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BUCHTIP/115: Uni Kassel-Studie - "Selbstsorge in unsicheren Zeiten" (idw)


Universität Kassel - 13.02.2009

Uni Kassel-Studie: "Selbstsorge in unsicheren Zeiten"


Kassel. "Nur wer sich in einer objektiv prekären Lebenssituation auch noch gesellschaftlich überflüssig, abgehängt und ausgeschlossen fühlt, reagiert auf seine missliche Lage mit Rückzug, Resignation, psychosomatischen Beschwerden und Selbstvernachlässigung - von mangelnder Körperpflege, sozialer Vernachlässigung, politischer Apathie bis hin zur Zeitverwahrlosung". So fasst eine sozialwissenschaftliche Forschergruppe um den Kasseler Psychologen Ernst Lantermann einen zentralen Befund ihrer empirischen Studien über den Umgang mit prekären Lebenslagen zusammen.

Nachzulesen ist dies in dem gerade erschienen Buch "Selbstsorge in unsicheren Zeiten - Resignieren oder Gestalten".

Unsicherer Arbeitsplatz, ständige finanzielle Gratwanderung, ein überstrapazierter Körper, fragile soziale Netzwerke: all dies kennzeichnet den Lebensalltag vieler Menschen im Zeitalter der Globalisierung und der globalen Krisen. Das Leben in Deutschland ist in den vergangenen Jahren prekärer geworden, nicht nur an den Rändern der Gesellschaft, auch in der Mittelschicht wächst die Sorge vor sozialem Abstieg und gesellschaftlicher Deklassierung.

Das Buch beruht auf fünf - vom Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie dem Hamburger Institut für Sozialforschung mit 1,5 Mio Euro finanzierten - Studien der Autoren, in denen 4500 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet zu ihren Umgangsweisen mit unsicheren und prekären Lebensereignissen interviewt wurden.

Die Erfahrung, gesellschaftlich abgehängt und überflüssig geworden zu sein, stellt nach allen Befunden eine Schlüsselerfahrung in der Auseinandersetzung mit prekären Lebenslagen dar. Zwar befördert eine objektiv schwierige, prekäre Lebenssituation bei vielen Menschen das Gefühl eines gesellschaftlichen Ausschlusses (in der Sprache der Soziologie, der gesellschaftlichen Exklusion), aber nicht bei allen Betroffenen! Wer sich auf seine Fähigkeiten zur "Selbstorganisation" und "Unbestimmtheitsregulation" verlassen kann und in seiner Biographie ein hohes Selbst-, Zukunfts- und Sozialvertrauen entwickelt konnte, der ist relativ gut gerüstet - wer über diese Ressourcen nicht verfügt, bei dem schlagen objektiv prekäre Entwicklungen rasch um in Ausschlussgefühle, andauernde Überforderung, psychosomatische Beschwerden und Selbstvernachlässigung. Dazu einige Zahlen: 46 Prozent der befragten Personen ohne Vertrauen und hinreichende Fähigkeiten zur Selbstorganisation und Unbestimmtheitsregulation sehen sich angesichts ihrer prekären Lebenslage regelmäßig körperlich und mental überfordert, aber nur 2 Prozent der Menschen mit ausgeprägten Fähigkeiten und Vertrauen, 55 gegenüber 15 Prozent leiden unter depressiven Verstimmungen.

Menschen ohne diese Ressourcen sind zudem einem über siebenfach höheren Risiko ausgesetzt, angesichts unsicher werdender Zukunftsaussichten sich auch noch gesellschaftlich ausgeschlossen zu empfinden und in ihrem Kampf um Selbstbehauptung zu resignieren.

"Was tun?" - lautet die Überschrift des abschließenden Buchkapitels. Eines ist gewiss: der von der gegenwärtigen Politik propagierte "aktivierende Sozialstaat", der (nur noch) den Bürger unterstützt, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt, findet seine Grenzen dort, wo es um Menschen geht, denen es, aus welchen Gründen auch immer, gerade an denjenigen Ressourcen mangelt, die ihnen eine selbstbewusste und offensive Veränderung ihrer misslichen Lebenslage erst erlauben würden.

Doch ein weiteres Resümee aus den in diesem Buch berichteten, mit zahlreichen Abbildungen erläuterten Forschungsergebnissen lässt hoffen: Eine (objektiv) prekäre Lebenslage ist für die meisten Betroffenen (nach den Studien sind es zwischen 70 und 80 Prozent) kein schlicht hinzunehmendes Schicksal, sondern eine Herausforderung, ihre Fähigkeiten, ihr Vertrauen in sich selbst, in ihre Zukunft und in andere Menschen und Institutionen so zu nutzen, dass ihr Vermögen zur Selbstsorge und selbstverantwortlichem Handeln gestärkt daraus hervorgeht. Die Ergebnisse werden zuletzt noch einmal so zusammengefasst: "Selbstsorgendes Handeln in unsicheren Zeiten setzt zweierlei voraus - zur Selbstsorge entschlossene Menschen und eine Gesellschaft, die zur Selbstsorge ermuntert und auf selbstsorgende, in diesem Sinne souveräne Menschen angewiesen ist, wenn sie ihre eigenen Grundlagen nicht gefährden möchte." (p)

Ernst Lantermann, Elke Döring-Seipel, Frank Eierdanz, Lars Gerhold:
Selbstsorge in unsicheren Zeiten. Resignieren oder Gestalten.
Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2009

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution45


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Kassel, Ingrid Hildebrand, 13.02.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2009