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ARBEIT/526: Psychische Belastungen - Ursachen, Wirkungen, Maßnahmen (spw)


spw - Ausgabe 2/2013 - Heft 195
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Psychische Belastungen - Ursachen, Wirkungen, Maßnahmen

Von Olaf Struck



Der Wandel der Arbeitswelt erzeugt immer neue Herausforderungen für den Arbeits- und Gesundheitsschutz. Damit Beschäftigte über den Erwerbsverlauf hinweg arbeitsfähig bleiben, bildet die Gestaltung von Arbeitsbedingungen einen zentralen Ansatzpunkt. Auch wenn der Forschungsstand mit Blick auf kausale Zusammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen und Gesundheit im Einzelnen noch Lücken aufweist, lassen sich gleichwohl grundlegende Aussagen ableiten. So kann gezeigt werden, dass gesundheitliche Beanspruchungen u.a. auch eine direkte Folge belastender Arbeitsbedingungen sind. Soll ein gesundheitsförderliches Arbeiten in Unternehmen erreicht werden, dann sind insbesondere auch die Verhältnisse am Arbeitsplatz und arbeitsorganisatorische Strukturen zu verändern.


1. Veränderungen in der Arbeitswelt

Lange Zeit war Industrialisierung durch standardisierte Massenproduktion und Taylorisierung gekennzeichnet. Die Arbeitsprozesse waren kleinteilig gegliedert und in den Unternehmen bestanden hierarchische Strukturen und klare Arbeitsvorgaben. Gesundheitliche Beanspruchungen wurden vergleichsweise einfach und kausal auf Belastungsfaktoren wie Arbeitsstoffe, Lärm, Unfälle oder Körper-, Handhaltungen etc. am Arbeitsplatz zurückgeführt. Aufgrund der einfachen Zuordnung konnten gesetzliche Rahmenvorgaben oder Initiativen der Humanisierung der Arbeit gute Erfolge erzielen.

Schon in dieser Zeit waren Belastungs-Beanspruchungszusammenhänge aber durchaus auch umstritten. Ein Beispiel hierfür ist die Geschichte der schwierigen Anerkennungspraxis von Berufskrankheit bei Arbeitsplatzbelastungen durch Asbest oder ionisierende Strahlung. Zudem wird seit langem - vor allem in der Wissenschaft - auf das Problem einer mangelnden Anerkennung psychischer Belastungen etwa bei Emotionsarbeit oder arbeitsorganisatorischer Überbeanspruchung hingewiesen. Hierbei löst besonders die Frage, inwieweit vorrangig das individuelle Verhalten oder die Verhältnisse am Arbeitsplatz auf gesundheitsgefährdende Beanspruchungen wirken, Kontroversen aus. Ursächlich sind unterschiedliche Interessen auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Aber auch ein mangelndes wissenschaftliches Wissen, insbesondere zu langfristig wirkenden (z.T. zusammenwirkenden) und damit zu kausal kaum abzuleitenden Belastungen auf Arbeitnehmer tragen - damals wie heute - zu den Disputen bei.

Heute ist die Arbeitswelt für sehr viel mehr Menschen flexibler und insgesamt vielschichtiger geworden. Insbesondere psychische Belastungen entwickeln sich zu einem zunehmend Produktivität gefährdenden und kostenintensiven Massenphänomen. Aber auch wenn sich die heutige Arbeitswelt ebenso wie die Erkenntnisse über gesundheitliche Gefährdungen als komplexer als in der Vergangenheit darstellt, lassen sich zentrale Aussagen zu Ursachen und Folgen gesundheitlicher Beanspruchungen treffen und darauf basierende Handlungsvorschläge ableiten.

Technische Innovationen und arbeits- und unternehmensorganisatorische Neuausrichtungen ermöglichten es, kleine kundenspezifische Produktserien flexibel und kosteneffizient zu produzieren. Unter verschärften Wettbewerbsbedingungen und auf der Basis ausgebauter infrastruktureller, logistischer, sozialer und qualifikatorischer Standards haben sich Unternehmen in den wirtschaftlich und sozial entwickelten Industrieländern auf eine flexible und hochproduktive kundenspezifische Qualitätsproduktion ausgerichtet. Standardisierte Massengüter und Zulieferprodukte werden hingegen in "Billiglohnländern" produziert. So gelingt es Unternehmen in den entwickelten Zentren, ungeachtet hoher Investitionskosten, in eine multifunktionale Technik und hierauf abgestimmte Abläufe und Qualifikationen, auch bei hohen Löhnen und trotz vergleichsweise hohen Sozialstandards, erfolgreich und kostengünstig kundenspezifische Produkte und Dienstleistungen in kurzen Produktionsläufen auf volatileren Märkten anzubieten.

