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ALTER/184: Altenhilfen tun sich schwer, zugewanderte Ältere zu integrieren (WZB)



WZB Mitteilungen - Nr. 126/Dezember 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Geschlossene Gesellschaft

Altenhilfen tun sich schwer, zugewanderte Ältere zu integrieren

Von Meggi Khan-Zvornicanin

Seit fast zehn Jahren wird einiges dafür getan, den Zugang zum System gesundheitlicher/pflegerischer Versorgung für ältere Migrantinnen und Migranten zu verbessern. Dies gelingt laut Schwerpunktbericht des Robert-Koch-Instituts zu Migration und Gesundheit aus dem Jahr 2008 noch nicht in ausreichendem Maße. Wie planen, (ver)sorgen und (be)handeln Akteure im Feld der Altenhilfe? Erste Befunde zu Altersbildern bei Angehörigen sozialer Berufe verweisen auf eine zwiespältige Situation: Auch wenn sich Institutionen der Altenhilfe ihnen gegenüber zunehmend öffnen, sind ältere Migrantinnen und Migranten nicht immer willkommen.


Deutschland wird immer "grauer". Gleichzeitig wird die ältere Bevölkerung immer "bunter", also heterogener, was die Herkunft betrifft. In der Migrantenbevölkerung vollzieht sich analog zur Situation der Einheimischen ein sichtbarer demografischer Wandel - sie wird älter, weil Migrantinnen, genauso wie deutsche Frauen, immer weniger Kinder gebären. Von den 15,4 Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund sind derzeit ca. 1,4 Millionen 65 Jahre alt und älter. Einer Modellrechnung der Bundesregierung zufolge wird allein die Zahl der über 60-Jährigen mit ausländischem Pass im Jahr 2030 auf 2,8 Millionen anwachsen.

Ältere Migrantinnen und Migranten bilden eine sozial sehr heterogene Bevölkerungsgruppe, bei der jedoch ein niedriger sozioökonomischer Status überwiegt. Soziale Benachteiligung geht ebenso wie höheres Lebensalter mit einem größeren Risiko einher, von chronischen Krankheiten und Mehrfacherkrankungen betroffen zu sein. So sind auch dem Schwerpunktbericht des Robert-Koch-Instituts zum Thema Migration und Gesundheit zufolge ältere Menschen mit Einwanderungsgeschichte häufiger und früher von geriatrischen Krankheiten betroffen als gleichaltrige Angehörige der Mehrheitsbevölkerung. Der Bericht, der 2008 veröffentlicht wurde, zeigt eine gravierende Unter- und Fehlversorgung bei über 60-jährigen zugewanderten Personen in den Bereichen Prävention, Rehabilitation und Pflege auf. Insbesondere der Zugang zu Angeboten des Gesundheitssystems und der Altenhilfe gelingt bei dieser Bevölkerungsgruppe nicht in ausreichendem Maß.

Dabei wurde in den vergangenen zehn Jahren einiges dafür getan, die Angebote der Altenhilfe für Menschen mit Migrationshintergrund zugänglicher zu machen. Einen Meilenstein stellt das im Jahr 2002 verabschiedete "Memorandum für eine kultursensible Altenhilfe" dar. "Kultursensibilität" bedeutet in diesem Zusammenhang, sich mit den Bedürfnissen von zugewanderten Menschen, ihrer Sprache, ihrer Kultur, ihren Ess- und Lebensgewohnheiten sowie religiösen Traditionen auseinanderzusetzen und interkulturelle Kompetenzen zu entwickeln. Dazu haben sich über 160 Verbände, Institutionen und Organisationen aus den Arbeitsfeldern der Altenhilfe mit ihrer Unterschrift verpflichtet. Unterstützung finden sie durch das "Forum für eine kultursensible Altenhilfe". Es ging im Jahr 2006 aus einem freiwilligen Zusammenschluss von Verbänden, Organisationen und Institutionen aus den Arbeitsfeldern der Altenhilfe, der Migrationsarbeit sowie angrenzenden Tätigkeitsfeldern hervor.

