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FRAGEN/001: "Westliche Städte werden verfallen" - Stadtplaner Jordi Borja im Interview (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. August 2012

Bevölkerung: 'Westliche Städte werden verfallen' - Stadtplaner Borja im Interview

von Emilio Godoy


Beim Umbau des historischen Zentrums von Mexiko-Stadt sei Vorsicht geboten, damit einkommensschwache Bevölkerungsschichten nicht vertrieben würden, warnt Jordi Borja - Bild: © Emilio Godoy/IPS

Beim Umbau des historischen Zentrums von Mexiko-Stadt sei Vorsicht geboten, damit einkommensschwache Bevölkerungsschichten nicht vertrieben würden, warnt Jordi Borja
Bild: © Emilio Godoy/IPS

Mexiko-Stadt, 27. August (IPS) - "In der kapitalistischen westlichen Welt sind die Städte von Zerstörung und Zerfall bedroht", warnt der spanische Städteplaner Jordi Borja. Dieser Trend sei eine Gefahr für die Demokratie, "sind die Städte die Wiege der öffentlichen Freiheiten". Das aktuelle Städte-Modell müsse deshalb dringend überdacht werden, so der Experte im IPS-Interview.

Borja ist nicht nur Städteplaner, sondern auch Politologe, Soziologe und Geograph. Er ist Leiter des Forschungsfeldes Stadt-Management und Städteplanung an der Offenen Universität von Katalonien. 1941 in Barcelona geboren, lebte Borja von 1961 bis 1968 in Frankreich im Exil. In seiner langen Laufbahn arbeitete er als Berater für den Umbau südamerikanischer Städte wie Buenos Aires, Rio de Janeiro, Santiago de Chile und Bogotá. Darüber hinaus veröffentlichte er mehrere Bücher, darunter 'La Ciudad Conquistada' (Die eroberte Stadt). IPS sprach mit Borja am Rande des Internationalen Forums für das Recht auf Mobilität, das diesen Monat in Mexiko-Stadt stattfand.

IPS: Was kritisieren Sie am aktuellen Stadtplanungsmodell?

Jordi Borja: In vielen kapitalistischen westlichen Staaten ist eine Zerstörung, ein Zerfall der Städte zu beobachten. Dieser Trend bedroht unsere Koexistenz, Demokratie und den Fortschritt. Die Stadt ist der Ort, an dem die öffentlichen Freiheiten überhaupt erst geboren wurden. Die Stadt ist ein Ort, an dem Innovationen entstehen, weil hier so viele verschiedene Individuen zusammenkommen.

Eine Gegend, in die die Menschen nur abends zurückkehren, um zu schlafen, oder auch sogenannte Gated Communities - Wohnanlagen, in die man nur durch ein abgeschlossenes Tor gelangt - sind geradezu die Antithese einer Stadt.

IPS: Wenn die Zukunft urban ist, dann stellt sich die Frage: Wie können Städte nachhaltiger gestaltet werden?

Borja: Vielleicht ist die Zukunft urban, allerdings mit schwachen Städten. Vor 20 Jahren wurde ein Aufsatz veröffentlicht, in dem es hieß, die Urbanität regiere, die Städte aber stürben aus - ein apokalyptisches Bild, das da gezeichnet wurde. So fatale Tendenzen kann ich heute nicht erkennen.

In Mexiko-Stadt gibt es derzeit ein sehr interessantes Projekt: Das historische Zentrum soll wiederbelebt werden. Ich finde das großartig, aber man muss dabei vorsichtig vorgehen. Die Verschönerung eines Stadtteils geht immer auch mit höheren Immobilienpreisen einher. Wenn die Planer nicht aufpassen, dann wird der Markt dafür sorgen, dass einkommensschwache Teile der Bevölkerung und junge Menschen aus dem historischen Zentrum vertrieben werden, während immer mehr hochpreisige Immobilien entstehen und immer mehr Büros in das Viertel ziehen. Dadurch würde die Essenz des historischen Zentrums, nämlich die Koexistenz ganz unterschiedlicher Menschen, verloren gehen. Das Ergebnis wäre beispielsweise ein reines Geschäftsviertel oder ein touristisches Zentrum.

Land darf nicht einzig zu einer Quelle für Profit werden. Man könnte, um dem vorzubeugen, beispielsweise eine Grundsteuer erheben.

IPS: Haben Sie einen Vorschlag, wie eine Megapolis wie Mexiko-Stadt erfolgreich gemanagt werden kann? Die Stadt hat neun Millionen Einwohner und es gibt immer wieder Probleme mit der Wasserversorgung und dem Verkehr.

Borja: Eine Stadt hat ja immer eine Regierung - und das ist schon die halbe Miete. Natürlich muss die Stadtregierung demokratisch sein. Wenn eine Stadt eine besonders große Bevölkerung hat, dann müssen die Behörden damit umgehen können. Am besten dezentralisiert sie die Verwaltung, sodass konkrete politische Entscheidungen nicht für Millionen, sondern nur für ein paar Hundert Menschen gemacht werden müssen.

So eine Pyramide funktioniert allerdings nur, wenn die staatlichen Strukturen so umorganisiert werden, dass sich die Stadtverwaltung von Mexiko-Stadt mit der Regierung des Bundesstaates Mexiko sowie den benachbarten Bundesstaaten und der Zentralregierung absprechen, wenn es um Großprojekte und große Themen wie die Wasserversorgung geht.

IPS: Was verstehen sie unter dem 'Recht auf Stadt'?

Borja: Bürger brauchen immer mehrere Rechte gleichzeitig. Mehrere Einzelrechte wie das Recht auf freie Bewegung, auf Wohnen und auf Bildung ließen sich in einem Recht auf Stadt zusammenfassen.

IPS: Geben Sie dem US-Autoren Mike Davis recht, der in seinem Buch 'Planet of Slums' die weltweite Ausbreitung von Slums beschreibt?

Borja: Das Buch übertreibt maßlos. Die Peripherien von Städten, die periurbanen Gegenden, sind eine andere Sache. In den Städten selbst ist der Eigenbau die erste Phase, Nachbarschaften zu gründen. Das ist zunächst nichts Schlechtes. Der erste Schritt sollte daher auch sein, diesen Prozess zu fördern und ihn erst anschließend zu regulieren.

Andererseits kann nicht jeder Ort unbegrenzt wachsen. In Mexiko beispielsweise gibt es genügend Städte, auf die man die wachsende Bevölkerung verteilen könnte. Eine Migrationspolitik muss dafür sorgen, dass sich Einwanderer nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in anderen urbanen Zentren niederlassen. (Ende/IPS/jt/2012)


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http://www.ipsnews.net/2012/08/qa-the-trend-in-the-western-world-is-the-dissolution-of-cities/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2012