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FRAUEN/526: "Machen Sie vor Ihrem Einsatz Ihr Testament" - UN-Instruktionen an die Mitarbeiter (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. Dezember 2013

UN: 'Machen Sie vor Ihrem Einsatz Ihr Testament' - Instruktionen an die Mitarbeiter

von Thalif Deen



New York, 20. Dezember (IPS) - Als Anoja Wijeyesekera vom Weltkinderhilfswerk UNICEF vor 14 Jahren mit der Leitung eines Mädchenbildungsprojekts in Afghanistan betraut wurde, waren die Taliban an der Macht. Dass die neue Herausforderung kein Zuckerschlecken werden würde, war ihr spätestens nach Erhalt ihrer Einstellungsunterlagen klar: Der Umschlag enthielt auch ein Survival-Handbuch und die Aufforderung, vor der Abreise ein Testament zu machen.

"Diese Instruktion zu erfüllen, war für mich eine gute Übung, um mich mental auf meinen Einsatz vorzubereiten", sagte die gebürtige Srilankerin kürzlich anlässlich der Präsentation ihres Buches 'Facing the Taliban' (Konfrontiert mit den Taliban') in New York. Darin verarbeitet sie die Erfahrungen, die sie in einem Land gemacht hat, "in dem Frauen auf die Rolle von Lustobjekten reduziert werden". Allerdings geißelt sie nicht nur die islamistischen Fundamentalisten, sondern auch die USA. Deren wahllose Bombardements hätten viele Zivilisten das Leben gekostet.

Wijeyesekera war 1997 bis 2001 als einzige Frau im UNICEF-Projektbüro in Jalalabad stationiert. Ihre Dienststelle rechne die UN zu den 'hardship non-family duty stations'. Damit sind Einsatzorte gemeint, in denen die Beschäftigten unter härtesten und gefährlichsten Bedingungen arbeiten müssen. Nach eigenen Angaben stand sie häufig kurz davor, von den Taliban als Feindin bezeichnet, festgenommen oder erschossen zu werden.

Sie berichtet in ihrem Buch von "völlig verrückten" Mullahs, von Kopf bis Fuß verschleierten Frauen, "die weniger Freiheiten als Tiere besitzen" und der Arbeit eines 'Ministeriums zur Förderung der Tugendhaftigkeit und der Prävention von Lasterhaftigkeit'. Und sie erinnert an die 85.000 afghanischen Kinder unter fünf Jahren, die an Durchfallerkrankungen gestorben sind.

Vier Jahre lang bewegte sie sich in einer ultrakonservativen patriarchischen Gesellschaft. Taliban-Vertreter hätten sich anfangs geweigert, mit ihr zu sprechen geschweige denn ihr die Hand zu schütteln. Dennoch habe sich, als sie Afghanistan 2001 verließ, eine Menge auf dem Gebiet der Mädchenbildung getan, versicherte sie im IPS-Gespräch.


Private Mädchenbildung von Taliban toleriert

The Taliban, die Frauen jedes Recht auf eine reguläre Bildung absprechen, hatten nichts gegen den von UNICEF geförderten Heimunterricht, wie Wijeyesekera erläutert. So stieg die Zahl der privat unterrichteten Mädchen zwischen 1997 und 2001 von 10.000 auf mehr als 65.000.

Nach seinem Afghanistan-Besuch im Oktober betonte auch John Hendra, Vize-Exekutivdirektor von 'UN Women', einige Errungenschaften, die im letzten Jahrzehnt erreicht werden konnten. Als Beispiel führte er die afghanische Verfassung an, in der die Gleichheit zwischen Männern und Frauen zumindest auf dem Papier festschrieben ist.

Ferner würdigte Hendra, dass 28 Prozent der Abgeordneten in der Nationalversammlung weiblich seien und Afghanistan 2003 die Übereinkunft zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung gegen die Frau (CEDAW) unterzeichnet und ratifiziert habe. Allerdings wenden Menschenrechtsorganisationen wie 'Human Rights Watch' (HRW) ein, dass das Land den darin eingegangenen Verpflichtungen auf vielen Ebenen nicht nachkommt.

Hendra würdigte ebenso die Verabschiedung eines neuen Gesetzes zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (EVAW) und den Schulbesuch von 2,7 Millionen Mädchen und Frauen, was unter den Taliban undenkbar gewesen wäre. "Allerdings gibt es noch erhebliche Lücken und Rückschläge etwa bei der Wahrnehmung der Rechte und Möglichkeiten afghanischer Frauen."

In Treffen mit Parlamentariern, Vertretern des Frauenministeriums, der staatlichen Menschenrechtskommission und anderen Akteuren forderte Hendra die vollständige Umsetzung von EVAW, eine größere Beteiligung von Frauen am Friedensprozess, an den Wahlen und an der Politik und die wirtschaftliche Förderung von Frauen in den Städten und Dörfern. Heftige Kritik übte Hendra an dem großen Ausmaß der Gewalt gegen Frauen und Mädchen und an den gezielten Morden an Journalistinnen und Regierungsvertreterinnen.


