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FRAUEN/493: Nicaragua - Angriff auf Frauenschutzgesetz (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. Juni 2013

Nicaragua: Angriff auf Frauenschutzgesetz

von José Adán Silva


Bild: © Oscar Sánchez/IPS

Das Vergewaltigungsopfer Fatima Hernández bei einer Demonstration vor dem Obersten Gerichtshof 2011
Bild: © Oscar Sánchez/IPS

Managua, 4. Juni (IPS) - In Nicaragua konnten konservative Kreise in dem Bemühen um eine Reform des vor einem Jahr verabschiedeten Frauenschutzgesetzes 779 einen Teilsieg erzielen. So hat der Oberste Gerichtshof das Parlament zur Aufnahme einer Regelung aufgefordert, die Opfer und Täter zu der Teilnahme an einem Vermittlungsgespräch verpflichtet. Menschen- und Frauenrechtsverbände protestieren.

Das 2012 mit breiter Mehrheit beschlossene Gesetz verpflichtet den nicaraguanischen Staat dazu, die körperliche, seelische, moralische, sexuelle und wirtschaftliche Integrität von Frauen zu schützen. Es sieht zudem vor, jede Form der geschlechterspezifischen Diskriminierung einschließlich Frauenmorde angemessen zu bestrafen.

Dem Obersten Gerichtshof (CSJ) zufolge stellt Paragraph 46 des Gesetzes eine Diskriminierung des Mannes dar, die es zu korrigieren gelte. Deshalb müsse ein Vermittlungsgespräch zwischen dem potenziellen Opfer und dessen mutmaßlichen Täter als Form der Konfliktlösung in Fällen stattfinden, in denen das Gesetz 779 für Delikte Haftstrafen von unter fünf Jahren vorsehe.

In Nicaragua sind Vermittlungsgespräche als Instrumente der Konfliktlösung im privaten aber nicht im öffentlichen Recht vorgesehen, in das das Gesetz 779 fällt. Innerhalb des Familienrechts kommen sie nur im Zusammenhang mit Eigentums-, Scheidungs- und Trennungsfragen zur Anwendung.


Vorwurf der Vorverurteilung

Im März haben fünf Juristen das vor fast einem Jahr beschlossene Gesetz mit der Begründung angefochten, es diskriminiere die Männer, verstoße gegen das in der Verfassung festgeschriebene Recht auf Gleichbehandlung und missachte das Prinzip 'Im Zweifel für den Angeklagten'.

Das Gesetz 779 sieht vor, dass geschlechtsspezifische Gewalt vor einem Sondergericht von Sonderstaatsanwälten verhandelt wird. Auch können sich Frauen an Sonderpolizeistellen um Hilfe wenden. "Wird ein Mann unter solchen Voraussetzungen angeklagt, gilt bereits die Schuldvermutung", meinte dazu einer der Juristen, Bismarck Dávila.

Auch katholische Priester haben das Gesetz attackiert, "weil die Bestrafung von Männern zum Auseinanderbrechen von Familien führt". Die Anwaltsvereinigung des zentralamerikanischen Landes bietet zudem Nicaraguas Männern, die auf der Grundlage von Gesetz 779 angeklagt werden, die kostenlose Verteidigung an.

Die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten ist jedoch gegen eine Reform. Alba Palacios erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass das Gesetz im Februar 2012 mit 82 von 92 Stimmen beschlossen und zuvor in aller Öffentlichkeit diskutiert wurde.

Irma Dávila, Vorsitzende des parlamentarischen Rechtsausschusses, gibt zu bedenken, dass "80 Prozent aller Nicaraguaner das Gesetz 779 unterstützen". Von einer großen Mehrheit gegen das Gesetz könne also nicht die Rede sein. Eine vom 2. bis 18. April durchgeführte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts SISMO bescheinigt dem Gesetz sogar eine Akzeptanz von 82,3 Prozent in der Bevölkerung.

Die regierenden Sandinisten der Nationalen Befreiungsfront, die 63 der 92 Parlamentssitze innehat, wird nun entscheiden müssen, ob sie der Aufforderung des CSJ nachkommt und das Gesetz ändert. Sollte sich das Parlament weigern, hätte der Oberste Gerichtshof die Möglichkeit, die einzelnen Richter entsprechend zu instruieren. Er hat bereits Rundschreiben an die Gerichte losgeschickt, in denen die Richter aufgefordert wurden, das Strafmaß in Fällen zu reduzieren, in denen das Gesetz 779 Strafen von unter fünf Jahren Gefängnis vorsieht.

Auch die Frauenorganisationen im Lande wehren sich gegen eine Reform des Gesetzes mit der Begründung, dass die betroffenen Frauen durch ein Vermittlungsgespräch mit ihren Tätern erneut zu Opfern gemacht würden. Nach Ansicht von Juana Jiménez von der Autonomen Frauenbewegung sprechen die im letzten Jahr begangenen Frauenmorde für sich: 13 der 85 weiblichen Mordopfer hatten, nachdem sie den Fall angezeigt hatten, an einem Vermittlungsgespräch mit ihren Peinigern teilgenommen. "Die Erfahrungen zeigen, dass Vermittlungsgespräche Männern die Gelegenheit geben, sich zu rächen, die Frau zu töten und dann zu fliehen."

Auch Amnesty International hat sich hinter das Gesetz gestellt. So heißt es in einer Pressemitteilung, dass es die Gewalt gegen Frauen und Kinder sei, die Familien zerstöre, und nicht ein Gesetz, das den Opfern helfe, der Gewalt zu entgehen.


Anzeigenflut

Zahlen der Frauensonderkommissariate belegen, dass im ersten Quartal 2013 jeden Tag durchschnittlich 97 Männer wegen Übergriffen auf Frauen angezeigt worden sind. Das ist gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres ein Zuwachs von 30,7 Prozent.

Zwischen dem 21. Juni 2012 - dem Inkrafttreten des Gesetzes - und dem 28. April 2013 wurden 6.482 Fälle einschließlich 17 Frauenmorde gerichtlich verhandelt. 5.726 Männer wurden festgenommen, 1.050 wieder freigelassen. In 692 Fällen wurden Angeklagte zu Haftstrafen verurteilt, in 297 Fällen freigesprochen. Der Ausgang der übrigen Verfahren steht noch nicht fest. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.ipsnews.net/2013/05/nicaraguan-women-may-have-to-negotiate-with-their-abusers/
http://www.ipsnoticias.net/2013/05/las-nicaraguenses-tendrian-que-negociar-con-sus-maltratadores/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 4. Juni 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2013