Eine hochproduktive kundenspezifische Qualitätsproduktion bedingt spezifische Formen der Arbeitsorganisation. Strenge Hierarchien und zentralisierte Anweisungs- und Entscheidungssysteme verlieren an Bedeutung. Vermarktlichung innerbetrieblicher Prozesse, Dezentralisierung von Entscheidungen, Zielvereinbarungen, horizontale Kommunikationswege, Projekt- und Teamstrukturen sowie Aufgabenzuwachs (etwa Vertriebs- und Reparaturtätigkeit und Mitarbeit bei der Produktentwicklung etc.) gewinnen an Bedeutung. Auf diese Weise versuchen Unternehmen, schneller auf Zuliefer- und Nachfrageveränderungen zu reagieren, um im Umfeld von gestiegener Konkurrenz und erhöhtem Innovationsdruck eine höhere Effizienz zu erzielen.


2. Veränderungen von Belastungen und Beanspruchungen

Diese veränderten Bedingungen flexiblerer Fertigungssysteme und die darauf neu angepasste flexiblere Arbeitsorganisation erhöhen die Anforderungen an Beschäftigte. Dabei kann ein höheres Maß an Möglichkeiten für Flexibilität und Mit- oder Selbstbestimmung über die Art, die Zeit und den Ort der Arbeitsverrichtung im Grundsatz die Chance von Selbstverwirklichung oder auch von freien zeitlichen Arrangements mit der Familie etc. erhöhen.

Aber: Das Primat von Effizienzsteigerung und Gewinnmaximierung unter Wettbewerbsbedingungen und die enge Abhängigkeit von Kundenbedürfnissen geben der ausgeweiteten Selbstorganisation und Mitbestimmung eine rigorose Zielrichtung vor. Damit kommt es erstens deutlich vermehrt zu "Übergriffen" von Arbeit auf Freizeit, vom Arbeits- auf den Wohnort etc.. Durch Systeme und die damit verbundene Datenverfügbarkeit sowie die ständige persönliche Erreich- und Verfügbarkeit sind diese Grenzübertritte noch intensiviert worden. Zweitens lassen sich Veränderungen der Rolle von anweisungsabhängigen Lohnarbeitnehmern hin zu unternehmerisch strategie- und effizienzorientierten Mitverantwortlichen z.T. mit erfolgsabhängiger Bezahlung beobachten.

Infolgedessen steigen erstens Qualifikationsanforderungen. Gefordert werden hohe und multifunktional einsetzbare Qualifikationen, wie sie in modernen Ausbildungsberufen und in Hochschulen vermittelt werden. Personen mit geringen Qualifikationen oder mit eng geschnittenen beruflichen Fertigkeits- und Fähigkeitsprofilen - wie sie sich auch heute noch zu häufig in Ausbildungsordnungen finden lassen - werden in standardisierten einfachen Tätigen ohne Chance auf eine stabile Beschäftigung eingesetzt.

Mit der Entwicklung verändern sich zweitens die gesundheitlichen Belastungen. Die "klassischen" körperlichen Belastungen haben sich bis in die 1990er Jahre hinein stetig verringert. Berechnungen anhand der Erwerbstätigenbefragung 2012 verdeutlichen jedoch auch, dass sich diese im Vergleich zu Ergebnissen vorheriger Befragungen auf einem immer noch beachtlichen Niveau eingependelt haben (Wittig u.a. 2013). Um nur zwei Beispiele zu nennen: Etwa 24 Prozent Männer und ca. 22 Prozent Frauen in Vollzeitbeschäftigung geben an, häufig schwere Lasten zu heben oder zu tragen, wobei 2/3 dieser Personen dies als belastend empfinden. Etwa 50 Prozent der Beschäftigten berichten von häufigen Schmerzen im unteren Rückenbereich während oder direkt nach der Arbeit. Davon wiederum waren mehr als ein Viertel der Betroffenen in den letzten 12 Monaten in ärztlicher Behandlung. Gut 30 Prozent der Vollzeit beschäftigten Männer und knapp 20 Prozent der Frauen arbeiten häufig bei Lärm, wobei etwa die Hälfte der Betroffenen (Männer etwas weniger, Frauen etwas mehr) angeben, dies als belastend zu erleben. Immerhin gut 8 Prozent der 25-34jährigen, knapp 13 Prozent der 35-44jährigen und etwa 20 Prozent der über 44jährigen berichten über Hörverschlechterung und/oder Ohrgeräusche während oder direkt nach der Arbeit. Etwa ein Drittel dieses Personenkreises befand sich deshalb in den letzten 12 Monaten in ärztlicher Behandlung (ebd.).

