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ARMUT/259: Obdachlosigkeit in Dresden - Impressionen einer Tragik (TU Dresden)


Dresdner Universitätsjournal Nr. 6 vom 27. März 2018

Obdachlosigkeit in Dresden - Impressionen einer Tragik
An der TU Dresden entstehen wissenschaftliche Arbeiten zum Thema, Studenten helfen praktisch

von Claudia Trache


Die Weihnachtszeit ist alljährlich die Zeit, da die Gesellschaft verstärkt an Obdachlose denkt, auch wenn gleichzeitig in vielen Köpfen der Gedanke festsitzt: "In Deutschland muss niemand unter der Brücke schlafen". In Nikolausaktionen werden warme Kleidung oder Schlafsäcke verschenkt. Verschiedene Initiativen organisieren Weihnachtsfeiern für Bedürftige, zu den auch die Obdachlosen gehören.

Sicher, die kalte Jahreszeit ist für Menschen, die auf der Straße leben, eine besonders schwierige Zeit. Doch das Problem der Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit besteht ganzjährig. Deren statistische Erfassung ist schwierig. Das Sozialamt der Stadt Dresden erfasst Personen, die wohnungslos sind und in von der Stadt bereitgestellten Unterkünften (Übergangswohnheime und Gewährleistungswohnungen) ordnungsrechtlich untergebracht werden. Am 30. November 2017 hat das Sozialamt auf diese Weise insgesamt 329 wohnungslose Personen (259 Männer und 70 Frauen) untergebracht. Dazu stehen der Stadt aktuell 36 Plätze in 16 Wohnungen und 345 Plätze (darunter zehn Winterschlafplätze) in acht Übergangswohnheimen zur Verfügung. Im Oktober 2015 wurde ein Wohnheim für ältere wohnungslose Menschen eröffnet. Zum 30. November 2017 wurden darin insgesamt 19 Personen ordnungsrechtlich untergebracht.


Wohnungsnotfallhilfe als eine Anlaufstelle

Die Dunkelziffer der Wohnungslosigkeit ist jedoch höher. 2017 wandten sich insgesamt 1079 Hilfesuchende an die Wohnungsnotfallhilfe des Diakonischen Werkes Stadtmission Dresden. 568 von ihnen waren bei der Erstvorsprache wohnungslos, 261 von Wohnungslosigkeit bedroht. "Wohnungslosigkeit ist häufig nicht selbst verschuldet", betont Edmund Lawrenz, Sozialarbeiter bei der Diakonie Stadtmission Dresden. Er entwickelte 1995 als Student der Evangelischen Fachhochschule gemeinsam mit zwei Mitstudenten das Konzept des Dresdner Nachtcafés, das über die Jahre immer weiter ausgebaut werden konnte. "Menschen können durch ganz unterschiedliche Gründe in existenzielle, physische und psychische Notlagen, in materielle wie soziale Armut geraten. Oft fehlt dann eine Einbindung in das Sozialnetz. Schnell werden diese Menschen diskriminiert und stigmatisiert. So entstehen Kreisläufe, aus denen sie nicht mehr so schnell herauskommen." Langzeitarbeitslosigkeit, Suchterkrankungen, irgendwann Mutlosigkeit und der fehlende Wille charakterisieren deren Lebenssituation.


Kaum wissenschaftliche Arbeiten zur Obdachlosigkeit

Wissenschaftliche Arbeiten zu Themen wie Obdachlosigkeit sind nicht sehr zahlreich zu finden, am ehesten noch zur Straßensozialarbeit. Im Mai 2017 gab beispielsweise Maren Behnert als Doktorandin am Institut für Germanistik an der Professur Germanistische Linguistik und Sprachgeschichte ihre Dissertation zum Thema "Pragmatische Dimensionen des Defendolekts: Eine Grounded Theory Studie zum Sprachhandeln junger Erwachsener mit Lebensmittelpunkt Straße" ab. Darin untersuchte sie sprachliche Strategien dieser jungen Erwachsenen zur Behauptung des Selbst im Umgang mit anderen. In Kontakt mit Streetworkern, die auf ihre Lebenssituation möglicherweise vorurteilsfreier eingehen, haben sie weniger das Gefühl, sich und ihre Lebenswelt verteidigen zu müssen als beispielsweise bei Ämtern, vor allem im Jobcenter. "An sozialen Forschungsthemen ist kaum jemand interessiert", bedauert Dr. Martin Rudolph, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften der Technischen Universität Dresden. In den letzten sechs Jahren betreute er nur zwei bis drei Abschlussarbeiten dazu. Eine hervorragende Masterarbeit mit dem Titel "Das Übergangswohnheim als institutionalisierte Form der Unterbringung wohnungsloser Menschen aus Nutzerperspektive" verteidigten im letzten Wintersemester Andrea Bormann und Ronald Bec erfolgreich. Darin beschäftigten sie sich mit der Frage "Wie erleben wohnungslose Nutzer und Nutzerinnen den Aufenthalt im Übergangswohnheim?" In leitfadengestützten problemzentrierten Gruppeninterviews befragten sie Nutzer einer Einrichtung im Raum Dresden. Die von ihnen befragten Personen leben zwischen über drei bis zu 12 Jahren in einem Übergangswohnheim. Von einem "Übergang" kann bei dieser Zeitspanne kaum mehr gesprochen werden.


