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INTERVIEW/450: Medien in Haft - dem Widerspruch verpflichtet ...    Volker Bräutigam im Gespräch (SB)


Gespräch am 4. September 2019 in Hamburg


Volker Bräutigam war von 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, davon zehn Jahre in der ARD-Tagesschau. Ab 1985 war er sechs Jahre freigestellter Personalrat und danach in der Redaktion von N3 tätig, wo er vor allem am Bildungsprogramm mitwirkte. Er war bereits seit 1960 Mitglied der Gewerkschaft ÖTV und wechselte später zur IG Druck und Papier. 1975 trat er während seiner Tätigkeit beim NDR der RFFU bei, die mit der IG Medien verschmolz und aus der die Gewerkschaft ver.di hervorging. Im Laufe seiner Gewerkschaftszugehörigkeit war Bräutigam Vorsitzender des Verbandes Nord der RFFU/IG Medien sowie Vorstandsmitglied der IG Medien und hatte weitere ehrenamtliche Funktionen im DGB inne. Im Juli 1988 organisierte er für die IG Medien/RFFU im NDR die erste mit Programmausfall verbundene Arbeitsniederlegung in der deutschen Fernsehgeschichte.

In den 1990er Jahren verlegte Bräutigam seinen Berufs- und Lebensmittelpunkt nach Taiwan. In Taipeh arbeitete er für ein Forschungsprojekt des National Science Council und als Lehrbeauftragter am Übersetzungswissenschaftlichen Institut der Fu-Jen-Universität. In den letzten Jahren bis zu seiner Pensionierung war er als Berater für Umweltschutztechnologie der Environmental Protection Foundation (EPF) an der Taiwan National University in Taipeh tätig. Nach seiner Pensionierung 2002 kehrte Bräutigam nach Deutschland zurück, wo er weiterhin publizistisch aktiv war. Er setzt sich seit langem kritisch mit Strukturen und Arbeitsweisen der Medien auseinander und hat dazu mehrere Bücher geschrieben, zuletzt zusammen mit Uli Gellermann und Friedhelm Klinkhammer "Die Macht um acht. Der Faktor Tagesschau" (2017) [1].

Volker Bräutigam war beim Jour Fixe 178 der Gewerkschaftslinken Hamburg [2] zu Gast, der zum Thema "Systematische Meinungsmache und medialer Herrschaftsmißbrauch" am 4. September im Curio-Haus stattfand [3]. Im Anschluß an die Veranstaltung beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.


Beim Vortrag am Tisch sitzend - Foto: © 2019 by Schattenblick

Volker Bräutigam
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Wenn in einer Auseinandersetzung verschiedene Positionen aufeinandertreffen, neigen zumeist beide dazu, Wahrheit für ihre Auffassung geltend zu machen. Wenn aber beide Seiten den Wahrheitsbegriff für sich in Anspruch nehmen, stellt sich die Frage, welche Bedeutung ihm dann überhaupt noch zukommt.

Volker Bräutigam (VB): Ich glaube, den Wahrheitsbegriff darf man in dieser Auseinandersetzung überhaupt nicht gebrauchen. Es geht um Annäherungswerte an objektive Vorgänge in dem Versuch, sie einigermaßen objektiv darzustellen und zu referieren.

SB: Wir haben heute abend über kontrovers eingeschätzte Fakten gesprochen, was zum Streit darüber führt, ob es sich um bloße Behauptungen oder um belegbare Tatsachen handelt. Wie sollte deines Erachtens seriöser Journalismus vorgehen, um überprüfbar und belegbar zu arbeiten?

VB: Indem er versucht, zu dem, was an angeblichen Fakten vorgetragen wird, andere Quellen zu befragen. Das ist über das Internet jederzeit möglich, indem man prüft, ob die Aussage einer Quelle auch von anderen Quellen gestützt wird, die den gleichen Inhalt oder zumindest einen verwandten oder sehr ähnlichen haben. Wenn man in dieser Form gegengecheckt hat, kann man von einem Bemühen um Objektivität sprechen. Ich habe heute natürlich sehr provokativ vorgetragen, was dem Zweck geschuldet war, Menschen unmittelbar zu erreichen, unter Umständen auch über ihren Widerspruch darauf aufmerksam zu machen, daß es informatorische Defizite gibt, die sie selber aufarbeiten müssen.

SB: Du hast in deinem Vortrag als ein Beispiel Günter Gaus angeführt, der seinerzeit einen anspruchsvollen Streit der Argumente geführt hat, der im Fernsehen übertragen wurde. Dies förderte die Bereitschaft der Zuschauerschaft, die Diskussion mitzuverfolgen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Dieses Niveau scheint in den Sendern gleich welcher Couleur weitgehend verlorengegangen zu sein.

