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ARBEIT/537: Reisebericht durch Bangladesch - Aus der Vorhölle der globalen Wertschöpfung (spw)


spw - Ausgabe 4/2013 - Heft 197
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Aus der Vorhölle der globalen Wertschöpfung
Ein Reisebericht durch Bangladesch, ein paar Wochen nach dem Kollaps des Rana Plaza

Von Thomas Seibert



Jahrelang kam es in Südasiens Textilfabriken zu Unfällen mit drei, fünf oder fünfzehn Toten, ohne dass die KäuferInnen der Jeans oder T-Shirts davon erfuhren. Heute wissen wir, wie teuer andere bezahlen, was wir billig erwerben. Wir wissen das in der Folge dreier großer Tragödien. Den Anfang machte Pakistans "Industrial 9/11", September 2012, als in der 20-Millionen-Metropole Karatschi 300 Menschen bei lebendigem Leib verbrannten. Die Weltmarktfabrik Ali Textiles arbeitete ausschließlich auf Rechnung des deutschen Discounters KiK. Am 24. November 2012 verbrannten in Ashulia/Bangladesch wiederum über 100 ArbeiterInnen von Tazreen Fashions, einem Unternehmen im Dienst von C&A, Dickies, Disney, Edinburgh Woollen Mills, El Corte Ingles, Enyce, Karl Rieker, wieder KiK sowie Li & Fung, Sears/Kmart, Teddy Smith und Walmart. Am 24. April diesen Jahres folgte dann der Zusammenbruch des neunstöckigen Fabrikkomplexes Rana Plaza in Savar, der Zwillingsstadt von Ashulia. Zugunsten der Geschäftsbilanzen von Benetton, Bon Marche, Camaieu, Cato Fashions, Children's Place, Cropp, wieder El Corte Ingles, Joe Fresh, wieder KiK, Mango, Manifattura Corona, Matalan, Premier Clothing, Primark, Texman und wieder Walmart starben jetzt über 1100 ArbeiterInnen, mehr als 2500 wurden verletzt. Schnelle Antworten sind da nicht zu haben, aber erste Aufklärung kann geleistet werden: Einblicke in das Leben der NäherInnen, in ihr Elend und in ihre Versuche, sich zu wehren. Vor dem Hintergrund dessen, dass jedeR von uns pro Jahr durchschnittlich 40 bis 70 Kleidungsstücke kauft.

Gleich am frühen Morgen nach unserer Ankunft in Bangladesch machen der Fotograf Gordon Welters und ich uns auf den Weg nach Savar und Ashulia, 40 Kilometer nordwestlich der 14-Millionen-Metropole Dhaka. In der Zwillingsstadt gibt es nichts außer den meist mehrstöckigen Textilfabriken, den ärmlichen Wohnvierteln der ArbeiterInnen und den Straßenmärkten, auf denen sie sich mit Lebensmitteln und billigen Plastikwaren versorgen. An der Hauptstraße Savars stand noch vor sieben Wochen das Fabrikhochhaus Rana Plaza mit Shoppingmall und Bank im Erdgeschoss. Am 23. April 2013 wurden am ganzen Gebäude tiefe Risse entdeckt, die Behörden ordneten die Evakuierung an, die Angestellten der Bank brachten umgehend Mobiliar, Computer und Geldreserven in Sicherheit. Die Chefs der Textilfabriken aber zwangen ihre Angestellten zur Arbeit, drohten mit Entzug des Lohnes.

Am nächsten Morgen unterbrach ein Stromausfall den Betrieb, sofort sprang auf jedem der Stockwerke ein wuchtiger, dieselgetriebener Notstromgenerator an. Das Gebäude hielt der Vibration nicht stand, Sekunden später lagen die neun Stockwerke eins auf dem anderen, "wie ein Sandwich", sagt uns ein Augenzeuge.

Fast einen Monat lang gruben freiwillige Helfer, dann Rettungsmannschaften schmale Stollen in den Schuttberg, schleppten Verletzte und Leichen aus den Trümmern. Die letzte Überlebende wurde am 17. Tag nach dem Kollaps befreit, etwa 300 Menschen gelten noch immer als vermisst.