Auch körperlich wirkende Belastungen können psychisch beanspruchend wirken. Zugenommen haben jedoch psychische Belastungen und psychische Erkrankungen. Bestehen für eine hohe übertragene Verantwortung oder hohe selbstgesteckte Ziele keine hinreichenden Mittel zu ihrer Bewältigung, dann sprechen wir von Stress - messbar etwa anhand von Cortisol-, Adrenalin-, Noradrenalinausschüttung, Unruhe oder Angst. Gut 50 Prozent der Beschäftigten berichten von häufigem Zeit- und Termindruck während der Arbeit (Lohmann-Haislah 2012). Hält etwa diese Belastung längerfristig an und erhalten diese Beschäftigten zugleich keine oder zu geringe Unterstützung oder Hilfeleistungen von Vorgesetzen oder Kolleginnen und Kollegen - letzteres betrifft immerhin 10 Prozent der Beschäftigten (ebd.) - dann führen derartige Konstellationen von Dauerstress zu Erschöpfung, Bluthochdruck, koronarer Herzkrankheit (Kivimäki et al. 2012) bis hin zu depressiven Störungen (Rau et al. 2010).

Ebenso wie bei körperlichen Belastungen trainiert auch psychische Belastung den Organismus. Sind aber die Belastungen von zu langer Dauer oder zu hoch, dann werden Anpassungsmechanismen überfordert, das Widerstands- und Regenerationsvermögen des Organismus bricht zusammen. Hier ist es dann auch in Phasen, in denen keine akute Belastung vorliegt, nicht mehr möglich, auf ein normales Ruheniveau zurückzukehren. Schlafstörungen oder muskuläre Anspannungsreaktionen tragen zu weiteren Überbeanspruchungen, ggf. bis zu einer totalen Erschöpfung, bei.


3. Hohe Arbeitsbelastungen können psychisch überfordern

Ursachen und Folgen gesundheitlicher Beeinträchtigungen sowie Möglichkeiten der Regeneration hängen immer auch von individuellen und sozialen Faktoren jenseits der Arbeitswelt ab. Hierauf weisen u.a. Arbeitgeberverbände insbesondere mit Blick auf psychische Beanspruchungen immer wieder mit Nachdruck hin (BDA 2005; BDA/ VDRW 2012).

Richtig ist: Personen mit einem stabilen Selbstwertgefühl, hoher Widerstandsfähigkeit und einem nicht zu hohen Perfektionsverlangen sind vergleichsweise stressresistenter als unsichere Personen, die zudem versuchen eine hohe Perfektion zu erzielen. Dabei werden Anforderungen an Arbeitnehmer dann zu einer ernsthaften Gefährdung, wenn diese nicht in der Lage sind, bzw. sich nicht in die Lage versetzt sehen, sich selbst und anderen Grenzen zu setzen (Burisch 2006). Jedoch sind eben diese Grenzen ungünstigerweise genau gegenüber jenen Vorgesetzen, Kollegen und Kunden zu ziehen, die für Überbeanspruchungen mitverantwortlich sind und die zugleich auch Anerkennung und Karriere fördernde oder hindernde Bewertungen vornehmen - sei es formell über Zielvereinbarungen oder Evaluationen etc., sei es informell über den zu Grenzziehung bereiten Arbeitnehmer. Keinesfalls nur eher "unsichere" Personen oder "Perfektionisten", die mit hoher Leistungsbereitschaft nach Anerkennung streben, geraten in Anbetracht der Gefahr, ihr Ansehen oder sogar ihre Anstellung zu verlieren, in ein Dilemma, das sich individuell nicht lösen lässt.

