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ARBEIT/426: Arbeit in der Krise (spw)


spw - Ausgabe 3/2010 - Heft 178
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Arbeit in der Krise. Oder von der Notwendigkeit, Alternativen zu diskutieren(1)

Von Alexandra Scheele


Als im Herbst 2008 deutlich wurde, dass sich die Immobilienkrise in den USA zu einer globalen Krise nicht nur für die Finanzwirtschaft sondern auch für die Realwirtschaft ausgeweitet hat und die ersten Unternehmen massive Absatzschwierigkeiten und Produktionsrückgänge beklagten, war die Angst vor einem massiven Anstieg der Erwerbslosigkeit groß. Die damalige große Koalition weitete nicht nur im Eilverfahren die Bezugsdauer für Kurzarbeit aus, sondern zielte mit dem ersten und zweiten Konjunkturprogramm auf eine Förderung der besonders betroffenen Wirtschaftssektoren, um dort Umsatzeinbrüche und Entlassungen zu verhindern. Dieser Kurs wurde auch von der schwarz-gelben Koalition weitergeführt.

Etwa 18 Monate später gibt es ein leichtes Aufatmen, da die Erwerbslosigkeit weder im Krisenjahr 2009 so stark gestiegen ist, wie ursprünglich befürchtet wurde und die Arbeitsagentur für den Monat Mai sogar überraschend einen weiteren, offensichtlich nicht nur saisonal begründeten Rückgang der Arbeitslosenzahlen verkündet hat. Sind wir also noch mal davongekommen?

In Anbetracht der Folgen der Krise auf die Haushaltsverschuldung Deutschlands und die beschlossenen Finanzierungsprogramme für andere verschuldete europäische Staaten empfiehlt es sich zur Vorsicht. Schließlich ist noch nicht abzusehen, welche Folgen eine Inflation oder auch das angekündigte Sparprogramm für den Arbeitsmarkt und die Beschäftigung haben werden. So wurde insbesondere aus geschlechterpolitischer Sicht bereits vielfach darauf hingewiesen, dass sich die Krise vor allem über die sogenannten Zweitrundeneffekte, also durch Nachfragerückgang und Einsparungen im öffentlichen Haushalt, negativ auf Frauen und ihre Arbeitsmarktsituation auswirken wird.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage nach Alternativen zum derzeitigen System neue Aktualität. Im Folgenden soll deshalb das Augenmerk auf eine zentrale Säule - Erwerbsarbeit - des Systems gelegt werden und unter Rückgriff auf die feministische Debatte diskutiert werden, welche Möglichkeiten und Grenzen mit einer Umverteilung von Erwerbsarbeit verbunden sind.


Bedeutung und Wandel von Erwerbsarbeit

Erwerbsarbeit hat eine zentrale Bedeutung für die soziale Integration der Individuen. Die mit der Erwerbsarbeit verbundene Teilhabe an gesellschaftlichen Austauschprozessen ist der Schlüssel zu den sozialen Bürgerrechten (vgl. Marshall 1992, 40) und stellt vielfach auch die Eintrittskarte für das politische und zivilgesellschaftliche Engagement dar. Sie ermöglicht ein mehr oder minder ausreichendes Einkommen und damit zumindest theoretisch die Möglichkeit ökonomischer Unabhängigkeit. In ihrer idealtypischen Ausformung als Normalarbeitsverhältnis bildet sie außerdem die Basis für wohlfahrtsstaatliche Leistungen und ermöglicht hierüber - zumindest temporär - eine soziale Absicherung über das konkrete Arbeitsverhältnis hinaus. Im Rahmen der gegenwärtig stark diskutierten Prekarisierungsthese wird ebenfalls - gewissermaßen ex negativo - diese "durch nichts zu ersetzende Integrationsfunktion und damit auch die Zentralität von Erwerbsarbeit" (Castel/Dörre 2009, 15) betont. Zwar werden in dieser Debatte die (Des-)Integrationspoten ziale von Erwerbsarbeit nicht mehr zwingend am Normalarbeitsverhältnis gemessen, sondern durchaus berücksichtigt, dass auch flexible Beschäftigungsformen, Teilzeitarbeit oder selbständige Tätigkeiten zu einer arbeitsweltlichen und gesellschaftlichen Einbindung führen können (vgl. Dörre 2009, 49f.); die Arbeitsgesellschaft als solche wird aber in diesem Diskurs nicht in Frage gestellt.