Geraubte Zukunft

Unsere erste Station ist das Nationale Orthopädische Hospital in Dhaka. Hier werden jetzt noch siebzehn Patientinnen und Patienten betreut. Den meisten wurden ein oder zwei Gliedmaßen, Arme, Beine, Hände oder Füße amputiert, manchen noch während der Bergung, ohne Betäubung, mit Metallsägen oder Fleischermessern, weil man sie anders nicht befreien konnte. Die ÄrztInnen mussten die Notoperationen chirurgisch korrigieren, oft lebensrettende Wundbrandbehandlungen vornehmen.

Die Luft ist stickig und vom Lärm der Ventilatoren, von vereinzeltem Weinen oder Gewimmer, vom Klingeln der Handys erfüllt. Die meisten sind gerade mal zwanzig Jahre alt, junge Frauen und Männer, die zutiefst verstört noch immer nicht verstehen, was ihnen widerfuhr. Viele von ihnen sind erst vor wenigen Jahren, manche erst vor wenigen Wochen nach "Greater Dhaka Area" gekommen, weil es im ländlichen Bangladesch für sie wie für Millionen andere keine Zukunftsperspektive mehr gab. Die Plackerei bei Rana Plaza, das wussten sie schon nach ein paar Tagen, war zwar noch härter als die elende Fronarbeit auf dem Land. Doch gibt es in Savar und Ashulia wie in den Industriegebieten der Hauptstadt Schulen, auf die sie ihre Kinder schicken wollten: das, so hofften sie, wäre der Gewinn ihres Gangs in die Stadt. Jetzt wird kaum jemand von ihnen wieder arbeiten, einen Partner oder eine Partnerin finden, Kinder haben können.

Das eng umschlungene Paar im ersten Bett ist ein Geschwisterpaar. Shirina, 20, wurden beide Beine zerschmettert, infolge des Blutverlusts versagten ihre Nieren, sie wird immer schwer krank bleiben. Imamul, 26, tröstet die Schwester auch wegen ihres Ehemannes, der sie bereits wenige Tage nach der Rettung verlassen hat.

Rechts neben Shirina liegt Rabia, sie ist etwas älter, wurde drei Stunden nach dem Unglück geborgen. Die Mutter von zwei Jungen und zwei Mädchen erlitt mehrfache Brüche an beiden Beinen, sechs gebrochene Rippen verursachen bei jedem Atemzug starke Schmerzen. Ihr zur Seite sitzt ihr Mann Mamun, ein Drucker. Die Familie lebt in Savar, ihr größtes Glück ist die älteste Tochter, die sich gerade zum Studium eingeschrieben hat.

Beiden gegenüber das Bett von Rebecca, 23, auch sie von ihrem Bruder betreut, dem Straßenhändler Emdi. Sie wurde zwei Tage nach dem Zusammenbruch befreit, die Retter mussten ihr das rechte Bein und den linken Fuß amputieren. Auch die Mutter der beiden Geschwister war Arbeiterin im Rana Plaza, sie kam ums Leben.

Schließlich bleiben wir noch am Bett Roginas stehen, heute wie jeden Tag harrt ihr Mann Paramja neben ihr aus. Der 23jährigen Arbeiterin wurden beide Beine zerschmettert, sie erlitt eine Fraktur des Schlüsselbeins. Zwei Tage war sie verschüttet, die Wunden an den Beinen haben sich entzündet, der Wundbrand ist noch immer nicht verheilt.

Wir verabschieden uns, versprechen, ihre Geschichten bei uns bekannt zu machen und setzen unsere Fahrt fort. In Savar angekommen, besuchen wir zunächst ein zweites Krankenhaus, das Enam Medical and College Hospital. Das Gebäude liegt unweit des Rana Plaza, hier wurde die Mehrzahl der Überlebenden versorgt, 1746 ArbeiterInnen. 1000 konnten bald wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden, am Tag unseres Besuchs werden noch 14 Patientinnen und Patienten betreut. In den ersten Tagen und Nächten leisteten Ärzte, Pflegepersonal und Studierende ununterbrochen Dienst. Bald fehlende Medikamente und Verbandmaterial lieferten umliegende Apotheken, ungezählte Menschen brachten Lebensmittel oder Kleidung und spendeten dringend benötigtes Blut.

