffung dieses Gesetzes und wendeten uns gegen das Verbot dieser Organisationen. Gemeinsam mit den Kurdinnen und Kurden organisierten wir Protestaktionen und als diese Menschen dann mit Strafverfolgung überzogen wurden ihre Verteidigung und eine Öffentlichkeitsarbeit. Aufgrund dieses Widerstand zögerten diverse Jurys, die Angeklagten zu verurteilen, weil sie die Anklage, es handle sich um Terroristen, in Zweifel zogen. In der Folge ging der Staat zunehmend zu außergerichtlichen Strafmaßnahmen auf Grundlage des Antiterrorgesetzes über und brachte eine breite Palette von Sanktionen jenseits der herkömmlichen Verfahren und ohne Einspruchsmöglichkeiten zur Anwendung. Beispielsweise konnten Menschen bis zu neun Stunden lang am Betreten oder Verlassen des Landes gehindert werden, so daß man sie intensiv zu allen erdenklichen Aspekten befragen konnte, wobei jede verweigerte oder für unzulänglich erachtete Antwort unter dem Antiterrorgesetz als schwere Straftat ausgelegt werden kann. Weitere Maßnahmen umfaßten den Entzug des Passes und sogar der Staatsbürgerschaft, was insbesondere gegen muslimische Menschen aus Syrien und Somalia angewendet wurde, von denen einige später Drohnenangriffen zum Opfer fielen. So konnte die britische Regierung erklären, man habe einen Terroristen getötet, der kein britischer Staatsbürger mehr gewesen sei. Solche Morde stellen eine extreme Form der extralegalen Strafmaßnahmen dar.

Zudem wurden sämtliche Hilfsorganisationen überwacht, die Spenden für solche Regionen sammelten, und Bankkonten eingefroren wie auch Unterstützer dieser Organisationen ins Visier genommen. Der bloße Widerstand gegen repressive Regime in gewissen Ländern konnte mit dem Terrorverdikt belegt werden. Solche Maßnahmen wurden des öfteren angewendet, und man kann sich vorstellen, daß eine Kontensperre für ein oder zwei Jahre nicht nur die Arbeit lahmlegt, sondern auch Furcht und Mißtrauen selbst unter Menschen sät, die den erhobenen Vorwürfen zunächst keinen Glauben geschenkt haben. So wurde es immer schwieriger, eine organisierte Arbeit in den betroffenen Communities fortzusetzen. Dennoch führten diese Organisationen ihre Tätigkeit unter dem Slogan "Persistence is Resistance" (Weitermachen ist Widerstand) fort. Auch wenn das nach außen hin nicht wie ein spektakulärer Protest aussehen mochte, war die bloße Weiterarbeit trotz massiver staatlicher Repression doch für sich genommen ein Akt des Widerstands.

SB: In welchem Maße ist es gelungen, verschiedene migrantische Gruppen zu einem gemeinsam organisierten Widerstand zusammenzuführen?

LL: Wir versuchten mit unserer Kampagne, die verschiedenen migrantischen Gruppen zusammenzubringen, damit sie diese Verfolgung, die allen drohte, erkannten und gemeinsame Aktionen diskutierten, um den Angriffen etwas entgegenzusetzen. Dieser Zusammenschluß gelang in gewissem Ausmaß zwischen den Tamilen und Kurden, als die Streitkräfte Sri Lankas die Reste der Tamil Tigers eingekesselt hatten. Dies löste eine Massendemonstration der Tamilen mit über 100.000 Menschen aus, die durch die Londoner Innenstadt und vor das Parlament zogen, wo damals ein absolutes Demonstrationsverbot verhängt worden war. Auch die Flagge und die Symbole der Tamil Tigers waren verboten, doch hatte die Polizei angesichts der riesigen Menschenmenge wenig Handhabe, einzugreifen und das Verbot durchzusetzen. Die kurdischen Aktivisten schlossen sich diesem Protest an und diskutierten ausgiebig mit den Tamilen über eine weitere Zusammenarbeit.

Bekannte Aktivisten unter den Migranten wurden immer wieder vorübergehend festgehalten und stets auf dieselbe Weise befragt, um sie einzuschüchtern. Zugleich waren aber Jahr für Jahr auch Tausende weitere Menschen aus diesen Communities von solchen Kontrollen betroffen, so daß man eindeutig von Social profiling sprechen konnte. Wir organisierten zu dieser Problematik eine Reihe von Workshops mit Anwälten, die über Erfahrungen in derartigen Fällen verfügten, und bezogen dabei vor allem die Tamilen, Kurden und Somalis ein. Auf diese Weise war es möglich, die alle betreffende Drangsalierung wie auch die Zusammenarbeit des britischen Staates mit den Regimen in ihren Herkunftsländern vor Augen zu führen.

