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ARBEIT/488: Leiharbeit - Ganz unten in der Hierarchie (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 1 - 2012

Ganz unten in der Hierarchie

Von Sandra Siebenhüter



Rund 910.000 Menschen sind in Deutschland bei Leiharbeitsfirmen angestellt. Vor allem für Großbetriebe ist Leiharbeit fester Bestandteil der Personalstrategie geworden. Welche Folgen hat diese Beschäftigungsform insbesondere für Migrantinnen und Migranten?


Schafft Leiharbeit auch Integration? Dies war die forschungsleitende Fragestellung für eine 18-monatige qualitative Studie, die sich im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung mit den Folgen von Leiharbeit für Migrantinnen und Migranten beschäftigte. Dazu wurden in der südbayerischen Elektro- und Metallbranche 116 Personen befragt, darunter 41 Leiharbeitnehmer (31 mit und 10 ohne Migrationshintergrund), Betriebsräte, Personalverantwortliche und Betriebsräte in Ver- und Entleihbetrieben, Migrationsberater aber auch ethnische Ärzte, Arbeitsvermittler und Arbeitsrichter. Die Studie eröffnet dabei gute Einblicke in das Geschäftsmodell und die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Ver- und Entleihfirmen, sowie auch in die sich daraus ergebenden Strukturen, Dynamiken und Mechanismen für die betroffenen Migrantinnen und Migranten.

Der deutsche Arbeitsmarkt hat sich vor dem Hintergrund der fortschreitenden Globalisierung und damit einhergehender Reorganisationsprozesse sowie einer zunehmenden Ausrichtung der Unternehmen an den Finanzmärkten, stark verändert. Die Klagen der Betriebe und Unternehmensverbände über einen steigenden Zeit-, Kosten- und Flexibilitätsdruck veranlasste auch die deutsche Politik bereits seit Anfang der 1990er Jahre den Arbeitsmarkt zu deregulieren. Im Rahmen der Agenda 2010 wurde auch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) liberalisiert und mit dem Wegfall des Befristungs-, des Synchronisations- und des Wiedereinstellungsverbotes im Jahr 2003 begann sich die Leiharbeit auch hierzulande auszubreiten. Zwar ist sie bundesweit mit ca. drei Prozent im EU-Vergleich noch eher wenig verbreitet, dennoch zeigen sich regional starke Unterschiede (vgl. Leiharbeitsatlas der Hans-Böckler-Stiftung 2009): Neben Wolfsburg mit 10,4 Prozent spielt Leiharbeit insbesondere in Bayern (Ansbach: 11,66 Prozent, Landshut: 8.88 Prozent, Ingolstadt: 5,47 Prozent) eine Rolle.

Doch warum steht Leiharbeit nun so in der Kritik, obwohl die Politik auf die dadurch sinkenden Arbeitslosenquoten verweist? Ein Betriebsrat bringt es auf den Punkt: "Wir dachten am Anfang, Leiharbeit ist gar nicht so schlecht, weil wenn die Aufträge mal aus bleiben, dann haben wir ja einen Puffer." Doch die Betriebsräte und auch die Stammbeschäftigten mussten bald erkennen, dass dem nicht so ist, sondern dass durch den starken und vor allem auch dauerhaften Einsatz von Leiharbeit in den Betrieben eine neue Spaltung eintritt. Die Leiharbeiter sind aufgrund ihrer Bezahlung nach eigenen Leiharbeitstarifverträgen billiger, können seitens des Entleihers jederzeit entlassen werden und werden nur für tatsächlich geleistete Arbeitsstunden entlohnt. Zudem sind die Entleiher nahezu von allen Arbeitgeberpflichten (Kosten für Urlaub, Krankheit oder Mutterschutz) entbunden und haben in Folge die Leiharbeiter auch keinen Anspruch auf Prämien oder Sozialleistungen wie Betriebsrente. Da das Ziel der meisten Leiharbeiter jedoch eine Übernahme in ein sog. Normalarbeitsverhältnis ist, arbeiten sie häufig sehr motiviert und sind auch bereit, unbezahlte Überstunden zu leisten, was sie wiederum zu Konkurrenten der Stammbeschäftigten macht. Dass Unternehmen immer mehr dazu übergehen, Stammbeschäftigte abzubauen und frei werdende Stellen durch Leiharbeiter zu besetzten, schürt eine diffuse Angst, die sich u.a. auch wie die Studie zeigte in Diskriminierung von Leiharbeitern zeigen kann.