VB: Na ja, es gibt immerhin noch Restbestände wie beispielsweise die Sendung scobel, bei der es sich weniger um eine Art Talkshow als vielmehr um ein Gespräch handelt, in dem es wirklich ernsthaft um den Austausch von Argument und Gegenargument geht, meistens in Fragen von akademischem Interesse und seltener von politischem oder sozialem Interesse. Aber es ist immerhin eine Form, die noch eine gewisse Würde wahrt und vor allen Dingen auch informatorischen Charakter hat. Das fehlt in vielen Talkrunden der üblichen Art am Sonntagabend in der Tat. Da gibt es Highlights von einigen pointierten Äußerungen, über die dann hergezogen wird. Das artet in ein Hickhack aus, und keiner hört dem anderen wirklich zu, weil jeder bemüht sein muß, seinen Vers im Rahmen dieser Sendung möglichst lang und ausführlich und möglicherweise sogar redundant vorzubringen. Das heißt, es ist also ein Wettrennen um Geltung zugange und eben nicht der Versuch, über Argument und Gegenargument zu einer Synthese zu kommen, zu einer gemeinsamen Vorstellung oder aber zu einem Negativergebnis zu gelangen, also aufklärend zu wirken. Dazu kommt es in den Talkshows in aller Regel heute nicht mehr.

SB: Sind solche Leute wie der von dir als positives Beispiel angeführte Gert Scobel dann gewissermaßen Einzelkämpfer in Verhältnissen, die das eigentlich gar nicht mehr hergeben?

VB: Ja, das kann man so sagen, denn es gibt nicht mehr viele Sendungen, die das auf diese Weise machen. Ich habe ja gesagt, daß es für meine Begriffe der klassische Nachweis für das Elend unserer Informationssendungen ist, daß Satiresendungen wie die Anstalt einen höheren Informationsgehalt als klassische Nachrichtensendungen haben.

SB: Wie ist es möglich, daß einer Sendung wie der Anstalt überhaupt noch so viel Raum im ZDF eingeräumt wird?

VB: Ich spekuliere jetzt einfach mal und gehe von einer Feigenblattfunktion in einem insgesamt doch relativ stark konservativ-reaktionären Sender und einem Programmangebot aus, das sich sonst ganz gewiß keiner großen Aufklärungsansprüche rühmen darf. Die Anstalt ist also ein Ersatz und hat möglicherweise auch nach innen die Funktion, daß die Mannschaft sozusagen an Bord bleibt. Wie gesagt, das ist spekulativ.

SB: Du bist selber auch in den sogenannten neuen Medien präsent und erreichst darüber relativ viele Leute. Läßt sich einschätzen, was dieses Erreichen konkret bedeutet?

VB: Also ich kann es nicht, ich kann nur ungefähr ermitteln, wie das zu bewerten ist. Und übrigens Vorsicht mit den "neuen Medien", ich bin ja im Internet mit Texten bei bestimmten Informationsportalen vertreten, bei den Nachdenkseiten, bei Rubikon, bei RT Deutsch und früher bei der Rationalgalerie oder bei der Neuen Rheinischen Zeitung. Das sind Internetauftritte, bei denen man anhand der Zähler abmessen kann, wie oft sie gesehen werden. Von daher kann man in etwa eigene Reichweiten ermitteln. Welche Tiefenwirkung das hat, ist dann aber wieder sehr wenig ermittelbar, jedenfalls für mich. Ich habe keine Möglichkeiten, das gegenzuchecken.

SB: Wie schätzt du grundsätzlich die Möglichkeit ein, eine Art medialer Gegenöffentlichkeit zu schaffen?

VB: Wir haben sie ja. Das Internet stellt eine Gegenöffentlichkeit dar. Bei aller Problematik, die manche Angebote dort aufweisen, ist es doch eine Form von Gegenöffentlichkeit gegenüber den klassischen Medien, und deren Deutungshoheit wird damit in der Tat zumindest partiell in Frage gestellt. Daß es so geschieht ist im Sinne demokratischer Gesellschaftsverhältnisse nur wünschenswert. Wie wirksam es inzwischen ist, kann ich nicht abschätzen. Es gibt bekanntlich Fälle wie den von Rezo mit 15 Millionen Aufrufen. Es gibt Ausreißer, das ist ganz gewiß nicht das Normale. Aber wenn beispielsweise der Heise-Verlag mit seinem Telepolis-Magazin zwischen fünfhundert- und sechshunderttausend Leser am Tag erreicht, dann ist das schon beachtlich. Und Telepolis steht ja nicht allein da, sondern wird, wie gesagt, durch die Nachdenkseiten, durch Rubikon und andere ergänzt, die alle ihren eigenen Erfolg haben. Die Nachdenkseiten liegen allemal bei über hunderttausend Klicks und der Rubikon ist in der Nähe dieser Zahlen, das ist schon beachtlich. Es herrscht also kein Mangel an Information, es ist tatsächlich auch gute Gegeninformation im Angebot. Es kommt nun darauf an, wie sie sich durchsetzt.