Ökonomische Unabhängigkeit und Emanzipation: Der feministische Diskurs um Arbeit

Bereits in der ersten Frauenbewegung waren "Arbeit", der Ausschluss von Frauen aus dem Erwerbssystem und die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung zentrale Themen der Auseinandersetzung zwischen einzelnen Frauenrechtlerinnen und den verschiedenen Bewegungsflügeln. Während die proletarische Frauenbewegung für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, ein höheres Entgelt und die arbeitsrechtliche Gleichstellung von erwerbstätigen Frauen kämpfte, ging es vielen Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung darum, überhaupt berufstätig sein zu können. Sie begriffen die ökonomische Unabhängigkeit von Frauen als eine zentrale Voraussetzung für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die jedoch noch mit weiteren Forderungen verbunden werden musste: So schrieb Clara Zetkin 1889:

"Die Frau, die sich gesellschaftlich-produktiv dem Manne ebenbürtig erweist, die sich ökonomisch ganz auf eigene Füße stellen kann, muss auch politisch und rechtlich demselben gleichgestellt werden".
(Zetkin 1889, zit. n. Kurz-Scherf u.a.2006, 51)

Allerdings wurde das eigenständige, oftmals jedoch geringe Einkommen - schließlich wurden viele Frauen in den Fabriken als billige Arbeitskräfte eingesetzt - schon damals nur als eine Dimension von Berufstätigkeit betrachtet. Eine nicht minder wichtige Dimension waren die durch Erwerbsarbeit erfahrbare Anerkennung und die Möglichkeit zur Selbstentfaltung insbesondere in qualifizierten Berufen. Hedwig Dohm, die als "Grenzgängerin" (Kurz-Scherf et al.) zwischen beiden Flügeln gilt, kritisierte 1874 die Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern, da diese zwei Grundprinzipien folge:

"die geistige Arbeit und die einträgliche Arbeit für die Männer, die mechanische und die schlecht bezahlte Arbeit für die Frauen... Der maßgebende Gesichtspunkt bei der Frauenarbeitsfrage ist nicht das Recht der Frauen, sondern der Vorteil der Männer." (Dohm 1874, zit. n. Kurz-Scherf u.a. 2006, 47)

Da den Frauen damit ein menschliches Anrecht, das Recht auf Existenz geraubt werde, sei die "Freiheit in der Berufswahl die unerlässlichste Bedingung für individuelles Glück".
(Dohm 1874, zit. n. Kurz-Scherf u.a. 2006, 47)

In der sog. zweiten Frauenbewegung in Deutschland wurde das Thema "Arbeit" wieder aufgegriffen und zählte, so Ilse Lenz (2008, 147), gemeinsam mit "Sexualität" und "Beziehungen" zu den Schlüsselthemen der Neuen Frauenbewegungen nach 1970. Lenz betont, dass die drei Themen eng miteinander verwoben waren: "Und wie in einem Dreiklang schwangen die anderen Themen immer mit, wenn eines hervorgehoben wurde. So fragten sich Frauen, was die Lohnarbeit mit ihrer Familien- und Beziehungsarbeit zu tun hat. Eigene Erwerbstätigkeit hieß für Frauen umgekehrt eine freiere Wahl über ihre Beziehungen und Sexualität: Denn sie mussten dann nicht heiraten, um 'versorgt' zu sein" (ebd.).

Die Debatte über Erwerbsarbeit wurde von der Frage bestimmt, wie die "wirtschaftliche Abhängigkeit vom Mann behoben" (Sander 1968, zit. n. Lenz 2008, 58) werden, und führte zu der Auseinandersetzung darüber, ob und wie sich Gleichheit zwischen Frauen und Männern in der Erwerbsarbeit herstellen ließe. Das Streben nach Unabhängigkeit ging dabei vielfach mit der Auffassung einher, dass erst die Teilhabe an Erwerbsarbeit Emanzipation ermögliche. Diese Vorstellung von Berufstätigkeit als Chance und Mittel der Emanzipation von Frauen war jedoch nicht unumstritten, da die soziale Realität von Frauenarbeit von der blanken Notwendigkeit der Existenzsicherung und den vielfältigen Erfahrungen von Ausbeutung, Fremdbestimmung und geschlechtsspezifischer Diskriminierung charakterisiert war (und auch heute noch ist).