Wir treffen Shahinur, 21, ihr wurde ein Bein amputiert, sie wird gerade von ihrer ganzen Familie besucht. Das Bett daneben gehört Pakhi, 30, Mutter zweier Kinder. Bei der Bergung am zweiten Tag wurden ihr mit einer Eisensäge beide Beine amputiert. Der halbe Raum sieht zu, als die Mutter die Tochter im Bett dreht, den Kopf an die linke Bettkante zieht und eine Plastikmatte unterlegt, um ihr das Haar zu waschen. Pakhi, die sich zuvor vor Schmerzen wand, bleibt nichts zu tun, als sich der Hilfe der Mutter zu ergeben: jetzt und für den Rest ihres Lebens.


Am Rana Plaza

Nach kurzer Weiterfahrt sind wir am Ziel. Von dem Fabrikhochhaus mit Shoppingmall blieb nur noch eine Grube, die sich langsam mit Wasser und Abfällen füllt. Auf ihrem Grund liegen drei Autos, die am Tag des Zusammenbruchs in der Tiefgarage standen, platt gedrückt, als ob sie in eine Schrottpresse geraten wären. Die Außenwände der Nachbargebäude wurden von innen aufgebrochen, von hier gruben sich die ersten Retter in den Schuttberg. "Die Leute schrieen um ihr Leben, schrieen vor Schmerzen und vor Angst, flehten uns an, sie rauszuholen", sagt ein Augenzeuge. "Ununterbrochen klingelten Handys, wer sein Gerät bedienen konnte, rief Verwandte und Freunde an, die riefen zurück, das ging so weiter, bis die Akkus leer waren." Der Mann bricht ab, lässt uns stehen, verliert sich im Gewühl. An den Stacheldraht, mit dem die Grube zur Straße hin abgesperrt wird, haben Gewerkschaften schwarze und rote Transparente mit Losungen der Trauer und der Wut geknüpft. Davor verharren noch immer PassantInnen, sehen bedrückt in die Grube. Andere haben auf längst zerknitterten DIN-A-4-Blättern Bilder vermisster Verwandter aufgeklebt, bitten, ihnen bei der Suche nach Vater, Schwester oder Tochter zu helfen.

Wir treffen AktivistInnen einer Menschenrechtsorganisation, die sich den bündigen Namen Forschungsinstitut für soziale Gerechtigkeit gegeben hat: das englische Kürzel RISE ist mit "Erhebung", "Aufbruch", auch mit "Auferstehung" zu übersetzen. Sie haben für uns ein Treffen mit dreißig Rana Plaza-Überlebenden arrangiert. Auch von ihnen wurden viele verletzt, einige verloren oder vermissen engste Verwandte. Nilufar, 30, wurde erst am dritten Tag aus den Trümmern befreit, hat keine Erinnerungen an die Zeit, in der sie verschüttet war. Mumtaz, 35, hat sich am 24. April wie viele andere trotz schwerer Beklemmung an ihren Arbeitsplatz zwingen lassen, stand mehrmals unschlüssig auf, wurde genötigt, wieder Platz zu nehmen, traute sich nicht, zu gehen. Sie erlitt Verletzungen im Nacken und am Rücken, leidet ständig unter schweren Schmerzen. Shapna, 18, wurde erst am vierten Tag gerettet. Während dieser Zeit lag sie mit mehreren anderen unter dem Schutt, blut-, kot- und urinverschmiert Leib an Leib. Eine nach der anderen starb, eine einzige Kollegin wurde mit ihr geborgen. Shurima, 30, wurde der linke Fuß amputiert, ihr Mann ist herzkrank und arbeitslos, sie muss sich nicht nur um ihn, sondern auch um seine Mutter kümmern. Kairul, 24, wurde unter einer Wand begraben, zeigt uns Narben an Rücken und Armen. Er kann sich jetzt nur sehr langsam und nur unter Schmerzen bewegen.

