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ARBEIT/509: Warum Sozialstaat und Arbeitsmarkt mehr als bessere Gesetze nötig haben (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2012

It's the society, stupid
Warum Sozialstaat und Arbeitsmarkt mehr als bessere Gesetze nötig haben

Von Hilmar Höhn



Wir leben in einem Zeitalter der Extreme. So steht z.B. einer hohen volkswirtschaftlichen Produktivität einerseits eine Abwertung von Arbeit, Bildung und Leben andererseits gegenüber. Mit Gesetzen und anderen staatlichen Interventionen wird nun versucht, die erheblich ins Rutschen geratenen Einkommen, Arbeitnehmerrechte und Renten zu befestigen. Das reicht aber nicht aus. Veränderungen bedürfen auch einer Begeisterung für eine bessere, solidarische Ordnung der Moderne und für ein erfolgreich selbstbestimmtes Leben.


Wir werden 2012 Zeuge einer ganzen Reihe gesellschaftlicher Superlative: Zum einen war in Deutschland die Wertschöpfung noch niemals so hoch wie in diesem Jahr, noch nie waren unsere Reichen so reich. Zum anderen war aber auch die Armut hart arbeitender Menschen hierzulande noch nie so groß, war unsere Mittelschicht noch niemals so dünn. Seit Jahrzehnten wurde keine ganze Generation von Kindern aus einfachen Verhältnissen mehr so von Bildung ausgegrenzt. Noch nie waren in Deutschland so viele Menschen erwerbstätig. Noch nie waren die Frauen einer Generation so gut ausgebildet und wurde ihre Bildung gleichzeitig so diskriminiert. Nie war die Geburtenrate so niedrig. Noch nie versagten sich Schichten und Milieus wechselseitig so intensiv die Anerkennung. Niemals zuvor flossen so große Milliardenbeträge absolut unproduktiven Aufgaben wie der Stabilisierung der Finanzmärkte zu. Nie haben sich aber die Deutschen auch mitten in einer Währungskrise wohler gefühlt als heute.

Wir leben in einem Zeitalter der Extreme. Solche Zeiten waren immer wieder Wendepunkte für Politik und Gesellschaft. Unsere Generation glaubte schon einmal einen solchen Punkt erreicht zu haben: Das war das Ende der Ära Kohl. Ein gemeinsames Sozialwort der beiden großen christlichen Kirchen läutete die Wende ein, eine Großkundgebung des DGB machte deutlich, dass sich Menschen für eine neue Politik begeistern lassen würden. Von den 1992 siegreichen US-Demokraten lernten wir einen folgenreichen Slogan: "It's the economy, stupid." Es war ein folgenreicher Irrtum. Nach 1998 folgte eine Kette "tiefgreifender" bis "schmerzhafter Reformen": Der Verkauf der "Deutschland AG" an "global investors", die größte Steuerreform aller Zeiten und nicht zuletzt das größte arbeits- und sozialpolitische Reformpaket der Bundesrepublik Deutschland.

Zu Absichten, Wirkungen und Nebenwirkungen dieser Reformpolitik ist alles gesagt. Vieles, was heute die Agenda 2020 bestimmt, hat seinen Ausgangspunkt in dieser Zeit. Eine Neue Ordnung der Arbeit, wie sie SPD, Grüne und Gewerkschaften nun offensiv propagieren, soll helfen, das wieder einigermaßen ins Lot zu bringen, was aus den Fugen geraten ist. Mit Gesetzen und staatlichen Interventionen wollen bis weit hinein in die CDU nun alle die erheblich ins Rutschen geratenen Einkommen, Arbeitnehmerrechte und Renten befestigen.