In diesem Sinne formulierte die österreichische Psychologin Jutta Menschik im Jahr 1971 fünf Thesen zum Zusammenhang von Arbeit und Emanzipation. In diesen kritisierte sie u.a., dass Frauen in der damaligen Bundesrepublik überwiegend von qualifizierten Positionen ausgeschlossen waren und ihnen (wie auch Männern) über die Arbeitsplätze in den unteren Ebenen nur ein Objektstatus zugeteilt worden sei, so dass sie sich nicht als Frauen emanzipieren könnten. Des Weiteren sah sie zwar die Subjektwerdung der Frau nur in dem Prozess der wirtschaftlichen und sozialen Unabhängigkeit als möglich an, für die wiederum Erwerbsarbeit die Voraussetzung sei. Dennoch sei Erwerbsarbeit nur ein notwendiger Schritt auf dem Wege der Emanzipation von Frauen - und nicht mehr, da die Strukturmerkmale der kapitalistischen Gesellschaft bestehen blieben (vgl. Menschik 2006).

Darüber hinaus analysierte und diskutierte die Frauenbewegung grundsätzlicher den Zusammenhang von Lohnarbeit, unbezahlter Versorgungsarbeit und Geschlecht "in der Tiefenstruktur der modernen Gesellschaft" (Lenz 2008, 147). Teil dieser Auseinandersetzung war nicht nur die internationale Kampagne "Lohn für Hausarbeit", mit der auf die unsichtbare Voraussetzung der kapitalistischen Produktion - die unbezahlte Hausarbeit von Frauen - hingewiesen wurde, die ebenfalls in die volkswirtschaftliche Gesamtrechung einfließen und bezahlt werden müsse. Es ging auch um die grundsätzliche Frage, was überhaupt Arbeit bedeute. Die feministische Kritik richtete sich dabei von Anfang an gegen die kapitalistische Formbestimmtheit von Arbeit und machte deutlich, dass auch andere Tätigkeiten, die gemeinhin eben nicht als "Arbeit" bezeichnet wurden, gesellschaftlich notwendig und wichtig sind: nicht nur Hausarbeit, sondern auch die Versorgungsarbeit - der Bereich, der heutzutage meistens mit dem englischen Begriff care umschrieben wird - und weitere nicht erwerbsförmig organisierte Tätigkeiten z.B. im Bereich der nachbarschaftlichen Hilfe und des bürgerschaftlichen Engagements.

An anderer Stelle (vgl. Scheele 2008) habe ich diese verschiedenen Schwerpunkte in der feministischen Auseinandersetzung mit "Arbeit" (in erster Linie Erwerbsarbeit) in fünf Dimensionen unterschieden und argumentiert, dass es sich dabei - wie die Auseinandersetzungen innerhalb der Frauenbewegungen zeigen - um politische und politisierbare Dimensionen handelt. Zusammenfassend lassen sie sich folgendermaßen beschreiben:

Erstens ist Arbeit den in modernen Gesellschaften wirksamen (vergeschlechtlichten) Macht- und Herrschaftsverhältnissen unterworfen und zugleich werden im Medium Arbeit selbst Macht und Herrschaft vollzogen, z.B. durch die enge Verknüpfung von sozialer Teilhabe mit Erwerbsarbeit und dem Erwerbsstatus.

Zweitens sind in modernen Gesellschaften nicht nur soziale Teilhabe, gesellschaftliche Anerkennung und ökonomische Existenzsicherung überwiegend an Erwerbsarbeit gekoppelt, sondern dieser kann auch ein emanzipatorisches Potential zugeschrieben werden - in der Form, dass der/die Einzelne sich (als Person) weiterentwickeln kann, wenn er/sie in Arbeitszusammenhängen mit anderen in Austausch tritt.

Drittens spiegelt die erwerbsförmig organisierte Arbeit nur einen Teil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit wider. Mit der Erwerbstätigkeit von Frauen und dem Infragestellen der geschlechtszuschreibenden Arbeitsteilung werden der Zusammenhang und die Interdependenz zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit bzw. von Erwerbsarbeit und anderen Lebensbereichen deutlich sichtbar.

Damit rücken viertens jene Bereiche ins öffentliche Bewusstsein, die bislang als "verheimlichte" Voraussetzung übersehen oder - als "Liebe" (Bock/Duden 1977) interpretiert - jenseits von Öffentlichkeit, Wirtschaft oder Politik verhandelt wurden. Diese Bereiche jenseits von Erwerbsarbeit verweisen auf die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander. Ihre Thematisierung führt zu der Frage, ob die Zukunft von Arbeit nicht viel stärker entlang von Bedürfnissen diskutiert werden müsste.

Damit müssen fünftens der Wert und die Bewertung von Arbeit einer kritischen Überprüfung unterzogen werden.