Alle sind ohne Anstellung, einige wollen nie mehr in einer Fabrik arbeiten, eine Frau wird von Panikattacken gequält, sobald sie ein größeres Gebäude betritt. Wer eine oder einen Toten als nahen Verwandten identifizieren konnte, bekam einen staatlichen Scheck von 20.000 Thaka, umgerechnet 200 Euro. Zwei hier im Raum erhielten zusätzlich einen Scheck der Ministerpräsidentin Sheikh Hasina über 100.000 Thaka. Niemand weiß, ob es weitere Zahlungen, ob es weitere Entschädigung geben wird. Niemand im Raum spricht aus, was auf der Hand liegen sollte: dass die Menschen hier nicht einfach Hilfe brauchen, sondern dass sie ein Recht auf Entschädigung haben, ein Recht wenigstens auf den finanziellen Ausgleich dessen, was in ihrem Leben nie wieder gutzumachen ist.


Von Rana Plaza nach Tazreen Fashion

Gerade deshalb nimmt dieses Elend, dieses ungeheuerliche Unrecht auch uns in die nicht zu erfüllende Pflicht. Denn die Auftraggeber von Rana Plaza - wie die von Tazreen Fashions, Ali Enterprises und ungezählten anderen Weltmarktfabriken - betreiben ihre Läden in den Fußgängerzonen deutscher Städte. Einige haben jetzt ein Abkommen zur Arbeits- und Gebäudesicherheit unterzeichnet, ihr erstes Zugeständnis überhaupt. Eine freiwillige Verpflichtung ohne Gesetzeskraft, immerhin unter Einbindung von Gewerkschaften. Es gilt für Bangladesch, aber nicht für Pakistan, enthält kein Wort über die Missachtung der ArbeiterInnenrechte, Löhne unter dem Existenzminimum, tägliche Überstunden, über fehlende Gesundheits- oder Altersversorgung, die gewaltsame Unterbindung gewerkschaftlicher Betätigung. Kein Wort zu der erbarmungslosen Konkurrenz, die den Produzenten in Asien von den Einkäufern aus Europa oder den USA aufgezwungen wird: eine Konkurrenz, die in den Chefs von Rana Plaza die Verbrecher fand, ohne die sie nicht funktionieren würde.

Wir sind mit unseren Fragen gerade am Ende, als unser Handy klingelt. Safia Pervin, Sekretärin der Textilgewerkschaft National Garment Workers Federation (NGWF), teilt uns mit, dass KollegInnen von ihr uns jetzt in Ashulia erwarten, an der Ruine von Tazreen Fashion. Der ebenfalls neunstöckige Betonriegel brannte am 24. November 2012 aus, 117 Menschen starben, 300 glaubten, sich nur durch den Sprung ins Brackwasser einer benachbarten Baugrube retten zu können. Einige kostete gerade dieser Sprung das Leben.

Wir fahren sofort los, sind eine halbe Stunde später drüben. Das Fabriktor ist mit schweren Ketten verschlossen, es riecht nach Abfall - und noch immer nach Brand. Die NGWF-KollegInnen führen uns an die Rückseite des Gebäudes, wo wir in schwarzumrandete Fensterhöhlen starren, deren Vergitterung sich durch die Brandhitze verbogen hat. "Für einen Moment", sagt ein Gewerkschafter, "sah man im dritten Stock winkende Hände, dann nur noch Flammen und Rauch."

Ein paar Schritte weiter und wir stehen an der mit Brackwasser gefüllten Baugrube. Man erzählt uns von den Stunden nach dem Löschen des Brandes, als man begann, vor der Fabrik die Plastiksäcke mit den geborgenen Leichen aufzubahren. "Wir hielten uns Tücher vors Gesicht", sagt uns ein junger Mann, der seine Frau unter den Toten wieder fand. "Es waren die Menschen, die wir liebten. Doch der Gestank des verbrannten Fleisches war nicht zu ertragen."

Die Gewerkschafter führen uns um das Gebäude herum zum Ortsbüro der NGWF. Drinnen warten 20 jungen Frauen und Männer, ehemalige Beschäftigte von Tazreen Fashion. Noch während wir uns vorstellen, fällt der Strom aus, wir sitzen im Dunkeln, zwei Taschenlampen machen wenigstens die Person sichtbar, die gerade das Wort ergriffen hat.

