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INTERVIEW/465: Gelbwesten - ein Bewußtsein setzt sich durch ...    Sophia im Gespräch (SB)


Gespräch am 27. November 2019 in Hamburg


Was die Gelbwesten aus Sicht der Regierenden so unberechenbar macht, ist ihr strikter Verzicht auf ein Führungspersonal oder Vertreter, die im Namen der Gilets Jaunes für ihre Forderungen oder allgemein für ihr politisches Anliegen sprechen. Dieser Punkt macht sie zu einer unverwechselbaren Bewegung, und er hat einen weiteren unbezahlbaren Vorteil, der möglicherweise auch die Stärke und Ausdauer der Gelbwesten vollumfänglich in sich trägt: Man kann dieser Bewegung nicht einfach den Kopf abschlagen, wie es so oft in der Geschichte der Widerstandsbewegungen geschehen ist. Auch ein Kader kann nur so stark sein, wie er sich nicht von lancierten Kompromissen im Zeichen einer fragwürdigen Opportunität einwickeln läßt. Fehlt dieses Motiv der Spaltbarkeit, bleiben die Reihen tatsächlich geschlossen und der Protest gegen die Mißstände der Zeit wächst sich zu einem unverhandelbaren Aufbegehren aus.

Auf Einladung der Hamburger Gewerkschaftslinken berichtete Sophia am 27. November in einem kleineren Kreis über ihre Begegnung mit den Gilets Jaunes in Frankreich [1]. Sie lebt seit langem in Belleville, einem Stadtteil im Nordosten von Paris, und ist dort in antirassistischen und antikolonialistischen Zusammenhängen aktiv. Mit den Gelbwesten bekam sie bereits Ende November 2018 und damit fast von Beginn der Bewegung an Kontakt. Da sie sich derzeit einige Monate in Deutschland aufhält, nimmt sie die Gelegenheit wahr, in unterschiedlichen Kreisen interessierter Leute von diesen Erfahrungen zu erzählen. Welche Begegnungen, Gespräche und Aktionen dazu geführt haben, daß ihre anfängliche Skepsis gewichen und sie Teil dieser Bewegung geworden ist, legte sie an diesem Abend dar, der Raum für eine ausgiebige Diskussion bot. Im Anschluß daran beantwortete Sophia dem Schattenblick einige vertiefende Fragen.

Schattenblick (SB): Der Aufruf der Gelbwesten wurde als internationale Parole formuliert. Du bist selber gewissermaßen in einer Art Mission in Deutschland unterwegs. In welchem Maße ist es für die Gelbwesten in Frankreich ein Anliegen, daß diese Bewegung auch in Deutschland relevant wird?

Sophia: Bei der letzten Versammlung der Versammlungen in Montpellier ist dieser Gedanke von unseren Gelbwesten, also denen aus Paris-Belleville, eingebracht und in einer längeren Erklärung vorformuliert worden. Wir sind uns klar darüber, daß die Probleme, mit denen wir uns beschäftigen, nicht von Frankreich allein zu lösen sind und sich auch nicht auf Frankreich beschränken. Vieles hängt zum Beispiel von der EU ab. Die Schlußfolgerung lautet also, daß sich die Völker überall in Europa und auch in den angrenzenden Ländern in diesem Sinne erheben müssen, wenn wir überhaupt etwas erreichen wollen. Einmal zusammengefaßt ist das der Inhalt und Gedanke dieses Papiers. Ich erzähle hier in Deutschland gerne in allen möglichen Zusammenhängen etwas über die Gelbwesten, die Leute können dann damit anfangen, was sie wollen. Ich glaube nicht, daß man etwas entsprechendes hierzulande anzetteln und entzünden kann. Es muß von den Leuten selbst kommen. Wenn ich aus meiner Sicht über die Gelbwesten informiere, was sie sind und wie sie agieren, kann das vielleicht vereinzelt Leute anregen zu sagen, daran könnten wir uns in unserem Ort, wo wir ganz ähnliche Probleme haben, ein bißchen orientieren.

