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FRAGEN/027: Frauen auf der Flucht (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 137, 3/16

Frauen auf der Flucht

Kriege - ein wiederkehrender Teil unserer Geschichte

von Caroline Roithner


Seit dem Frühjahr 2011 befindet sich Syrien im Kriegszustand. Tausende Menschen flüchteten aus ihrer Heimat, um woanders Schutz zu finden. Blickt man in das Jahr 1992 und in den Südosten Europas, ereigneten sich vergleichbare Kriegszustände in Bosnien und Herzegowina. Der Zerfall von Ex-Jugoslawien und in der Folge die wachsenden Spannungen zwischen den einzelnen Minderheiten trieben das Land in einen Krieg, der bis heute andauernde tiefe Gräben zwischen den einzelnen Ethnien hinterlassen hat. Die Fluchtmotive, Ängste und Gefahren sind bei Kriegen meist die gleichen, doch sind es oftmals persönliche Schilderungen und Erzählungen, die es möglich machen, diese grausamen und unvorstellbaren Vorgänge zu verstehen.


Flüchtlinge aus Bosnien

Eldina S. und ihre Familie sind muslimisch-bosnische Flüchtlinge. Als der Bosnienkrieg begann, war Eldinas Mutter hochschwanger und bereits Mutter eines zweijährigen Sohnes. Ihre Familie lebte in einem kleinen Dorf namens Brcko, in dem überwiegend Bosniaken lebten. Von dem drohenden Krieg bekam die Familie nur nach und nach etwas mit, da der örtliche Nachrichtenfluss sich aufgelöst hatte.

Durch die sich steigernden Gewalttaten der serbischen Soldaten gegenüber der ansässigen bosnischen Bevölkerung wurde jedoch die anwachsende Gefahr deutlich. Im Laufe des Krieges wurde die männliche bosnische Bevölkerung in Konzentrationslager gebracht, um die familiären Strukturen zu zerstören und die bosnische Armee zu schwächen. Plünderungen und der entwürdigende wie gewalttätige Umgang der Soldaten mit bosnischen Frauen waren weitere Zuspitzungen, Massenvergewaltigungen ein Teil der Kriegsstrategie.

Insbesondere die Ermordung ihres Mannes in einem Konzentrationslager und die ausweglose Situation im Dorf setzten Eldinas Mutter zunehmend unter Druck. Schließlich kam sie doch zu dem irreversiblen Entschluss, alles zu riskieren und mit ihren zwei Kindern und ihrem Vater zu flüchten. Die Flucht hatte zunächst kein Ziel und wurde erschwert durch diverse Kontrollen und Schikanen der serbischen und kroatischen Soldaten. So flüchtete die Familie, getrieben von Angst und zugleich stets mit der Hoffnung auf einen Neuanfang, den die Familie schließlich in den USA finden sollte.


Schicksale verstehen

Beinahe 24 Jahre später arbeitet Eldina eine Zeit auf, die sie durch viele Erzählungen und Bilder ihrer Familie erst verstehen und verarbeiten lernen will.


Als Baby hast du den Krieg noch nicht bewusst miterlebt. Trotzdem nehme ich an, dass eure Mutter dich und deinen Bruder im steten Bewusstsein eures Familienschicksals erzogen hat. Wie prägte dies euer tägliches Familienleben?

Eldina S. (ES): Meine Mutter war glücklich, geflüchtet zu sein, jedoch war es schwer für sie, sich an die neue Umwelt anzupassen. Unser tägliches Leben sollte möglichst gleich bleiben. Da unser Großvater mit uns geflohen ist, war er die meiste Zeit bei uns Kindern, während meine Mutter arbeiten ging. Somit war auch er wichtig in unserer Erziehung und der Vermittlung bosnischer Traditionen. Es war für mich als Kind schwierig zu verstehen, dass zu Hause eine andere Sprache und Kultur gelebt wird als außerhalb der eigenen vier Wände. Es war manchmal schwer, Freund_innen zu finden, da wir für "anders" gehalten wurden. Meine Mutter konnte Menschen kaum mehr trauen und wurde eine sehr kontaktarme und verletzliche Person nach der Flucht.


Ein wichtiger Schritt eurer Flucht war die Ankunft in den Vereinigten Staaten. Wie wurdet ihr empfangen?

ES: In den USA wurde meine Familie 1993 durch die Einwanderungsbehörde in Empfang genommen. Zunächst lebten wir für einen Monat bei einer Familie in Virginia - mit der wir noch immer Kontakt halten -, bevor meine Mutter beschloss, dass es Zeit war, unabhängig zu werden. Wir zogen in eine eigene Wohnung und bekamen Hilfe von der Kirche. Es war eine schwierige Zeit, da wir noch immer von der Unterstützung anderer abhängig waren. 1994, als meine Mutter einen fixen Job fand und wir nochmals übersiedelten, wurden wir vollkommen unabhängig. Es war sehr hart für sie, die ganze Familie mit ihrem geringen Gehalt durchzubringen. Sie hatte ein Jahresgehalt von 20.000 Dollar - was heutzutage in den USA bereits als Existenzminimum betrachtet wird. Sonst hatten wir keinerlei Unterstützung.


Wie war deine Kindheit in den USA?

ES: Meine Kindheit in den Vereinigten Staaten war schön - soweit ich mich erinnern kann. Obwohl meine Familie nicht viel Geld hatte, haben wir Kinder diese angespannte Lage nicht wirklich mitbekommen. Wir haben uns zu Hause gefühlt! Meine Mutter dachte auch daran, zurückzukehren nach Bosnien, jedoch blieb sie aus Rücksicht auf uns Kinder in Amerika. Sie selbst will mittlerweile nicht mehr zurückkehren, da sie zu viele schlechte Erinnerungen an diese Zeit hat. Jetzt studiere ich in Europa. Meine Familie und ich reisen alle paar Jahre nach Bosnien, um unsere dortige Familie zu besuchen. Es ist sehr schön, dort zu sein und auf unsere Herkunftskultur zu treffen.


Wie fühlst du dich in Bosnien?

ES: Ich fühle mich eher wie eine Außenseiterin, da ich als Person eine Welt symbolisiere, die eine andere ist als die in Bosnien. Außerdem sind die Spannungen zwischen Bosniak_innen und Serb_innen noch immer spürbar - eine Art "leiser Krieg", der noch immer weitergeht. Wenn man über den Bosnienkrieg redet, beginnen die Menschen leiser zu sprechen.

Ich versuche, außerhalb Bosniens Bewusstsein für diesen Genozid in Bosnien zu schaffen und aufzuklären. Es ist wichtig für mich, über dieses heikle Thema zu sprechen. Ich hoffe, dass ich damit einen Anstoß für mehr Frieden geben und ein Zeichen gegen Hass gegenüber anderen Religionen setzen kann. Insbesondere der aktuellen Stigmatisierung von Muslim_innen möchte ich entgegenwirken und zeigen, dass auch wir nur Menschen wie alle anderen sind.


Jeder Krieg lässt Fragen offen, die nicht beantwortet werden können, z. B.: Warum wurde international nicht früher eingeschritten? Warum wird Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Krieg ihr Land und Gut nicht wieder zuerkannt?


Zur Autorin:
Caroline Roithner absolvierte ein Praktikum bei der Frauen*solidarität und studiert an der Universität für Bodenkultur. Sie lebt in Wien.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 137, 3/2016, S. 24-25
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2016

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