Die Leute erzählen von ihren Verletzungen, vom Tod von Freunden und Verwandten, dann vom Alltag vor dem Brand. Zur Kernarbeitszeit von acht bis fünf Uhr kamen fast täglich bis zu sechs Überstunden hinzu. Gearbeitet wurde sechs Tage die Woche, bezahlten Urlaub gab es nicht. Die Überstunden eingerechnet, lag der Lohn mit knapp 50 Dollar trotzdem unter der Armutsgrenze von zwei Dollar täglich. Wie überall stand auch in Tazreen Fashion Nähmaschine an Nähmaschine auf wackligen Einbautischen, der Lärm war ungeheuer, die stickige Luft von Textilfasern gesättigt. Die Fasern waren ein Grund dafür, dass es immer wieder zu Bränden kam: sie setzten sich auch auf den an vielen Stellen blanken Stromkabeln ab, die kreuz und quer durch den Raum führten. Bangladeschs Textilindustrie arbeitetet fast ausschließlich auf Rechnung internationaler Unternehmen, als Zulieferer der globalen Einkaufsketten stets von der letzten Order aus den USA oder Europa abhängig. Die aber besagt immer nur eines: billiger werden, flexibler sein.

Die Familien stehen jetzt vor dem Nichts, einigen droht bereits die Kündigung des meist nur einen Raumes, in dem sie zu fünft, sechs oder acht wohnen: Eltern, Kinder, Schwiegereltern. Immerhin gab es vereinzelte freiwillige Zahlungen. Caritas Bangladesh hat im Auftrag von C&A monatlich Unterstützungsgeld gezahlt, jetzt aber wissen lassen, dass es mehr nicht geben wird. Bangladeschs Textilunternehmerverband hat einige Arzt- und Operationskosten übernommen. Auch bei Tazreen Fashion erhielt niemand eine Zusage für weitere Zahlungen - obwohl allein hier im Raum mehreren Personen metallene Nägel oder Platten implantiert wurden, die wieder herausoperiert werden müssen.


Workers Unity Council, Dhaka, Topkhana Road

Zurück in Dhaka gehen wir ins Hauptbüro der NGWF an der Topkhana Road. Davor versammeln sich nach und nach 80 Männer und Frauen, die Transparente, rote Fahnen mit dem Frauenzeichen und die grün-rote Flagge Bangladeschs tragen. Der kleine Demonstrationszug setzt sich in Bewegung und endet schon nach wenigen hundert Metern am Verbandslokal der Journalistenvereinigung. Hier warten 20 Reporter und Fotografen, wir verstehen, dass wir einer dramatisch inszenierten Pressekonferenz beiwohnen. Amirul Haque Amin, Präsident der NGWF, spricht vom Recht auf Entschädigung, auf würdige Arbeits- und Lebensbedingungen, auf freie Organisation. "Wenn weiter nichts geschieht, werden wir uns die Straßen von Dhaka, Savar und Ashulia nehmen, und wir werden bleiben." Es ist dies keine leere Drohung. Zwei Tage nach dem 24. April zogen Hunderttausende durch die Straßen. Sie konnten erst nach Stunden auseinandergetrieben werden, durch Unmengen von Tränengas und unter brutalem Schlagstockeinsatz. Dhaka erlebt pro Jahr einen oder zwei solcher Ausbrüche, die Fahnenstangen der Gewerkschafter messen nur knapp mehr als einen Meter, das dient der Selbstverteidigung.