Diese fünf Dimensionen lassen sich in konkrete Vorschläge zur Neuverteilung, Neugestaltung und Neubewertung von Erwerbsarbeit übersetzen.


Neuverteilung von Erwerbsarbeit durch Arbeitszeitverkürzung

Die Neuverteilung von Arbeit bezieht sich dabei vor allen Dingen auf bezahlte und unbezahlte Arbeit und zielt darauf, die geschlechterzuschreibende Arbeitsteilung abzubauen und die mit Erwerbsarbeit verbundene Anerkennung sowie die an Erwerbsarbeit gekoppelten Einkommens- und Teilhabemöglichkeiten und Emanzipationspotenziale zwischen Männern und Frauen, aber auch zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen gerechter zu verteilen. Um diese Ziele zu erreichen, wird in der feministischen Auseinandersetzung überwiegend eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung gefordert. In diesem Sinne schlägt z.B. Nancy Fraser (1996) vor, dass ArbeitnehmerInnen, die Betreuungsaufgaben zu erfüllen haben, Zugang zu allen Arbeitsplätzen bekommen sollen, und dass diese mit einer kürzeren Wochenarbeitszeit verbunden werden müssen (vgl. Fraser 1996, 492). Dieses "Modell der universellen Betreuungsarbeit" soll einerseits dafür sorgen, dass Frauen die gleichen Beschäftigungschancen haben, und andererseits ermöglichen, dass "Frauen und Männer in gleicher Weise am zivilgesellschaftlichen Leben teilnehmen" (ebd., 493).

Bei der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung handelt es sich um eine realistische Forderung. Realistisch in dem Sinne, dass in diesem Modell Erwerbsarbeit und bislang überwiegend privat geleistete Versorgungs-, Betreuungs- und Hausarbeit ebenso wie zivilgesellschaftliche Tätigkeiten und Eigenarbeit in ihrer Struktur kaum angetastet werden und voneinander getrennt bleiben. Für dieses Modell spricht, dass es die derzeit mit dem Erwerbsstatus verknüpften gesellschaftlichen Integrationsmodi zum Ausgangspunkt nimmt und das Ziel verfolgt, jedem und jeder einen vollen BürgerInnen-Status zu geben, ökonomisch eine eigenständige Existenz zu ermöglichen sowie ein hohes Maß an wohlfahrtsstaatlicher Absicherung zu gewähren. Über eine generelle Arbeitszeitverkürzung, z.B. in Richtung 6-Stunden-Tag (vgl. Kurz-Scherf/ Breil 1987) bzw. eine Vollbeschäftigung neuen Typs mit einer Wochenarbeitszeit von 30 Stunden (vgl. Spitzley 2001), könnte zudem die Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern realisiert werden. Darüber hinaus würde eine verkürzte Arbeitszeit dazu beitragen, dass Erwerbsarbeit nicht mehr die dominante Rolle im individuellen Alltag hat, sondern gleichzeitig andere Tätigkeiten aufgewertet werden und mehr Freiräume für alternatives Wirtschaften und Leben entstehen könnten. Fraser fasst dies folgendermaßen zusammen:

"Es kommt darauf an, sich soziale Bürgerrechte für die Erwachsenen vorzustellen, die Erwerbsarbeit, Betreuungsarbeit, Aktivitäten für die Gemeinschaft, Mitwirkung am politischen Leben und Engagement in der Zivilgesellschaft miteinander verbinden - und noch Zeit für vergnügliche Dinge ermöglichen."
(Fraser 1996, 493)

Nicht zu vergessen sind außerdem die mit diesem Modell potentiell verbundenen positiven Beschäftigungseffekte, falls die kürzeren Arbeitszeiten nicht mit Arbeitsverdichtung ausgeglichen werden.

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Wirtschaftskrise, aber auch vor den seit längerem zu beobachtenden Prekarisierungsprozessen müssen jedoch auch diese Forderungen nach einer Neuverteilung von Arbeit in mehrfacher Hinsicht überprüft werden.