Besonders problematisch ist die Situation der Hilfskräfte, welche auch im Mittelpunkt der Studie standen; sie machen lt. Bundesagentur für Arbeit (BA 2012) ein Drittel der Leiharbeiter aus. Neben dem geringen Einkommen haben sie auch ein höheres Arbeitslosigkeitsrisiko, da ihre Tätigkeiten besonders konjunkturabhängig sind; deutlich wurde dies im Krisenjahr 2008/09, als besonders viele Hilfskräfte entlassen wurden, jedoch die Leiharbeit in den Dienstleistungsberufen sogar anstieg. Weiterhin profitieren Hilfskräfte, anders als Fachkräfte, so gut wie nie von dem sog. "Klebeeffekt", d.h. die Chance auf Übernahme durch den Entleiher, ohnehin liegt diese Quote nur im einstelligen Prozentbereich.

Politisch und sozial fraglich sind hingegen noch weitere Begleiterscheinung dieser Beschäftigungsform: Das geringe Hilfskräfteinkommen geht oftmals mit dem zusätzlichem ALG II-Bezug (Aufstokker) einher, längerfristig bedingt dieses aufgrund geringer Rentenversicherungsbeiträge Altersarmut. Ebenso bedingen die häufigen zeitlichen und örtlichen Einsatzwechsel den Verlust von Zeitautonomie; am Freitag noch nicht zu wissen ob, wann und wo man am Montag zu arbeiten hat, ist keine Seltenheit. Nicht zuletzt verursachen die vielfachen Einsatzwechsel einen immensen psychischen Stress, da die Betroffenen gezwungen sind sich schnell sowohl auf funktionaler als auch auf sozialer Ebene in die neue Arbeitsumgebung einzufügen. Dennoch erfahren die Hilfskräfte aufgrund ihrer geringen Produktivität seitens Ver- und Entleiher meist nur eine geringe Wertschätzung, begleitet von dem Gefühl jederzeit austauschbar zu sein, so dass ihnen trotz einer 40-Stunden-Woche die Möglichkeiten zur Teilhabe an institutionalisierten Handlungen und Ritualen (Betriebsfeiern, Ausflüge, Betriebsversammlungen usw.) fehlen. Insbesondere für Migranten mit dem Willen zu Integration zeitigt diese desintegrative Dynamik der Leiharbeit negative Folgen.

All diese aufgeführten Folgen der Leiharbeit widersprechen der Idee des Integrationsprozesses, denn die eingeforderte Flexibilität erfüllt nicht mehr die Voraussetzungen für den Konstruktionsmechanismus einer kollektiven Identität. Insbesondere Hilfskräfte fühlen sich keiner Belegschaft mehr zugehörig und leben in dem Bewusstsein, dass sie sowohl zeitlich und örtlich aber auch finanziell dauerhaft in prekären Verhältnissen leben werden. Verglichen mit den Gastarbeitern der 60er Jahre zeigt sich hier ein großer und entscheidender Unterschied: Sie kamen als feste MitarbeiterInnen in einen Betrieb und ihre KollegInnen und Vorgesetzten waren ein dauerhafter Teil ihrer sozialen Welt. Im Laufe der Zeit identifizierten sie sich nicht nur mit der Firma, sondern konnten eine kollektive Arbeitsidentität entwickeln. Freundschaften zwischen den deutschen und ausländischen Kollegen und ihren Familien taten ihres dazu, dass sich so langsam aber stetig ein Prozess der Integration, des Respekts und der Achtung auf beiden Seiten vollzog.