Unterstützung durch die Kommune

"Prinzipiell ist der Aufenthalt in einem 'Übergangswohnheim' nicht auf Dauer angelegt", so Dominic Heyn, Referent von Sozialbürgermeisterin Dr. Kristin Klaudia Kaufmann. "Es gibt jedoch Bewohnerinnen und Bewohner, die aufgrund diverser Hemmnisse auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt nur schlecht oder gar nicht Fuß fassen können. Die Spanne der individuellen Verweilzeit liegt zwischen zwei Wochen und 17 Jahren. Mehr als die Hälfte der untergebrachten Menschen werden weniger als ein Jahr ordnungsrechtlich untergebracht. Dies ist erfahrungsgemäß auch die Zeitspanne, in der sozialpädagogische Maßnahmen und Integration in eigenen Wohnraum am erfolgreichsten sind. Gründe für eine lange Verweilzeit im Übergangswohnheim können Überschuldung, Suchterkrankungen, andere psychische oder körperliche Beeinträchtigungen sein. Je komplexer die Problemlagen sind, umso schwieriger wird die Integration in eigenen Wohnraum. Im Rahmen des Wohnungsnotfallhilfekonzepts, das derzeit erstellt wird, geht es deshalb auch um die Frage, wie eine dauerhafte Unterbringungsform für Wohnungslose gestaltet werden kann." In Dresden gibt es neben den Angeboten des Sozialamtes weitere Anlaufstellen für Betroffene, die durch die Stadt Dresden unterstützt bzw. gefördert werden: Suppenküchen (www.eibi-dresden.de), den Tagestreff Schorsch der Diakonie Dresden, das Begegnungscafé und die aufsuchende Straßensozialarbeit für Wohnungslose der Heilsarmee oder das Dresdner Nachtcafé, das von November bis März von Kirchgemeinden ehrenamtlich ausgerichtet wird. Die Treberhilfe Dresden kümmert sich um junge Erwachsene mit dem Lebensmittelpunkt Straße. Seit Oktober 2017 bietet der neu gegründete Verein "Dresdner Bürger helfen Dresdner Obdachlosen und Bedürftigen" in seinem Begegnungszentrum an der Wiener Straße ebenfalls Wohnungslosen verschiedene Unterstützung.


Dresdner Nachtcafé

Jedes Jahr engagieren sich auch Studenten der TU Dresden ehrenamtlich in den Nachtcafés. Eine von ihnen ist Sarah-Marie Neumann. Sie studiert im siebten Semester Lehramt für Deutsch und evangelische Religion und ist die zweite Saison als ehrenamtliche Helferin dabei. "In der kalten Jahreszeit geht man doch selbst gern nach Hause, macht die Heizung an und kocht sich einen heißen Tee", so die 23-Jährige. "Ich möchte Menschen helfen, die nicht so viel Glück haben, wie ich selbst. Die Gäste sind sehr nett und dankbar. Es macht mir Spaß, sie am Tisch zu bedienen und ihnen das Gefühl zu geben, ein besonderer Mensch zu sein", so Sarah-Marie Neumann. Zwei ehemalige Wohnungslose Rainer E. (53) und Jens B. (43) kennen das Nachtcafé aus eigener Erfahrung. Beide haben inzwischen den Sprung in die eigene Wohnung geschafft. Die Wege, die sie auf die Straße führte, sind ganz verschieden. Dennoch sind es typische Beispiele dafür, wie schnell man auf der Straße landen und den Halt sozialer Netzwerke verlieren kann. Rainer E., gelernter Autoschlosser, ging nach der Scheidung von seiner Frau auf die Straße. "Ich hatte von allem die Schnauze voll, wollte raus und nur abschalten. Da war das Leben auf der Straße der für mich einfachste Weg." Das war vor inzwischen 13 Jahren, so dass er ein Jahr lang auf der Straße lebte, ohne Wissen seiner Familie. "Ich hatte es ihnen verheimlicht. Da war ja auch eine gewisse Scham." Nachts schlief er unter anderem auf einen Spielplatz auf einer Rutsche. 22 Uhr kam er dahin, 6 Uhr morgens war er wieder weg. So fiel er nie auf. Damals hielt er sich mit Flaschensammeln und Gelegenheitsjobs über Wasser. "In dieser Zeit hat man gelernt, was echte Freunde sind und wer einen nicht nur kannte, wenn man gerade etwas Geld hatte", so seine Einschätzung. Irgendwann wollte er sein Leben wieder ändern, raffte sich auf und kümmerte sich darum, wieder eine Wohnung und Arbeit zu bekommen. Seitdem ist er als ehrenamtlicher, zeitweise auch als hauptamtlicher Mitarbeiter im Dresdner Nachtcafé tätig.