SB: Inwieweit richtet sich diese Sicherheitspolitik auch gegen andere gesellschaftlichen Gruppen?

LL: Securitisation reicht weit über die konkrete Anwendung des Terrorverdikts auf einzelne Personen oder Gruppen hinaus. Sie verfolgt auch sogenanntes antisoziales Verhalten als ein zentrales Repressionsinstrument des britischen Staates beginnend mit der New-Labour-Regierung, welche die diesbezüglichen Machtbefugnisse und Strafen erheblich ausgeweitet hat. Jede lokale Behörde konnte willkürlich einen entsprechenden Erlaß gegen wen auch immer verfügen, um welche konkrete oder potentielle Aktivität es sich auch handeln mochte. Das betraf insbesondere Zusammenkünfte junger Leute, sobald mehr als drei oder vier irgendwo versammelt waren. Das ging mit Schauergeschichten der Massenmedien Hand in Hand, die alle erdenklichen Übergriffe auf ältere Leute erfanden oder aufbauschten, da die Legitimierung repressiver Maßnahmen einer Akzeptanz in der Öffentlichkeit bedarf.

Aktivisten aus den Reihen der Green Party organisierten ein Festival von Jugendlichen, die auf diese Weise drangsaliert wurden, und luden dazu Menschen jeden Alters aus der Nachbarschaft ein. Solche Aktionen trugen dazu bei, einander zu begegnen, um dem Klima der Bezichtigung und dem Ruf nach dem starken Staat etwas entgegenzusetzen. Dieses Beispiel mag veranschaulichen, wie wir unsere Reichweite im Kampf gegen diese Gesetzgebung ausbauten.

SB: Sie haben sich auch seit langem in der Palästinasolidarität engagiert. Gibt es Verbindungen zwischen dieser Konfliktlage und der Sicherheitspolitik in Westeuropa?

LL: Ich befasse mich schon seit Jahrzehnten kritisch mit dem zionistischen Projekt, wobei die Opposition dagegen eine ganze Reihe von Formen und Veränderungen hinsichtlich der Solidarität mit der palästinensischen Bewegung in Großbritannien durchlaufen hat. Ein Aspekt, der eng mit dem Thema "Securitisation" zusammenhängt, betrifft den Umstand, daß Palästina in zunehmendem Maße ein Labor für Techniken der Aufstandsbekämpfung geworden ist. Das umfaßt elektronische und andere Methoden der Überwachung, mit deren Hilfe umfassende Datenbestände über die Bevölkerung gesammelt werden, die wiederum zur allgemeinen Einschüchterung eingesetzt werden können. Die Furcht, wofür auch immer bestraft zu werden, sät Mißtrauen und schränkt verbale oder schriftliche Äußerungen des Protests erheblich ein, da man nie sicher sein kann, wem man gerade solche Informationen preisgibt.

Palästina ist zugleich ein Labor für den Export solcher Sicherheitstechnologien aller Art, wie beispielsweise der Identifizierung verdächtigen Verhaltens, für die an Flughäfen oder bei großen Sportereignissen und anderen Events enormer Bedarf besteht. Die Technologie, Furcht hervorzurufen, die Sicherheitsmaßnahmen einfordert, die wiederum ein Szenario wachsender Bedrohung befördern, findet man als Extrembeispiel bei der Militarisierung der Polizei in den USA, die sich explizit an einem in Palästina entwickelten Modell der Aufstandsbekämpfung orientiert, ergänzt um Ausrüstung, die vom ersten Irakkrieg übriggeblieben war. Dies sind globale Zusammenhänge im Kontext der Palästinasolidarität, die nahelegen, vom palästinensischen Widerstand gegen diese Technologien zu lernen, die gegen ihn in erheblich schärferer Form zur Anwendung gebracht werden, als wir das in Westeuropa erleben.