Wahr ist auch, dass stabile soziale Beziehungen und Hobbys geeignet sind, psychische Überbeanspruchungen im Arbeitsleben zu vermeiden, etwa weil sie Zeit jenseits der Arbeitswelt einfordern, binden und strukturieren. So ist z.B. die Wahrscheinlichkeit als unverheiratete Person zu erschöpfen größer als bei verheirateten Personen (Weber et al. 2000).

Doch unabhängig davon lassen sich auch direkte Zusammenhänge zwischen psychischer Arbeitsbelastung und psychischer Erkrankung nachweisen (vgl. zu folgendem auch Hien 2010). In großen, sorgfältig durchgeführten Untersuchungen wird gewissenhaft zwischen arbeitsbezogenen und privaten Ursachen unterschieden. Dabei zeigt sich, dass bei Personen, die bei der Erstbefragung hohen Anforderungen ausgesetzt waren und einen geringen Handlungsspielraum hatten, ein etwa 60 Prozent erhöhtes Risiko auftrat, während der nächsten 7 Jahre eine schwere Depression zu erleiden. Bei anhaltenden Belastungen steigt das Risiko auf das 3,2-fache. Kommt ein fortgesetzter Mangel an sozialer Unterstützung hinzu, dann erhöht sich das Risiko auf das 5,8-fache (Clays et al. 2007). Zu vergleichbaren Ergebnissen kommen Wang et al. (2012). Sie können zeigen, dass Arbeitsbelastungen in deutlich gewichtigerem Maße die Wahrscheinlichkeit depressiver Erkrankungen erhöhen, als etwa familiäre Konflikte oder der familiäre Status etc. Hoher Arbeitsstress erhöht das Depressionsrisiko um das 2,9-fache. Ein Ungleichgewicht zwischen Verausgabung und Anerkennung erhöht dieses Risiko um das 2,8-fache. Auch Konflikte durch "Übergriffe" von Arbeit auf Familie wirken sich krankheitsverstärkend aus. Zweifellos beinhalten evtl. bestehende private Belastungen wie Scheidung, finanzielle Krise etc. sowie auch psychische Vorerkrankungen Risikopotentiale. Wichtig ist aber, dass Wirkungen arbeitsbezogener Belastungen auch bei umfänglicher Kontrolle privater und individueller Risikofaktoren bestehen bleiben (ebd., Stansfeld et al. 2008). Damit unterstützen die Großstudien die Befunde der zahlreichen kleineren Erhebungen.

Dies gilt noch einmal mehr für Arbeitnehmer, die sich ihrer Beschäftigung nicht sicher sein können, sei es, weil sie befristet ohne Übernahmeversprechen oder in Zeitarbeit tätig sind, oder sei es, dass die Lage des Betriebes als schlecht eingeschätzt wird oder der eigene Arbeitsplatz aus anderen Gründen nicht sicher erscheint usw. (Virtanen et al. 2005). Diese Beschäftigten sehen sich - in der Hoffnung auf einen Übergang in eine Anschlussbeschäftigung - vielfach einem erhöhten Leistungsdruck ausgesetzt.

Insgesamt erfordert ein angemessener Umgang mit psychisch erlebten Überforderungen nicht nur die individuelle Befähigung und Bereitschaft von Arbeitnehmern zum Umgang mit Zeit-, Termin- und Leistungsdruck, Verantwortung und Entscheidungsrisiken u.ä., sondern er erfordert vorrangig organisatorisch verankerte Strukturen, die Überlastungssituationen vermeiden.


4. Was tun gegen psychische Belastungen

In der Forschung herrscht große Einigkeit darüber, dass insbesondere zusammenwirkende verhaltens- und verhältnisbezogene Maßnahmen gesundheitsförderliche Wirkung entfalten (Sockoll et al. 2008). Die in der Praxis - nicht zuletzt aus Kostengründen - vorrangig anzutreffenden Interventionen, die sich auf einzelne Personen richten, sind geeignet, Symptome zu mindern. Allerdings sind die Wirkungen häufig von begrenzter Dauer, da sie die Veränderung der verursachenden Quellen vernachlässigen. Sinnvoll ist eine vorausschauende und langfristig wirkende Gestaltung des Arbeitsumfeldes. Dabei weisen sowohl zahlreiche Studien, wie auch die theoretischen Grundlagen der Arbeitswissenschaft einhellig darauf hin, dass insbesondere vollständige, beeinflussbare und zumutbare Arbeitsvollzüge, welche die Menschen weder über- noch unterfordern und die neben der Arbeitsausführung auch Partizipation und Planung, Transparenz, Rückmeldungen und Unterstützung einschließen, gesundheits- und lernfördernde Handlungsstrukturen erzeugen. Diese sind dann einzubetten in zeitliche Strukturen, die eine Trennung von Arbeit und Freizeit, eine Organisation von zeitlichen Puffern sowie eine Verhinderung regelmäßiger Überstunden sicherstellen.