Er wollte genauso etwas zurückgeben wie Jens B. Der 43-Jährige gelernte Tierpfleger ist bereits mit 18 Jahren von zu Hause abgehauen, wohnte zunächst für ein halbes Jahr bei einem Kumpel, ehe er diese Unterkunft aufgeben musste. Sein Weg führte ihn nach Dresden, wo er in eine Bahnhofsclique geriet. Zwei Jahre lebte er auf der Straße, mehrfache Straftaten mit Haft wechselten sich viele Jahre mit dem Wohnen in einem der Dresdner Übergangswohnheime ab. Fast alle hat er von innen kennengelernt. "Meist war ich dort nur zum Schlafen. Tagsüber war ich immer unterwegs. Wenn es kalt war, bin ich viel und lange Straßenbahn gefahren, oft von einer Endhaltestelle zur anderen", erzählt Jens B. "Man wusste nie mit wem man ein Zimmer teilen muss. Viele Drogen- und Alkoholabhängige waren dabei, bei denen man aufpassen musste, dass man nicht einfach so ohne Vorwarnung eins auf den Schädel bekam." Seit Mitte 2016 hat er bereits seine eigene Wohnung, seit einem knappen Jahr einen Halbtagsjob als Tierpfleger. "Irgendwann hatte ich keine Lust mehr auf das Leben in den Wohnheimen. Ich war bisher einfach zu faul, mich zu kümmern. Wenn man will, dann kann man es auch schaffen", so seine Einschätzung.


Projekt "Mensch komm mit"

Über das Diakonische Werk der Landeskirche Sachsen e.V. läuft seit Januar 2016 das Projekt "Mensch komm mit", gefördert vom Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen. Zwei Sozialarbeiter sind mindestens einmal pro Woche in Pieschen, Mickten, in der Neustadt und der Altstadt an Plätzen unterwegs, wo sich Wohnungslose häufig aufhalten und versuchen mit ihnen ganz locker ins Gespräch zu kommen, um zu erfahren, welche Bedürfnisse sie haben. Die Sozialarbeiter bekommen aber ebenso Hinweise von Vermietern, wenn es um Mietschulden geht, aufgrund dessen Menschen von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Während der Nachtcafésaison sind die Sozialarbeiter Mittwochfrüh in der Christophoruskirche in Laubegast. Die Anliegen der Ratsuchenden sind ganz verschieden. Die einen benötigen eine Begleitung zum Sozialamt oder Jobcenter oder auch zur Zentralen Pass- und Meldestelle, um einen Personalausweis zu beantragen. Wiederum andere nehmen die Sozialarbeiter mit zur Wohnungsnotfallhilfe der Stadtmission Dresden, wo die Ratsuchenden umfangreicher beraten werden und sich auch eine Postadresse einrichten können. Ein gültiger Personalausweis und die postalische Erreichbarkeit sind Grundvoraussetzungen, um weitere Leistungen wie ALG-II beantragen zu können. In Zusammenarbeit mit dem Sozialamt und bei entsprechender Mitwirkung der Betroffenen werden im Rahmen der sozialpädagogischen Intervention (SPI) individuelle Hilfepläne erstellt.

Von 155 Fällen im Jahr 2016 konnten insgesamt 65 Fälle erfolgreich abgeschlossen werden. Als erfolgreicher Abschluss einer SPI werden gezählt: Erhalt einer eigenen Wohnung mit Mietvertrag, Vermittlung in eine bedarfsgerechte Wohnform bzw. ins sozialtherapeutische Wohnen oder in andere geeignete Hilfesysteme."

In ihrer Masterarbeit geben Andrea Bormann und Ronald Bec folgenden Ausblick: "Darüber hinaus könnten ähnliche Erhebungen perspektivisch in die Entwicklungsprozesse der Wohnungslosenhilfe der Stadt Dresden einfließen. Anhand der Ergebnisse könnten so Angebote der Wohnungslosenhilfe evaluiert und optimiert werden, um die Hilfebedarfe der Nutzer und Nutzinnen aus eigener Perspektive zu ergänzen."

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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 29. Jg., Nr. 6 vom 27.03.2018, S. 7
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
Nöthnitzer Str. 43, 01187 Dresden
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Telefax: 0351/463-371 65
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2018

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