SB: Häufig wird konstatiert, daß heutzutage kein Mensch mehr länger als einen Bildschirm lesen mag. Steht deines Erachtens dennoch so etwas wie eine Renaissance der Lesekultur in Aussicht, weil sich Leute wieder fundierter informieren wollen und längere Texte lesen?

VB: Sagen wir mal so, das muß man hoffen nach dem Motto "Lesen gefährdet die Dummheit". Ob das tatsächlich der Fall ist, wage ich nicht einzuschätzen. Ganz sicher ist es so, daß alles, was über 17 Zeilen lang ist, nur noch ein eingeschränktes Publikum findet. Bedauerlicherweise ist das so, das ist eben, wenn man so will, die Bildzeitungskultur, daß nur noch die Schlagzeile das Wesen der Information ausmacht und nicht mehr der ausführliche Artikel darunter. Will man daran etwas ändern, kann das nur so gehen, daß man sein Angebot möglichst interessant gestaltet. Das kann man im Text versuchen und dann eben so spannend schreiben, daß die Leser bei der Stange bleiben. Das gelingt natürlich nicht immer, aber man wünscht es sich als Autor.

SB: Vorhin wurde in der Diskussion sogar der sehr spontane Vorschlag eingebracht, ein kurzes Video von dir zu machen, es mit einigen spektakulären Effekten anzureichern und dann ins Netz zu stellen. Ist das aus deiner Sicht ein ernstzunehmender Vorschlag, so etwas zu machen, um mehr Leute zu erreichen?

VB: (Lacht) Ich weiß nicht, wie ernst ich das nehmen soll. Bei der Vorstellung wird mir eher außerordentlich mulmig. Ich bin nicht der Typ, der auf der Bühne besonders wirksam rüberkommt, und vor einer Kamera schon gar nicht. Als ich damals bei der Tagesschau angefangen hatte, habe ich ein Casting vor einem Mikrofon mitgemacht, das war eine reine Katastrophe, ich eigne mich nicht für so etwas. Und ich würde mir auch ein wenig sonderbar vorkommen, weil diese neuen Angebote sich in der Tat an ein jüngeres Publikum richten und ich nun mal ein alter Kracher bin, das läßt sich doch nicht leugnen. Es ist nicht mein Stil, ohne daß ich das irgendwie bewerten will, ich passe nicht zu dem und das paßt nicht zu mir.

SB: Es wird oftmals behauptet, daß die jüngere Generation völlig andere Denkweisen und Kommunikationsformen entwickelt habe. Glaubst du, daß dennoch eine Brücke zwischen den Generationen geschlagen werden kann, was kritische und emanzipatorische Ansätze angeht?

VB: Ja, das glaube ich sehr wohl, es gibt ja Anzeichen dafür. Nehmen wir nur bestimmte Massenbewegungen bei den jungen Leuten wie diese Freitagsdemonstrationen wegen der Klimaveränderung. Das sind zumindest Insignien dafür, daß es Möglichkeiten des Austauschs gibt. Wieweit sie aus der Erwachsenenwelt gesteuert, aus dem Hintergrund finanziert und von außen politisch befrachtet werden, weiß ich nicht. Man muß es befürchten. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß in dieser Bewegung immerhin eine Entwicklung möglich ist. Vielleicht gelingt es ja, sie tatsächlich in irgendeiner Form zu institutionalisieren.

SB: Volker, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] Uli Gellermann, Friedhelm Klinkhammer, Volker Bräutigam: Die Macht um acht. Der Faktor Tagesschau. Neue Kleine Bibliothek 241. PapyRossa Verlag Köln 2017, 173 Seiten, 13,90 Euro, ISBN 978-3-89438-633-7.

[2] www.gewerkschaftslinke.hamburg

[3] BERICHT/349: Medien in Haft - unfrei aber marktgerecht ... (SB)
www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0349.html

11. September 2019


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