In Großbritannien bildete sich unter kritischen Organisationen, aber auch der Bevölkerung im allgemeinen ein wachsendes Interesse am palästinensischen Widerstand heraus, in dessen Fokus die BDS-Kampagne steht - Boykott, Desinvestment, Sanktionen - seit die Palästinenser 2005 dazu aufgerufen haben. Diese zunehmende Solidarität hat das britische Establishment und natürlich auch die israelische Regierung irritiert, die Großbritannien wegen des dortigen Erfolgs der BDS-Kampagne mit harscher Kritik überzogen hatte. Zunächst schien es so, als wisse die Regierung in Jerusalem nicht so recht, wie sie dagegen vorgehen sollte. Doch vor etwas über einem Jahr trat ihre neue Strategie auf den Plan, deren Form ein Schock für uns war, wie ich einräumen muß. Uns war der Antisemitismusvorwurf vertraut, der seit Jahrzehnten erhoben wird und dem wir auf verschiedene Weise begegnen, indem wir beispielsweise den rassistischen Charakter des zionistischen Projekts bis zurück zu seinen Anfängen im 19. Jahrhundert darlegen. Es war rassistisch gegen die Juden selbst, da die Idee ursprünglich aus Kreisen der Christian Science stammte und dann von säkularen Juden im Namen des Schutzes vor Antisemitismus aufgegriffen wurde. Es wurden jedoch rassistische Stereotype gegenüber Juden übernommen, und man verwandelte deren Identität in die kolonialistischer Siedler. Dieser inhärente Rassismus setzte sich später im Umgang mit den Palästinensern fort.

SB: Welchen Verlauf nimmt die Solidarität mit Palästina in jüngerer Zeit? Mit welchen Hindernissen sieht sie sich in der britischen Gesellschaft konfrontiert?

LL: Jüdische Gruppen der Palästinasolidarität spielten in Großbritannien geraume Zeit eine bedeutende Rolle und trugen zur Glaubwürdigkeit und Klärung unserer Argumente bei. Nun traten jedoch plötzlich Akteure auf den Plan, die neu in der Arena dieser Auseinandersetzung waren. Das galt insbesondere für das Establishment der Labour Party, das bis heute die Führerschaft Jeremy Corbyns untergräbt. Die Partei schloß zahlreiche Mitglieder aus, denen man Antisemitismus vorgeworfen hatte. Diese Vorwürfe wurden von einer Organisation namens Jewish Labour Movement erhoben, von der wir nie zuvor etwas gehört hatten. Wir fanden jedoch heraus, daß es sich um die Wiederbelebung einer früheren Gruppierung handelte, die in der Labour Party aktiv gewesen war und mit der israelischen Arbeitspartei fraternisiert hatte. Die neu in Erscheinung getretene Gruppe warb für die sogenannte Zweistaatenlösung, obgleich diese als glaubwürdiges Projekt längst nicht mehr existiert. Gegenüber den früheren Vorwürfen seitens Zionisten, die von Judäa und Samaria sprachen, das ihnen von Gott gegeben sei, klangen die Angriffe dieser Gruppierung etwas substantieller, da sie immerhin von einem eigenen Staat der Palästinenser sprachen. Offensichtlich ging es bei dieser Initiative darum, den Vorwurf auszuhebeln, Israel sei ein Apartheidstaat, wie er von der BDS-Kampagne erhoben wird.

Durch diese Verbindung zur Labour Party waren die neuerlichen Angriffe auf die Palästinasolidarität erheblich wirksamer als alles, was wir seit langem erlebt hatten. Parteimitglieder wurden aufgrund bloßer Vorwürfe auf unbestimmte Zeit suspendiert und mußten selbst sehen, wie sie ihre Anhörung und Verteidigung durchsetzen könnten. Die Massenmedien bis hin zu liberalen Zeitungen wie dem Guardian schossen sich auf die Labour Party und deren angebliches Problem mit dem Antisemitismus in den eigenen Reihen ein. Die Fraktion der Labour Party im Parlament schloß sich dieser Hexenjagd an, die sich auf eine Definition von Antisemitismus stützte, die wir bereits kritisiert hatten, als sie 2005 erstmals auf einer Website aufgetaucht war: Die Definition der IHRA (International Holocaust Rememberence Alliance), die 2016 wieder aufgegriffen und im Dezember letzten Jahres von der britischen Regierung übernommen wurde. Mitglieder aller Parteien unterstützten diese Initiative, die dann auch auf lokaler Ebene Wirkung zeitigte. Wir richteten in Reaktion auf diese Entwicklung die Website "Free Speech on Israel" ein, auf der wir unsere Gegenargumente vortragen.

