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ARMUT/175: Indien - Rasantes Wirtschaftswachstum, geringe Armutsbekämpfung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 30. Mai 2012

Indien: Rasantes Wirtschaftswachstum, geringe Armutsbekämpfung

von Isolda Agazzi

Würde Indien den Entwicklungsstandards der UNO folgen, würde die Armutsrate bei etwa 55 Prozent liegen - Bild: © Sujoy Dhar/IPS

Würde Indien den Entwicklungsstandards der UNO folgen, würde die Armutsrate bei etwa 55 Prozent liegen
Bild: © Sujoy Dhar/IPS

Genf, 30. Mai (IPS) - Ein Bündnis aus Nichtregierungsorganisationen (NGOs) hat die Kluft zwischen dem raschen Wirtschaftswachstum und der hohen Armutsrate in Indien kritisiert. Trotz eines durchschnittlichen Wachstums von mehr als acht Prozent sind Armut und Unterernährung verbreitet und die Menschen medizinisch und sanitär unterversorgt.

"Nach offiziellen Angaben lag das durchschnittliche Wirtschaftswachstum zwischen 2007 und 2011 bei 8,2 Prozent. Der Anteil der Armen ging aber nur um 0,8 Prozent zurück", sagte Miloon Kothari von der Arbeitsgruppe für Menschenrechte (WGHR) in Indien.

Kothari, ein ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf angemessenes Wohnen, bemängelte auch die Kriterien, nach denen Armut bewertet wird. "Sie gehen von einer Armutsgrenze aus, die bei 50 US-Cent täglich beginnt. Das ist eine Beleidigung für die Armen."

WGHR wurde vor drei Jahren von bekannten Menschenrechtsorganisationen gegründet, um die zweite Universelle Periodische Überprüfung (UPR) vorzubereiten, der sich Indien am 24. Mai am Sitz des UN-Menschenrechtsrats in Genf unterzog. Die UPR ist ein 2007 eingeführtes Prüfungsverfahren im Bereich der Menschenrechte, dem sich alle UN-Mitgliedsstaaten regelmäßig unterziehen müssen.

Indische Organisationen haben ihre Bedenken angesichts der Ungleichheit bei der Entwicklung des Landes in einem 170 Seiten starken Bericht zusammengefasst. Daraus geht hervor, dass die Kriterien zur Bewertung von Armut in Indien nicht internationalen Standards entsprechen und keinem menschenrechtsorientierten Ansatz folgen.


"Wachstum darf kein Selbstzweck sein"

Kothari zufolge könnte die Armutsrate auf etwa 55 Prozent gesenkt werden, würde sich Neu-Delhi an die im UN-Bericht zur menschlichen Entwicklung 2012 vorgegebenen Richtlinien halten. Der Staat sei nur auf Wachstum aus, kritisierte er. Darauf lasse auch der elfte Fünfjahresplan schließen. "Wachstum darf aber kein Selbstzweck sein, sondern muss Bildung und Gesundheit den Weg bereiten. Ein radikaler Wandel ist notwendig."

Eine unmittelbare Folge von Armut ist die Verletzung des Rechts auf Nahrung. Indien verzeichnet mit 21 Prozent den weltweit höchsten Anteil an mangelernährten Menschen. Rund 42 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind untergewichtig.

"In unserem Land ist das Recht auf Nahrung nicht einklagbar. Wir verfügen zwar über Getreideüberschüsse, doch sind die Verteilungsmechanismen nicht zufriedenstellend", sagte Kothari. "Der Agrarsektor wird nicht ausreichend unterstützt und der schockierende Hunger durch die Biotechnologie sogar noch verschärft."

Eine neue Bedrohung erkennt der Experte in Freihandelsabkommen, die nicht mit dem Parlament und der Bevölkerung abgestimmt werden. Diese Abkommen seien in keiner Weise mit den Menschenrechtsverpflichtungen kompatibel.


Eklatante sanitäre Unterversorgung

Auch bezüglich der Trinkwasser- und der sanitären Grundversorgung hält Indien einen beängstigenden Rekord. 51 Prozent der Bevölkerung müssen ihre Notdurft im Freien verrichten. 60 Prozent der Familien in ländlichen Regionen haben keinen Zugang zu Toiletten. Davon sind insbesondere die Unberührbaren, die Dalits, betroffen, die 16,3 Prozent der indischen Bevölkerung stellen, wie Asha Kotwal vom 'All India Dalit Women's Right Forum' berichtete.