SB: Wir haben ja hier in Deutschland das Problem, daß die Linke seit Jahren und Jahrzehnten hofft und wartet und bangt, ob eine revolutionäre Bewegung kommt, die aber ausbleibt. Wie könnte man aus linker Sicht damit umgehen, daß plötzlich eine Bewegung auftritt, die sehr viele Qualitäten aufweist, die man sich immer gewünscht hat? Wie geht man mit ihr um, ohne daß man sie vereinnahmt oder für andere Zwecke okkupiert?

Sophia: Nun ja, zu der Linken in Frankreich ist die Gilets-Jaunes-Bewegung ja auch als Überraschung gekommen, und sie hat zu einem großen Teil jedenfalls sehr schnell geahnt oder verstanden, daß das ein authentischer und sehr breiter Aufstand ist. Also haben sie gesagt, da schauen und hören wir genauer hin und versuchen zu kapieren, was sie wollen, und wenn wir gefragt werden, können wir vielleicht irgendeine Expertise dazu abgeben. Die Linken, an die ich jetzt denke - und so ist es mir auch selber gegangen -, haben nicht versucht, sich auf die Bewegung draufzusetzen oder sie sich zunutze zu machen. Parteilinke zum Teil sehr wohl, aber viele andere glücklicherweise nicht, was ich sehr gut finde.

SB: Die Stärke der Gelbwesten war im ersten Schritt vor allen Dingen die Besetzung der Kreisverkehre, womit wesentliche Schnittstellen des Warenvertriebs lahmgelegt wurden. Dabei spielte natürlich auch die Menge der Mobilisierung eine große Rolle, um die Blockadeaktion landesweit organisieren zu können. Im Moment scheint die Mobilisierung etwas zurückgegangen zu sein, zumindest wird dies in den Medien so kolportiert, die fast schon von einem baldigen Ende der Gelbwesten sprechen. Siehst du das genauso?

Sophia: Ganz und gar nicht. Es ist klar, daß normale Menschen, die vielleicht einen Beruf und eine Familie haben und auch finanziell nicht so gut aufgestellt sind, es sich nicht leisten können, das Wochenende in die nächste größere Stadt zu fahren, um an riesigen Demonstrationen teilzunehmen. Auf die Kreisverkehre sind die Leute aber immer wieder zurückgekehrt, auch wenn sie x-mal abgeräumt und ihre kleinen Hütten, die sie errichteten, jedes Mal zerstört wurden. Bei den Gilets Jaunes herrscht die Auffassung vor, das kratzt uns im Grunde nicht, denn unser Maison du peuple, also unser Haus des Volkes, geht mit uns mit, wir werden es dann woanders immer wieder aufbauen. Die Besetzung der Kreisverkehre und ähnliche Sachen - das weiß ich auch von uns in Belleville - werden beibehalten. Daß Hunderttausende jeden Samstag auf die Straße gehen, ist tatsächlich zurückgegangen, aus den Gründen, die ich eben genannt habe, und auch, weil wir uns schon relativ früh gedacht haben, daß das auf die Dauer nicht durchzuhalten ist, auf die Dauer müssen wir andere Formen finden. Daher wurde auf den laufenden Treffen verstärkt die Entwicklung neuer Strategien und Überlegungen diskutiert. Die Versammlung der Versammlungen ist eine basisdemokratische Konstituierung, auf ganz Frankreich bezogen, das steht immer mehr im Vordergrund. Von der Zahl her sind die Gilets Jaunes außerdem sehr viel mehr als zu Anfang, und sie sind jetzt sehr konkret überall vor Ort an laufenden Kämpfen beteiligt. Insofern sind genauso viele Leute wie am Anfang auf den Beinen, aber das ist für die Medien nicht so interessant.