Der Schwerpunktbericht des Robert-Koch-Instituts enthält jedoch ein ernüchterndes Resümee. Zwar gebe es vielfältige Maßnahmen, mit denen sich Gesundheits- und Altenhilfe-Institutionen gegenüber Angehörigen der Migrantenbevölkerung öffnen können. Dazu gehörten Fortbildungen zu migrationsspezifischen Themen, Kooperationen mit Moscheevereinen und Migrantenselbstorganisationen, gezielte Einstellung von Personal mit passenden Sprachkompetenzen und/oder Hinzuziehen von Dolmetscherdiensten. Diese würden bislang aber nur punktuell umgesetzt. Bei vielen Maßnahmen und Angeboten sei es außerdem schwierig, ihre Wirksamkeit nachzuweisen. Deshalb fällt die abschließende Bewertung der Versorgungssituation pessimistisch aus: Eine "Öffnung" der Regelversorgung für zugewanderte Bevölkerungsgruppierungen gelingt laut Bericht oft nicht im gewünschten Maße oder mit sichtbarem Erfolg.

Warum funktioniert es so schlecht, Angebote der Regelversorgung für ältere Menschen mit Migrationshintergrund zugänglicher zu machen, und wie könnte man die aktuelle Situation verbessern? Eine qualitative Studie der WZB-Forschungsgruppe Public Health (Forschungsbereich Alter, Ungleichheit, Gesundheit) soll dazu beitragen, auf diese Fragen Antworten zu finden.

Ob Zugang zu Versorgung gelingt, hängt unter anderem von zwei Aspekten ab, die getrennt voneinander betrachtet werden müssen. Zum einen kommt es auf das Nutzungshandeln bzw. die Nutzungskompetenzen einer Zielgruppe an. Nutzungskompetenzen sind sozial ungleich verteilt. Ressourcenschwache Gruppen haben häufiger Probleme, soziale Versorgungsleistungen in Anspruch zu nehmen. Ursachen sind zum Beispiel Informationsdefizite und mangelnde Sprachkompetenzen. Zum anderen ist der Zugang abhängig von Mechanismen und Praktiken der Leistungsvergabe. Diese sind unter anderem von den Nutzerorientierungen der Versorgungsanbieter bzw. Leistungserbinger abhängig: Wie Akteure im Feld der Altenhilfe planen, (ver)sorgen und (be)handeln, steht immer auch in Zusammenhang mit den Bildern, die sie von ihrer Zielgruppe haben. In der laufenden Untersuchung wird herausgearbeitet, welche Altersbilder verschiedene Akteure bzw. Akteursgruppen aus den Bereichen Soziale Arbeit, Verwaltung sowie medizinisch/pflegerische Versorgung und Betreuung sich von älteren pflegebedürftigen Menschen mit Migrationshintergrund machen. Qualitative Interviews mit ausgewählten Akteuren und Dokumentenanalysen sollen darüber Aufschluss geben.

Erste Befunde zu Formen des Umgangs mit Älteren nichtdeutscher Herkunft liegen bereits vor. Sie deuten darauf hin, dass bei einigen Akteuren die Bereitschaft, Mehrkosten für den Abbau von Zugangsbarrieren für diese Zielgruppe hinzunehmen, gering ausgeprägt ist. Öffentliche Mittel sollen vor allem den Interessen der Mehrheitsgesellschaft dienen.

So betrachteten Angestellte der öffentlichen Verwaltung die Ausgaben für professionelle Dolmetscherleistungen dort als legitim, wo es um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Leistungen bzw. um die Einsparung von Leistungen ging, das heißt darum, die öffentlichen Kassen vor Kosten zu bewahren. Anders wurde dagegen entschieden, wenn die Anspruchsberechtigung zweifelsfrei geklärt war und es darum ging, eine autonome Entscheidungsfindung zu ermöglichen, zum Beispiel für die Auswahl eines geeigneten ambulanten Pflegedienstes. Dann wurde die Kostenübernahme für eine professionelle Übersetzung mit der Begründung abgelehnt, der Klient bzw. die Klientin sei mit der Entscheidungssituation überfordert. Ähnliche Praktiken fanden sich auch im medizinisch/pflegerischen Kontext.

Von den pflegebedürftigen Älteren mit Migrationsbiografie wurde in den genannten Fällen gar nicht erwartet, dass sie entscheiden können und/oder wollen, welche Unterstützungsangebote bzw. Pflegearrangements für sie passend sind. Ihre tatsächliche oder vermeintliche Passivität wurde insbesondere bei Menschen, die der islamischen Religion angehören, als Fatalismus oder als angepasstes Verhalten an Sitten der Herkunftsgesellschaft interpretiert - und zwar so, wie die Verwaltungsangestellten sich die Herkunftsgesellschaft jeweils vorstellten. Dabei blieb auch unbeachtet, dass die Personen, um die es ging, häufig den Großteil ihres Lebens in der Bundesrepublik verbracht haben. Ihr Verhalten kann sich auch auf biografische Erfahrungen beziehen, die sie als Angehörige einer Minderheitengruppe gemacht haben, deren Bedarfslagen häufig nicht gesehen wurden.