Zum einen stellt sich auf der praktisch-politischen Ebene derzeit besonders aktuell die Frage, wer das Thema Arbeitszeitverkürzung und die Forderung nach qualitativ guter Arbeit auf die politische Agenda bringt bzw. bringen kann und sich um ihre Durchsetzung kümmert. Schließlich stagniert der Kampf um eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit schon seit Jahren, während gleichzeitig die effektiven Arbeitszeiten vieler Beschäftigter wieder länger werden, z.B. durch Überstunden oder auch im Zuge einer Entgrenzung von Arbeitszeit. Zugleich gibt es aber auch einen Trend in Richtung Aufsplittung von Vollzeitarbeit in Teilzeitarbeit und Mini-Jobs und insbesondere bei weiblichen sowie geringer qualifizierten Beschäftigten sinken die wöchentlichen Arbeitszeiten, was mit geringeren Verdienstmöglichkeiten verbunden ist. Während also einerseits für viele Beschäftigte das "Arbeiten ohne Ende" zur Realität geworden ist, haben andererseits viele nur noch prekäre Beschäftigung- und Verdienstperspektiven.

Zum anderen ist auf einer gesellschaftstheoretischen Ebene zu überlegen, ob nicht über den Status quo hinaus gedacht werden müsste, da kürzere Arbeitszeiten - so wichtig sie für die Herstellung von Geschlechtergleichheit sind - die grundsätzlichen Probleme der kapitalistischen Ökonomie und der in ihr verorteten Arbeit nicht berührt, geschweige denn löst. Zugespitzt formuliert: Die Produktion von Automobilen wird auch dann nicht sinnvoller, wenn die dort Beschäftigten es nur noch sechs Stunden täglich tun. Darüber hinaus gewinnt man vor dem Hintergrund der staatlichen Subventionen für einige Unternehmen sowie den beschlossenen Konjunkturprogrammen den Eindruck, als solle in einigen Branchen um des Produzierens willen produziert werden, und um die Menschen - egal um welchen Preis - in Erwerbsarbeit zu halten. Wenn jedoch mit der Förderung von Erwerbsarbeit nicht mehr ein Bedarf gedeckt wird (der durchaus da ist, wenn man den Bereich von Pflege oder Erziehung ansieht), sondern es nur noch darum geht, eine zentrale Säule des Wohlfahrtsstaates zu stabilisieren und die Integration der Gesellschaftsmitglieder zu sichern, stellt sich grundsätzlicher die Frage, ob überhaupt an dem Selbstverständnis als "Arbeitsgesellschaft", in der die Teilhabe an Erwerbsarbeit das zentrale Kriterium für Ein- und Ausschlussprozesse darstellt, festgehalten werden sollte.

Die feministische Herausforderung bestünde dann darin, die Diskussion um eine Neugestaltung der Gesellschaft zunächst anhand des Problems zu diskutieren, ob soziale Kohäsion und gesellschaftliche Integration jenseits von Erwerbsarbeit möglich ist und wie dies aussehen könnte. In diesem Kontext werden immer wieder Vorschläge für ein bedingungsloses Grundeinkommen und ein für alle zugängliches Angebot an Bildung diskutiert (vgl. z.B. Dölling 2008). Da die kapitalistische Ökonomie - so Kurz-Scherf (2009, 38) - "nur Bedürfnisse [berücksichtigt], die sich warenförmig und durch quantitative Steigerung, also durch Wachstum, befriedigen lassen", hingegen Bedürfnisentwicklung und -befriedigung jenseits von Konsum oder die Entwicklung von Potenzialen der/des Einzelnen keine Rolle spielen müssten jedoch noch grundsätzlichere Fragen diskutiert werden: Was kann Kapitalismus als Wirtschaftssystem? Was kann Kapitalismus als Gesellschaftssystem? Kann es so etwas wie einen modernisierten Kapitalismus geben? Gibt es spezifisch feministische Ideen? Mit diesen Fragen lässt sich an die autonome Frauenbewegung anknüpfen, die - wie bereits kurz skizziert - ihre Kritik an der Organisation und Verteilung von Arbeit mit einer grundsätzlicheren Kapitalismuskritik verbunden hat. Auch wenn es nicht leicht sein wird, Antworten auf diese Fragen zu finden, so steht sicherlich fest, dass es darum gehen muss, die an quantitativen Produktivitätskriterien orientierte Wachstumsideologie und die Verkürzung von Erwerbsarbeit auf industrielle bzw. technische Bereiche zu überwinden und jene Bereiche, die die elementaren menschlichen Bedürfnisse befriedigen, aufzuwerten.


(1) Es handelt sich bei diesem Text um eine gekürzte und überarbeitete Version von Scheele 2009


Dr. phil. Alexandra Scheele ist Politologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl "Soziologie der Geschlechterverhältnisse" an der Universität Potsdam. Forschungsschwerpunkte: Arbeits- und Sozialpolitik, Geschlechterforschung und politische Ökonomie.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2010, Heft 178, Seite 27-33
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2010