Zurück im Büro setzen wir uns mit Amin und den Vorsitzenden von vier anderen Gewerkschaften um den Tisch des Ladenlokals, das den Mitgliedern der NGWF als Anlaufstelle dient. Um mit einer Stimme sprechen zu können, haben die Gewerkschaften das Workers Unity Council gebildet, den "Rat der Arbeitereinheit". Amin räumt unverblümt ein, dass der Titel eher beschwört, was er zu realisieren vorgibt. Tatsächlich gelingt es den Gewerkschaften nicht, die nur gelegentlich aufwallende Empörung von Hunderttausenden in organisierten Widerstand zu überführen. "In den 1950er Jahren hatte Dhaka 500.000 EinwohnerInnen, der Großteil der heute 14 Millionen ist in den vergangenen 60 Jahren zugewandert", sagt Amin. "Das schnelle Wachstum der Textilindustrie hat diesen irrwitzigen, ungeplanten und auch gar nicht zu planenden Prozess noch einmal beschleunigt: der Textilsektor beschäftigt 3,5 Millionen Menschen, vom Wohl der rund 4000 Fabriken hängen insgesamt 20 Millionen ab. Doch weniger als ein Prozent der ArbeiterInnen ist gewerkschaftlich organisiert, die NGWF schließt noch keine 40 Betriebsgruppen zusammen. Gelingt es uns, in einem Betrieb als Verhandlungspartner anerkannt zu werden, sind wir per Gesetz gezwungen, der Geschäftsführung die Namen unserer Mitglieder zu nennen. Das gehört zum Kalkül der internationalen Auftraggeber: eine willige Arbeitskraft, schwache Solidarstrukturen, ein Staat, der auch dann kaum eingreifen könnte, wenn er nicht so korrupt wäre."

Das heißt nicht, dass es keine Perspektiven gibt - im Land selbst wie entlang der globalen Wertschöpfungskette. Das Brandschutzabkommen, wie unzureichend es auch immer ausgefallen ist, geht auf die jahrelange Wühlarbeit der internationalen Kampagne für Saubere Kleidung zurück und wurde von der ebenfalls internationalen Gewerkschaftsallianz IndustriALL ausgehandelt. Auf Einladung der Allianz wird es Mitte August erstmals Verhandlungen zur Frage der Entschädigung geben. Teilnehmen werden daran immerhin einige der Auftraggeber - andere, prominent etwa der US-Gigant Walmart, habe jede Verantwortung zurückgewiesen.

Der auf die starke Linke der 1970er Jahre zurückgehenden Gewerkschaftsbewegung stehen AktivistInnen wie die der Menschenrechtsorganisation RISE zur Seite, die aus der jungen Generation der erst in den letzten zwei Jahrzehnten entstandenen Mittelklasse stammen. Ihr politisches "Coming out" hatte diese Generation gerade in diesem Jahr, in der nach einem Stadtteil Dhakas benannten "Shahbag"-Bewegung. Wie in Kairo oder Tunis kam auch diese Bewegung auf Initiative einiger Blogger zusammen und brachte quasi über Nacht 500.000 Menschen auf die Straße. Ihr über Tage und Wochen aufrechterhaltener Protest galt in ihren Augen zu milden Urteilen in Prozessen zu Kriegsverbrechen, die im Unabhängigkeitskrieg des Jahres 1971 begangen wurden. Der politische Punkt daran gilt allerdings nicht nur einem historischen Geschehen: die Angeklagten des Tribunals, damals Verbündete der pakistanischen Armee, sind heute Führungspersonen des organisierten Islamismus, der in den letzten Jahren auch in Bangladesch zunehmend an Einfluss gewann.

Obwohl sie einen gemeinsamen Gegner haben, sind Berührungen zwischen der "alten" Linken und den Demokratieprotesten der Jugend bislang sporadisch geblieben - während der Shahbag-Demonstrationen sammelten die AktivistInnen Geld für die Überlebenden von Rana Plaza. Nicht anders als Amin insistiert deshalb auch Tunazzina Sahaly von RISE zuerst auf der eigenen Schwäche: "An der Aushandelung des Brandschutzabkommens haben bangladeschische Menschenrechts-NGOs kaum Anteil nehmen können. Uns bleibt nichts übrig, als neu anzufangen: ganz von unten." Ein Grund, warum medico beide Organisationen, die NGWF wie RISE, in ihren Versuchen unterstützen wird, Überlebende von Rana Plaza und Tazreen Fashion zu AktivistInnen in eigener Sache auszubilden.

Eine Zusammenfassung der Äußerungen von Medico zur Textiltragödie in Bangladesh und zahlreiche Hintergrundinfos sind zusammengestellt unter:
http://www.medico.de/themen/aktion/textil/


Thomas Seibert, Südasienreferent von medico international, lebt in Frankfurt.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2013, Heft 197, Seite 26-31
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2013