Diese Definition fängt mit der Feststellung an, daß Antisemitismus Haß auf Juden sei, was auch wir von jeher gesagt haben. Dann werden jedoch elf Beispiele für Antisemitismus angeführt, von denen sich sieben auf Kritik an Israel beziehen. Beispielsweise wird der Vorwurf, der israelische Staat sei rassistisch, als antisemitisch bezeichnet. Auf diese Weise werden die zentralen Argumente der Palästinasolidarität angegriffen und diskreditiert. Mitte Februar verschickte das Bildungsministerium ein Schreiben an alle Universitäten, in dem die Aufforderung stand, diese Definition von Antisemitismus anzuerkennen und insbesondere Veranstaltungen während der "Israel Apartheid Week" Ende Februar zu verbieten, bei denen sich antisemitische Vorfälle ereignen könnten. Mehrere Universitäten sprachen daraufhin eine Verbot solcher Veranstaltungen aus. Andere Hochschulen untersagten sie zwar nicht, errichteten aber höhere Hürden für ihre Zulassung. Unsere Kritik an dieser Definition hat sich also in der Praxis bestätigt.

SB: Wie hat sich die Unterstützung der kurdischen Freiheitsbewegung in Großbritannien im Laufe der Jahre entwickelt, wie ist es heute um sie bestellt?

LL: Die Organisation "Peace in Kurdistan", die von der kurdischen Freiheitsbewegung vor langer Zeit gegründet wurde, hat seit vielen Jahren eine Kampagne gegen die Repression seitens der türkischen Regierung etabliert. Dabei wurde unter anderem das Staudammprojekt Ilisu kritisiert, an dem britische Banken beteiligt waren. In diesem Fall gab es ein klares Ziel und ein breites Spektrum an Aktivisten, die über Erfahrungen im Kampf gegen solche Großprojekte verfügten und die Kampagne unterstützten. Diese Initiative fand große Beachtung in der Öffentlichkeit, worauf sich die Geldgeber zurückzogen. Im Kontext politischer Prozesse gegen kurdische Aktivistinnen in der Türkei engagierten sich zahlreiche Anwälte, Journalisten und Gewerkschafter, die Beobachter entsandten. Es handelte sich nicht nur um persönliche Entscheidungen der jeweiligen Unterstützer, da sie Positionen repräsentierten, die in ihren Organisationen vertreten waren, denen sie wiederum Berichte über die Schauprozesse mitbrachten. In einem Fall gehörte Jeremy Corbyn zu den Beobachtern, der nach seiner Rückkehr von einer regelrechten Militärparade sprach, wie er sie nie zuvor in einem Gerichtssaal erlebt habe. Diese Kampagne schuf Aufmerksamkeit und Unterstützung, zumal die Delegationen öffentliche Veranstaltungen organisierten, auf denen sie von ihren Eindrücken berichteten. Diverse Journalisten gaben Berichte und Bulletins heraus, die in den verschiedenen Organisationen zirkulierten.

In Großbritannien hat es über die Jahre so viele Solidaritätskampagnen gegeben, daß sie regelrecht miteinander um die Zeit engagierter Leute konkurrierten, die sich fragten, wo sie ihre Kräfte einsetzen könnten. Im Zuge des Rojava-Experiments wuchs die Unterstützung für die kurdische Kampagne, da sich immer mehr Menschen für diesen Gesellschaftsentwurf interessierten. Rojava rief großes Interesse unter den libertären Bewegungen wach, denen viele ältere Menschen angehören, die wie ich seit Jahren in der Solidarität mit den Zapatistas aktiv waren. Auch Frauengruppen zeigten sich sehr interessiert und riefen gemeinsam mit zahlreichen anderen Gruppierungen die Rojava-Solidarität ins Leben, die vielerorts aktiv ist. In London bot sich die Möglichkeit, Aktionen gegen den türkischen Staat durchzuführen, als beispielsweise die türkische Handelskammer ein Dinner abhielt, bei dem dann Aktivistinnen ein Banner mit der Aufschrift "Turkey stop funding ISIS" enthüllten, worüber in den Medien berichtet wurde. Wann immer ein Buch oder eine Schrift Öcalans herausgeben wurde, gab das Gelegenheit, diese mit Lesungen an verschieden Orten vorzustellen. Havin Guneser war mehrere Male zu Gast, und an der Sussex University wurde sogar eine zweitägige Konferenz mit Referentinnen abgehalten, die in Rojava gewesen waren oder noch immer dort leben. In jüngerer Zeit nehmen jedoch staatliche Restriktionen zu: So durfte Havin zuletzt nicht mehr nach England fliegen, da ihr das Home Office die Einreise untersagt hatte. Wir müssen uns also überlegen, wie wir künftig gegen solche Maßnahmen vorgehen, um sicherzustellen, daß die Menschen, die wir eingeladen haben, auch tatsächlich zu uns kommen können.

SB: Herr Levidow, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

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22. Mai 2017


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