Perspektivwechsel

Keine Frage: Das ist jetzt alles richtig und wichtig, weil die Not Vieler viel zu groß ist. Der Satz "It's the economy, stupid" wirkt allerdings auf fatale Weise nach: Die Reformen der vergangenen Dekade zielten auf einen kulturellen Bruch. Der Sozialstaat und sein Kern, die "lebendige" Arbeit, wurden aus der Welt des politischen Handelns herausgerissen und der Sphäre des ökonomischen Tuns zugeführt. Man erkannte es irgendwann daran, dass auch Gewerkschafter von ihren Schätzen, also dem Kündigungsschutz, den Tarifverträgen oder der Mitbestimmung nicht mehr als wesentliche soziale Rechte sprachen. Stattdessen versuchte man, ihren ökonomischen Nutzen nachzuweisen. In den Zeitungen wanderte die Welt der Arbeit vom Politik- in den Wirtschaftsteil. Niedriglöhner wie junge Akademiker machen sich keine Illusionen über ihre Chancen auf Aufstieg und Entwicklung. Ihr Weg führt durch Dienen und Gehorchen, übers Nicht-Anecken vielleicht zum Erfolg. Das Soziale ist zu einer Kategorie des Ökonomischen degradiert worden.

Und das Ökonomische hat eine neue soziale Wirklichkeit entstehen lassen. Am Beginn des 21. Jahrhunderts müssen wir feststellen, dass Millionen Menschen in Deutschland auf einen Zustand zurückgeworfen sind, den Hannah Arendt als animal laborans beschrieben hat: Millionen sind zur Sicherung ihrer nackten Existenz auf ihre Arbeit zurückgeworfen.

Über die Jahre ist so die Liste unserer Wünsche an den Staat zur Schadensbegrenzung immer länger geworden: einen gesetzlichen Mindestlohn, eine Mindestrente, das Ende der ohne Sachgrund befristeten Arbeitsverträge, eine Einschränkung von Praktika, die Gleichbehandlung der Leiharbeiter und die enge Begrenzung der Werkverträge.

Unsere Konzentration auf diese Beschwerdelisten hat allerdings einen Makel: Es ist die Hoffnung auf die Kraft von Gesetz und Gerichten. Sie aber regeln das, was die Arbeits- zur Sozialbeziehung macht, nur sehr ungenügend: auf dem Niveau eines Mindestmaßes. Eine Arbeit zum Stundensatz von 8,50 Euro und eine Rente von 850 Euro schützen zwar vielleicht vor Armut. Eine materielle Grundlage für ein gutes und gelingendes Leben sind sie nicht. Dass der Staat Mindestbedingungen setzt, der Markt jedoch den Rest regelt, ist der Traum aller marktradikalen Gegner des Sozialstaates.

Den schlechten Zustand der Arbeits- und Sozialgesetzgebung zu verändern, reicht demnach nicht aus. Es geht auch um die Gleichgültigkeit und den Konsumismus, der die Haltung der in Kategorien der Ökonomie gefangenen Mehrheit in Gesellschaft und Politik gegenüber dem Sozialstaat prägt. Der abgebrühte Realismus in unserer heutigen Zeit, dieser in der Finanzkrise wieder aufscheinende Traum von einem eisernen Zwang, die immer wieder aufblitzende Verachtung von Menschen bis hin zum Hass sind Zeichen, die zeigen, dass zu viele unter uns zu Kollaborateuren der Märkte und ihrer Macht geworden sind.

Wenn die Wende zum Besseren gelingen soll, müssen diejenigen, die den sozialen Fortschritt organisieren wollen, diesen kulturellen Bruch erkennen und damit eine viel schwerere Aufgabe annehmen, als die Ordnung von Arbeit und Rente durch das Gesetz herzustellen: "It's the society, stupid."

Stéphane Hessel hat uns mit seiner Kampfschrift Indignez-vous! dazu aufgerufen, uns über die Verhältnisse, unter denen wir leben, zu empören. Es ist ein gutes Zeichen, dass dieser Essay so breiten Anklang fand. Aber um Veränderungen herbeizuführen, braucht es die Begeisterung für eine bessere, eine solidarische Ordnung der Moderne und für ein erfolgreich selbstbestimmtes Leben. Das verträgt sich nicht mit Volksaktien, Aktienkultur und Riester-Renten.


Solidarität und Wohlstandsgebot

Damit gutes Leben gelingen kann, braucht es einen solidarischen Rahmen, kurzum einen Sozialstaat, der jedoch mehr ist als Staat. Er braucht Freunde, Anhänger und Begeisterung für alte und neue gemeinsame Ideen, die dann in Gesetzen und Verträgen ihren Ausdruck finden können.