SB: Am 5. Dezember findet in Frankreich ein Generalstreik statt. Aus Sicht der Regierung muß das eigentlich ein Horrorszenario sein, nämlich aufgrund der Befürchtung, daß sich die Gelbwesten tatsächlich mit den Transportarbeitern, dem Krankenhauspersonal sowie mit den vielen anderen Arbeitskämpfen zusammenschließen.

Sophia: Und auch mit den Gewerkschaften, und sei es, daß die Gelbwesten womöglich die Gewerkschaften vor sich hertreiben. Ich kann die kommenden Kämpfe nicht einschätzen, aber ich bin sehr gespannt und hoffe, daß es tatsächlich eine große Wirkung hat. Wie die dann im einzelnen aussehen und wie die Regierung dagegen vorgehen wird, läßt sich nicht absehen, aber ich glaube, es wäre ein grandioser Schritt, wenn ein ganz großer Teil der französischen Bevölkerung dazu stehen und den Generalstreik unterstützen würde.

SB: Eine Kernforderung der Gelbwesten war ursprünglich: Macron muß weg. Nun ist er nicht eine beliebige politische Figur aus dem Regierungsapparat, die leicht ausgetauscht werden könnte. Macron ist ein zentraler Machtfaktor. Aber nehmen wir einmal an, er wäre wirklich weg, was käme dann? Außerdem stellt sich die Frage, was Macron zu tun bereit wäre, um genau dies zu verhindern.

Sophia: Macron muß weg, ist eigentlich ein spontaner Ausdruck gewesen und bezog sich auf die extrem arrogante Politik, die uns schon seit Jahren und auch unter den anderen Präsidenten unterdrückt und beraubt hat. Das muß weg. Wobei dies aus Sicht der Gilets Jaunes nicht einmal so entscheidend ist. Am Anfang hat man vielleicht gehofft, daß er wirklich zurücktritt. Viel entscheidender für uns ist, daß in der ganzen Breite der französischen Bevölkerung klar wird, was der Macronismus, wie seine Politik oft genannt wird, eigentlich ist und bedeutet, und daß er extrem unter Druck gerät. Mal schauen, wie weit wir da kommen. Ob nach ihm etwas Besseres kommt? Nein, es wäre jetzt illusorisch, so etwas zu glauben. Ich wüßte keine Alternative. Eine andere Partei, ein anderer Präsident? Und dann gibt es dieses Argument, das viele Gilets Jaunes endlich aushebeln wollen, nämlich, daß man angeblich Hollande, Sarkozy oder Macron wählen muß, weil sonst Le Pen an die Macht kommt. Ich glaube, davor haben viele Französinnen und Franzosen gar nicht einmal so viel Angst, weil es eigentlich nicht schlimmer kommen kann als unter der Regierungszeit der letzten drei Präsidenten. Jetzt ist man aber in einer ganz anderen Weise miteinander verbunden, und insofern ist die Frage nicht so entscheidend, ob Macron wirklich zum Rücktritt gezwungen wird. Im Moment sieht es nicht danach aus, aber wer weiß, was der Generalstreik bringt.

SB: Vielfach wird die Frage gestellt, ob die Gelbwesten als Grundlage für ihren Protest eine Art Zukunftsvision haben. Man könnte sich in diesem Sinne aber auch fragen, ob man eine Vision von einer anderen Welt, wie es immer gefordert wird, überhaupt braucht, um mit den Verwerfungen der Zeit nicht einverstanden zu sein.

Sophia: Ja, ganz viel Vision sogar. Wie viele einzelne Gelbwesten ständig formulieren oder darstellen: Daß man miteinander teilt und miteinander das Leben feiert. Es wird sehr viel gefeiert nach den Demos und überhaupt. Ja, die Vision lautet, daß man weiterhin so solidarisch verbunden bleibt.

SB: Sophia, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

[1] BERICHT/353: Gelbwesten - aus der Mitte der Probleme ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0353.html

3. Dezember 2019


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