"Mehr als 700.000 Menschen müssen Toiletten mit ihren bloßen Händen säubern. Das ist eine große Schande für unser Land", sagte sie. Zwischen 2008 und 2010 seien zudem rund 100.000 gewaltsame Übergriffe auf Dalits gemeldet worden, darunter Morde und Vergewaltigungen. Frauen seien zudem gezwungen worden, nackt über die Straße zu laufen.

Obwohl ein großer Teil des indischen Haushalts für die Dalits und Adivasi-Ureinwohner vorgesehen ist, wurden ihnen in den vergangenen fünf Jahren fast 30 Milliarden US-Dollar der Gelder vorenthalten.

"Es ist an der Zeit, die Grausamkeit des Kastenwesens bloß zu stellen", sagte Kotwal. Die Kultur der Straffreiheit belaste das ganze Land. Staat, Justiz und Medien diskriminierten Menschen auf Grundlage der Kasteneinteilung. "Schnelleres Wachstum ging für uns mit einer größeren Ausgrenzung einher. Wir brauchen Gesetze gegen Diskriminierung."


Landklau

Indiens Entwicklungsprozess, der sich im Wesentlichen auf die Ausbeutung von Rohstoffen stützt, habe zur Enteignung und Vertreibung von Millionen Ureinwohnern geführt, prangerte Prafulla Samantra von der 'People's Empowerment Movement' an. "Zentralindische Bundesstaaten wie Orissa und Andhra Pradesh geraten zunehmend ins Visier multilateraler Konzerne, die sich Land und Wälder aneignen", beklagte er. Viele Indigene seien von der Polizei, die auf der Seite der Multis stünden, erschossen worden.

Beobachter kritisieren, dass der Entwurf des Gesetzes für Landerwerb, Entschädigungen und Wiederansiedlung die Menschenrechte nicht ausreichend berücksichtige. "Während zunehmend Land verkauft und geraubt wird, müssen die öffentlichen Interessen neu abgesteckt werden", fordern NGOs. Selbst wenn es passende Gesetze gebe, seien ihre Auswirkungen vor allem auf Frauen und Kinder selten untersucht worden, bedauerte Madhu Mahra von der Organisation 'Partners for Law in Development'.

Ein Beispiel sind die kürzlich vorgenommenen Änderungen im Familiengesetz, durch die Frauen nun - theoretisch - erbschaftsberechtigt sind. "Die Stimmen von Frauen werden nicht als Stimmen der Gemeinschaften anerkannt", gab Mahra zu bedenken. Oftmals würden sie von religiösen Führern vertreten.

Auch das Gesetz zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt von 2005 hat offenbar noch keine effiziente Anwendung gefunden. Ein Urteil des Obersten Gerichthofs in Neu-Delhi zur Straffreiheit für Homosexuelle existiert ebenfalls nur auf dem Papier. So werden sexuelle Minderheiten im Gesundheitswesen, am Arbeitsplatz, in Bildungseinrichtungen und bei der Wohnungssuche weiterhin so stark diskriminiert, dass sie ihre sexuelle Orientierung in der Regel geheim halten.

Die Menschenrechtsanwältin Vrinda Grover wies ferner darauf hin, dass Indien noch nicht die internationale Konvention gegen Folter ratifiziert hat. "Dies ist besorgniserregend, weil Strafverfolgungsbehörden im ganzen Land systematisch Folter praktizieren", prangerte sie an. Besonders brutal seien die Übergriffe in Konfliktgebieten im Nordosten, in Jammu und Kaschmir sowie im Zentrum des Landes. Die Praxis des Verschwindenlassens, willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, extralegale und sexuelle Gewalt seien dort tief verwurzelt. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:
http://www.wghr.org/
http://lib.ohchr.org/HRBodies/UPR/Documents/session13/IN/WGHR_UPR_IND_S13_2012_WGonHRinIndiaandtheUNcomprisingofActionAidIndia_E.pdf
http://www.peoplesempowerment.org/
http://www.pld-india.org/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=107889

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Mai 2012