Schon derzeit bietet insb. das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) Möglichkeiten, Arbeitgeber zu verpflichten, Verbesserungen auch des psychischen Gesundheitsschutzes durch erforderliche Maßnahmen des Arbeitsschutzes, einschließlich Gefährdungsbeurteilung und Wirksamkeitsprüfung, anzustreben. Die Maßnahmen haben dabei Stand der Arbeitsmedizin und der Arbeitswissenschaften zu berücksichtigen. Allerdings sind hinsichtlich psychischer Belastungen Gesetze und Verortungen deutlich unpräziser als etwa im Falle von Arbeitsstoffen, Maschinen etc. Indem gesetzliche Regelungen und Verordnungen sehr unkonkret und unübersichtlich geregelt sind, werden in der Praxis psychische Arbeitsbelastungen deutlich seltener erfasst (Ahlers 2010). Arbeitgeber, aber auch andere Akteure, die über den Arbeitsschutz wachen, sehen sich vielfach nicht in der Lage, und Arbeitgeber vielfach auch nicht in der Pflicht, psychosozialen Risiken vorzubeugen.

Offenbar bedarf es zur Beurteilung und Gestaltung psychischer Belastungen eines verbindlicheren Regelwerkes, wie es für physische Belastungen vorliegt. Hierfür wäre es erstens förderlich, psychische Gesundheitsgefahren insbesondere in die Begriffsbestimmung in Paragraph 2(1) ArbSchG sowie in die Gefährdungsbeschreibung der präventiven Regeln in Paragraph 4 ArbSchG aufzunehmen. In Paragraph 5(3) sind zudem die Gefährdungen durch die Arbeitsaufgabe und durch soziale Bedingungen zu ergänzen. Die knapp formulierten Gesetzesnormen sind wichtig. Gleichwohl bedürfen sie zweitens der weiteren Konkretisierung etwa durch Verordnungen und technische Regeln. Diese haben den Vorteil, dass sie konkreter, ausführlicher und entsprechend verständlicher die Rechte und Pflichten der Akteure, die Kriterien und Maßnahmen der Gefährdungsbeurteilung und der entsprechenden gesundheitsförderlichen, organisatorischen Gestaltung der Arbeitsaufgabe und der Arbeitszeit sowie der (sozialen) Umgebungsbedingungen etc. festlegen können. Indem gesundheitlich (ebenso wie lern-)fördernde Handlungsstrukturen, technische und insbesondere organisatorische Voraussetzungen haben, sind diese möglichst frühzeitig - und ggf. unter Einbezug von Experten - bei der Planung einzubeziehen.

Viele Akteure am Arbeitsmarkt, in der Forschung und im Gesundheitssystem wissen um die Ursachen und die individuell beeinträchtigenden aber zugleich auch kostenintensiven Folgen psychischer Beanspruchungen. Auf europäischer Ebene und in vielen Nachbarstaaten konkretisieren sich Regelungen, um psychischen Arbeitsbelastungen entgegenzuwirken. In Deutschland hat die IG Metall eine Initiative zur Ergänzung des Arbeitsschutzgesetzes und zur Durchsetzung einer so genannten "Anti-Stress-Verordnung" gestartet, die wichtige Erkenntnisse aus Forschung und Praxis aufnimmt. Hier handelt es sich um wichtige Schritte zu einer Fortentwicklung von Maßnahmen und konkretisierenden Regeln, um die Herausforderungen in einer sich stetig verändernden Arbeitsgesellschaft zukunftsfähig zu gestalten.


Olaf Struck ist Professor für Arbeitswissenschaft an der Universität Bamberg.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2013, Heft 195, Seite 18-23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2013