Die Leiharbeit kann diese Identitätskonstruktionen nicht mehr leisten und schafft bei den Betroffenen möglicherweise Raum für neue kulturelle und politische Widerstandsidentitäten; letztlich wirkt Leiharbeit desintegrierend, isolierend und letztlich auch segmentierend. Für Zugewanderte schaffen die bundesdeutschen Zugangsbeschränkungen zum Arbeitsmarkt zusätzliche Probleme: Es ist keine Seltenheit, dass sich unter den Hilfskräften qualifizierte Migranten mit 20-jähriger Berufserfahrung oder auch promovierte Ingenieure befinden, die als ungelernt gelten, weil ihre im Ausland erworbene Ausbildung/Studium nicht anerkannt wird.

Atypische Beschäftigung breitet sich zu Lasten des Normalarbeitsverhältnisses immer weiter aus. Schon heute zeichnet sich ab, dass Leiharbeit durch die gesetzlichen Neuregelungen im Jahr 2012 (nur vorübergehender Einsatz, Mindestlohn, Besserstellungsvereinbarungen und Quotenregelung durch Betriebsräte usw.) immer mehr an Attraktivität verliert und die Entleiher vermehrt zu Werkverträgen greifen. Dies erlaubt Firmen völlig am Betriebsrat vorbei Arbeiten an Dritt-Firmen auszulagern. Für die Beschäftigten, die im Rahmen eines Werkvertrages tätig sind, ist der Arbeitsdruck bisweilen noch höher und die Chancen auf Übernahme schwinden zusehends. Diese Werkverträge finden sich sowohl im niedrig qualifizierten Bereich (Reinigungsgewerbe) als auch im hoch qualifizierten Bereich (Ing. Dienstleistungen). Die Werkvertragnehmer hingegen kalkulieren sehr flexibel und beschäftigten ihrerseits wiederum eine Vielzahl von LeiharbeiterInnen, um die häufig finanziell sehr knapp bemessenen Werkverträge mit möglichst billigen Tarifen abarbeiten zu können. Flexibilisierungsinstrumente werden mit anderen Flexibilisierungsinstrumenten gekoppelt, um das Arbeitgeberrisiko auf dem Rücken der Arbeitnehmer zu minimieren.

Die Folgen dieser Flexibilisierung sind weitreichend: Neben einer Deckelung der Stammbelegschaft, kommt es zu einer Schwächung der betrieblichen Mitbestimmung und einer zunehmenden Konkurrenz zwischen Stammbeschäftigten und flexiblen Beschäftigten. Im Rahmen der Integrationsdiskussion muss daher auch über die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen gesprochen werden. Denn die Aufsplitterung der Arbeitswelten innerhalb eines Unternehmens ist nicht nur für MigrantInnen ein Integrationshindernis, sondern es wirkt desintegrierend für alle Arbeitnehmer und schwächt langfristig den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Arbeitsverhältnisse, die immer weniger Stabilität und Berechenbarkeit bieten, eignen sich auch nicht mehr als Fundament für eine mittel- und langfristige Zukunftsplanung, sondern gleichen Treibsand.

Die ausführliche Studie ist kostenlos online verfügbar unter
www.otto-brenner-shop.de/uploads/tx_mplightshop/AH69_Leiharbeit_WEB.pdf


Dr. Sandra Siebenhüter war bis März wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur für Wirtschafts- und Organisationssoziologie (Prof. Dr. Rainer Greca) und ist nun für die Otto-Brenner-Stiftung tätig, in deren Auftrag die hier vorgestellte Studie entstand.

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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2012, Seite 18-19
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität, Prof. Dr.
Richard Schenk
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2012