Doch diese Anhänger werden seit Jahrzehnten seltener. Von 41 Millionen Erwerbstätigen sind noch 28 Millionen sozial versichert, es arbeiten je nach Zählung sieben, acht oder mehr Millionen zu Bedingungen nackter Ausbeutung. Gerade noch 4,5 Millionen arbeitende Menschen sind Mitglied einer DGB-Gewerkschaft, die Organisierten konzentrieren sich im industriellen Sektor, der mit ihm verwobenen Dienstleistungen, im öffentlichen Dienst oder der Pflege. War in Westdeutschland in den 70er Jahren der Lohnsatz von An- und Ungelernten in der Industrie die Referenzgröße für Frisöre, ist es heute vielerorts nicht einmal der Hartz IV-Satz.

Aus Begeisterung könnte Bewegung werden, die dann wiederum zu neuer Organisation führen könnte. Das ist die eigentlich zu bewältigende Aufgabe einer Politik, die dem Sozialstaat ein neues Gewicht, eine neue Kultur geben will. Das Ziel muss sein, die stille, manchmal wahrnehmbare Komplizenschaft mit dem Recht des ökonomisch Stärkeren zu beenden.

Das erfordert ein neues Wohlstandsangebot an die Gesellschaft. Es geht dabei ganz unbedingt um ein materielles Versprechen für Millionen. Und freilich meint Gerechtigkeit auch Gerechtigkeit in der Verteilung an Möglichkeiten der Entwicklung aller.

Der Weg dahin ist lang, steil und steinig. Denn die Erfahrung, die die Menschen in den vergangenen Jahren gemacht haben, ist ihr Wegdriften von der Mitte, die zunehmende Unmöglichkeit, ihr eigenes Leben zu planen, ihre Sorge um den Status Quo. Seit mehr als einem Jahrzehnt wächst eine ganze Generation mit der Erfahrung auf, mit ihren Talenten vor allem befristet, vor allem in Teilzeit, vor allem ausgeliehen oder gar umsonst gebraucht zu werden.

Sollen eine Neue Soziale Ordnung und eine neue Ordnung der Arbeit gelingen, müssen deswegen auch Parteien, Gewerkschaften und andere Organisationen, die dem Sozialen und der Gesellschaft wieder den Vorrang geben wollen, selbst Organisationen werden, die Begeisterung für den Sozialstaat leben. Der Lernprozess ist in vollem Gange, die Trendwende in der Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften kann Anlass für Hoffnung sein.

Das Gemeinsame ist freilich nicht mehr so einfach zu definieren wie zu Zeiten vorherrschender Industriearbeit. Es kommt darauf an, Solidarität in einer multipolaren Gesellschaft zu organisieren. Das zeigt sich am Beispiel der Arbeit. Arbeitszeit, Arbeitsort und die Tätigkeit selbst sind nichts, was sich für jeden Fall präzise formulieren lässt. Einen Zugang zu sozialer Sicherheit und Mitbestimmung kann es auch nicht nur mit einem Arbeitsverhältnis geben. Wie dieses Gemeinsame von der Vielfalt aus gestaltet werden könnte, wäre das Ergebnis eines spannenden Versuches von Politik. Die Chancen, dass dieser Fortschritt gelingen könnte, stehen gut und schlecht zugleich. Es gibt kein Gesetz, dass auf den Exzess des Privaten eine Welle von Demokratie und Solidarität folgt. In einer ganzen Reihe europäischer Länder folgt der gesellschaftlichen nun die politische Desintegration und Brutalisierung des Gesellschaftlichen. Die extreme Polarisierung, die Menschen, Schichten und Milieus auch in unserem Land Fremde hat werden lassen, wird nicht ohne Antwort bleiben.

Zu den Pessimisten zählen viele. Wolfgang Streeck etwa, Direktor des Max-Planck-Instituts für Sozialforschung, oder der französische Philosoph Marcel Hénaff. Streeck schreibt, der Markt habe die Demokratie besiegt, Hénaff sieht die menschliche Entwicklung durch Kredit und Zins an eine abstrakte Zukunft verkauft. Mit ihnen glauben zu Viele, dass es die Wirtschaft ist, die letztlich den Menschen beherrscht. Nein! It's the society, stupid.


Hilmar Höhn (* 1968) leitet die Verbindungsstelle des IG BCE-Hauptvorstandes in Berlin.
(hilmar.hoehn@igbce.de)

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2012, S. 44-47
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Januar 2013