Zwischen afghanischen und pakistanischen Taliban unterscheiden

UNICEF ist es in Afghanistan gelungen, unter den wachsamen Augen der Taliban rund 4,5 Millionen Kinder gegen Polio zu impfen. Wijeyesekera wirft in diesem Zusammenhang den Mainstream-Medien vor, nicht deutlich genug zwischen moderaten afghanischen und grausamen pakistanischen Taliban unterschieden zu haben.

Wie die US-Botschafterin Rosemary Dicarlo in diesem Monat vor der UN-Vollversammlung erklärte, hat die seit der Vertreibung der Taliban aus Kabul amtierende afghanische Regierung viel für die Bildung getan. "Heute gehen fast acht Millionen Kinder zur Schule, ein Drittel von ihnen sind Mädchen", unterstrich sie.

Auch mit Blick auf die Lebenserwartung gebe es Fortschritte. Dicarlo sprach von einem Anstieg von 42 auf 62 Jahre. Die Botschafterin, die zugleich ständige US-Vizevertreterin bei den Vereinten Nationen ist, erklärte ferner, dass 60 Prozent aller Afghanen bis zur nächsten Gesundheitsstation nur noch höchstens eine Stunde unterwegs seien. Habe es 2001 so gut wie keine Mobiltelefone gegeben, seien es jetzt 18 Millionen.

Doch Manizha Naderi, Geschäftsführerin von 'Women for Afghan Women' (WAW), einer New Yorker Hilfsorganisation, ist der Meinung, dass sich am Umgang mit Frauen in Afghanistan wenig zum Positiven verändert habe. Dem afghanischen Staatspräsidenten Karsai wirft sie vor, sich nicht für die Frauen seines Landes zu engagieren. "Mit der Unterzeichnung von EVAW hat er zwar einen wichtigen Schritt getan, doch wenn es um die Umsetzung geht, ist er auf beiden Augen blind", meinte Naderi, die in Kabul geboren und in New York aufgewachsen ist.

Karsai habe versucht, die vielen, von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) geführten Frauenschutzhäuser dem Ministerium für Frauen zu unterstellen. Deren Ministerin habe offenbar auf Anweisung Karsais vorgeschlagen, alle in den Frauenhäusern untergebrachten Frauen den Männern auszuliefern, die sie zurückfordern würden. "Das käme einem Todesurteil gleich."

Außerdem habe Karsai dem Verhaltenskodex der Ulema-Räte zugestimmt, der radikal die Errungenschaften von Frauen zunichte macht und Frauen offiziell zu Besitztümern von Männern erklärt. Zudem hat Karsais Justizministerium unlängst die Wiederbelebung eines alten Gesetzes gefordert, wonach Männer und Frauen, die wegen Ehebruchs verurteilt werden, gesteinigt werden dürfen. "Erst ein massiver Aufschrei hat das Ministerium veranlasst, von diesem sadistischen Plan Abstand zu nehmen", sagte Naderi. "Doch schon die Absicht zeigt uns, dass Taliban-ähnliche Taktiken gleich hinter der nächsten Ecke lauern."

Nach dem Terroranschlag des 11. September 2011 in New York sind die USA unter George W. Bush nicht nur in Afghanistan einmarschiert, sondern haben mit ihrer Jagd auf Osama bin Laden eine Blutspur hinterlassen. "Doch mit der Taktik, Menschen einfach wegzubomben, lässt sich meiner Meinung nach kein Problem lösen", meint auch Wijeyesekera. "Damals wäre ein langfristiger Ansatz vonnöten gewesen. Aber hunderte Menschen zu töten, spielt nur den Taliban in die Hände."

Damalige US-Regierungsvertreter hätten ihr berichtet, dass zahlreiche Drohnenangriffe gegen Hochzeitskonvois geflogen worden seien, nachdem diese traditionelle Freudenschüsse abgegeben hätten.


US-Entwicklungsbemühungen ausgeblieben

Im letzten Monat hat die 'New York Times' die US-Ausgaben für Waffen und Militärtraining für die afghanischen Streitkräfte seit 2001 auf mehr als 43 Milliarden US-Dollar geschätzt. Wijeyesekera zufolge haben die USA während ihrer vierjährigen Präsenz weder in den Wiederaufbau noch in die Entwicklung Afghanistans investiert. Auch habe man es versäumt, auf die liberaleren und aufgeschlosseneren Taliban zuzugehen.

"Die Taliban wurden fälschlicherweise als homogene Organisation wahrgenommen", sagte sie und berichtet von einem buddhistischen Talib, der sich für die Zerstörung der Jahrhunderte alten buddhistischen Bambiyan-Statuen durch Mitkämpfer entschuldigt habe. Wijeyesekera übte zudem Kritik an einigen Sanktionen des UN-Sicherheitsrats, die sich ihrer Meinung nach kontraproduktiv auf die humanitäre Arbeit von UN-Organisationen ausgewirkt hätten.

Als sie Kabul 2001 verlassen habe, sei ihr der Abschied von Land und Leuten, für die sie so viel Respekt empfinde, schwergefallen, erläuterte sie gegenüber IPS. "Ich fühlte mich schuldig, sie zurücklassen zu müssen." (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.womenforafghanwomen.org/
http://www.ipsnews.net/2013/12/u-n-advice-aid-worker-write-last-will-leaving-home/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 20. Dezember 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2013