Oft sind die Beratungsanliegen von zugewanderten Älteren sehr spezifisch, weil sich bei ihnen allgemeine sozial- und rentenrechtliche Fragestellungen mit biografischen und migrationsspezifischen Aspekten vermischen. So haben viele Betroffene Probleme mit Sprachbarrieren. Auch aufenthaltsrechtliche Bestimmungen spielen eine Rolle, da sie mit der Bewilligung bzw. Kürzung von Renten-, Versicherungs und Sozialleistungen zusammenhängen können.

Am Beispiel einer Seniorenberatungsstelle wird deutlich, dass es gut gelingen kann, Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund bedarfsgerecht zu unterstützen. Die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle orientieren sich eng am individuellen Fall und beraten ganzheitlich, das heißt unter systematischer Einbeziehung der jeweils relevanten Lebensumstände. Zu ihrer Klientel gehören ältere einheimische sowie zugewanderte Menschen. Bei Sprachbarrieren hilft eine türkisch sprechende Mitarbeiterin oder ein Gemeindedolmetscherdienst, mit dem die Einrichtung seit Sommer 2009 kooperiert. Die Sozialarbeiterinnen der Einrichtung sind geschult, ihre Aufmerksamkeit auf die Verschiedenheit ihrer Klientinnen und Klienten zu richten. Aus dieser Perspektive hat Herkunft sekundäre Bedeutung, im Vordergrund steht der individuelle Bedarf.

Im Kontrast dazu steht das Beispiel einer stationären Altenpflegeeinrichtung, wo auf ambivalente Weise mit älteren Menschen nichtdeutscher Herkunft umgegangen wird. An subtilen Hinweisen wird hier ein Verhaltensmuster deutlich: sich einerseits öffnen zu wollen, sich faktisch aber zu verschließen. Die untersuchte Einrichtung lässt Info-Flyer über ihre Angebotspalette ins Türkische übersetzen, um den Kreis ihrer potenziellen Kunden zu erweitern. Sie sperrt sich aber dagegen, den Charakter der Einrichtung zu verändern, der nach Einschätzung der Einrichtungsleitung eher eine deutsche Klientel anspricht. Schon beim Vergleich der Flyer fällt auf, dass die deutschsprachigen auf hochwertigerem, schwererem Papier gedruckt sind. Bei den türkischprachigen Flyern wurde nicht nur am Papier gespart, man hat auch eine nicht unwesentliche Formulierung weggelassen. Sie lautet: "Herzlich willkommen".

Diese Beispiele illustrieren, wie Zugänge zu sozialen Dienstleistungen für Ältere von Akteuren in Beratungs- und Pflegeeinrichtungen ermöglicht bzw. behindert werden. Unter gerechtigkeits- und demokratietheoretischen Gesichtspunkten sollten ein gleichberechtigter Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und eine nicht diskriminierende Behandlung selbstverständlich sein. Ihre Verwirklichung setzt allerdings eine kritische Analyse der Praxis voraus: Wenn Exklusionen in vorhandenen Strukturen identifiziert und sichtbar gemacht werden, besteht die Chance, diese zu reflektieren und zu verändern. Hierzu will das laufende Forschungsprojekt zu Altersbildern im Rahmen der Forschungsgruppe Public Health einen Beitrag leisten.


Meggi Khan-Zvornicanin ist Stipendiatin des Graduiertenkollegs "Multimorbidität im Alter" der Charité-Universitätsmedizin Berlin, gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung. Seit Juni 2008 forscht sie als Gastwissenschaftlerin in der Forschungsgruppe "Public Health" am WZB zu Altersbildern. Sie ist Diplom-Pflegepädagogin und hat an der Humboldt-Universität zu Berlin Pflege- und Sozialwissenschaften sowie Erwachsenenpädagogik studiert.
khan@wzb.eu


Literatur

Oliver Razum, Ute Meesmann et al.: Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes: Migration und Gesundheit, Berlin: Robert-Koch-Institut 2008, 136 S.

Forum für eine kultursensible Altenhilfe in Kooperation mit dem Kuratorium Deutsche Altershilfe (Hg.): Memorandum für eine kultursensible Altenhilfe. Ein Beitrag zur Interkulturellen Öffnung am Beispiel der Altenpflege, 2. Auflage, März 2009
(http://www.kultursensible-altenhilfe.de/download/materialien_kultursensibel/memorandum2002.pdf)


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 126, Dezember 2009, Seite 25-27
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2010