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FRAUEN/566: Indien - Lambada-Frauen machen gegen Kindstötungen und Mädchenhandel mobil (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. Januar 2015

Indien: Nicht mit unseren Töchtern - Lambada-Frauen machen gegen Kindstötungen und Mädchenhandel mobil

von Stella Paul


Bild: © Stella Paul/IPS

Lambada-Frauen, die nie zur Schule gegangen sind, passen auf, dass die jungen Mädchen ihrer Gemeinschaft nicht dem Menschenhandel zum Opfer fallen
Bild: © Stella Paul/IPS

Chandampet, Indien, 27. Januar (IPS) - Banawat Gangotri ist elf Jahre alt. Die Angehörige des Hirtenvolks der Lambada, die aus dem Dorf Bugga Thanda im südindischen Bundesstaat Telangana stammt, arbeitete vier Jahre lang als Baumwoll- und Chilipflückerin. Den hart verdienten Lohn von umgerechnet einen US-Dollar pro Tag setzte der Vater in Alkoholika um.

Seit Mitte Januar ist damit Schluss. Stunden, bevor der Vater sie nach Guntur, einem Chili-Anbaubezirk 168 Kilometer von dem Heimatort der Familie entfernt, bringen konnte, wurde Gangotri befreit und nach Devarakonda gebracht, wo sie nun die vierte Klasse besucht.

Die Einrichtung, ein Internat, wird vom 'Gramya-Ressourcenzentrum für Frauen' (Gramya) geführt. Die lokale Nichtregierungsorganisation mobilisiert seit einigen Jahren die ethnischen Lambada gegen Kinderhandel, Kinderarbeit und Kindstötungen. Alle 65 Mädchen, die in die Schule gehen, konnten aus den Klauen von Menschenhändlern oder Arbeitgebern entrissen werden. "Ich gehe gern zur Schule", sagt Gangotri. "Wenn ich groß bin, werde ich Lehrerin."

Die Chancen, dass sich ihr Traum einmal erfüllen wird, stehen nicht schlecht, seitdem es in Bugga Thanda ein Kinderschutzkomitee gibt. In insgesamt 40 Dörfern der Region gibt es inzwischen solche Kontrollgremien aus jeweils zwölf Lambada-Frauen, die Alarm schlagen, wenn Mädchen über Wochen nicht zur Schule gehen. Dann steht zu befürchten, dass sie als Arbeitskräfte eingesetzt werden oder verheiratet wurden.

Leider lässt sich das in vielen Fällen nicht verhindern. An dem Tag, an dem Gangotri befreit werden konnte, wurde die Zwölfjährige Banawat Nirosha aus dem Dorf Mausanngadda als vermisst gemeldet. Später kam heraus, dass ihre landlosen Eltern sie zum Chili-Pflücken nach Guntur mitgenommen hatten. Die Dorfbewohner schließen nicht aus, dass das Mädchen nach dem Ende der Chili-Saison in Guntur verheiratet wird.

Derartige Geschichten sind immer wieder zu hören. Doch seit es die Kinderschutzkomitees gibt, hat sich die Lage verbessert. Vor 20 Jahren kam es häufiger vor, dass Mädchen nach der Geburt getötet oder verkauft wurden.


Lambada-Mädchen besonders gefährdet

Im März 1999, nach der Befreiung von 57 Lambada-Kleinkindern in Hyderabad, der Hauptstadt von Telangana, kam im Zuge der Ermittlungen heraus, dass zwischen 1991 und dem Jahr 2000 rund 400 Säuglinge als Adoptivkinder gehandelt worden waren. In einem Land wie Indien, das jedes Jahr drei Millionen Mädchen durch selektive Abtreibungen und Kindstötungen 'verliert', sind die Töchter der Lambada besonders gefährdet.

Die Gramya-Gründerin Rukmini Rao hat im Verlauf ihrer Arbeit viel Furchtbares gesehen und auch verhindert. So konnte die Organisation Eltern, die bereits vier Töchter hatten, in einem Dorf in Telangana daran hindern, ein weibliches Zwillingspärchen zu töten. Wie Rao damals mit einer Kollegin herausfand, gab es diesem speziellen Dorf einen gravierenden Jungenüberschuss. So kamen auf 1.000 Knaben gerade einmal 835 Mädchen. Inzwischen hat sich das Verhältnis in dem Bezirk mit 938 Mädchen gegenüber 1.000 Jungen dem nationalen Verhältnis von 941 pro 1.000 angenähert.

Doch den Kinderschützern steht noch ein langer und mühsamer Weg bevor, vor allem weil die Hälfte der Indigenen des Landes unterhalb der Armutsgrenze leben. Suma Latha, die seit 14 Jahren als Gramya-Koordinatorin Lambada-Frauen zu Kinderrechtsaktivistinnen fortbildet, weiß, dass viele schwangere Frauen vor der Niederkunft nach Hyderabad reisen, um dort ihr Neugeborenes für ein paar tausend Rupien zu verkaufen. Nach ihrer Rückkehr behaupten sie dann, das Kind sei bei der Geburt gestorben.

"Solche Geschäfte werden von den Vätern und Schwiegermüttern gegen den Willen der Mutter arrangiert", weiß Latha. Als Gangotri befreit worden sei, habe ihr Vater angeboten, das Kind für 15.000 Rupien (rund 250 Dollar) herzugeben.

Mit ihrer hellen Haut und ihren braunen Augen stehen Lambada-Kinder auf dem Adoptionsmarkt hoch im Kurs. Die meisten Paare, die ein Kind adoptieren wollen, kommen aus den großen Städten und sind bereit, sehr viel Geld für ein schönes Baby zu bezahlen.

Während viele Säuglinge am Ende in Heimen großwerden, landen etliche andere in der Sexindustrie. "Für die Mittelsmänner, die Säuglinge kaufen, geht es um Geld, nicht um Moral", meint dazu Lynette Dumble, eine Wissenschaftlerin aus Melbourne, die sich seit 20 Jahren mit dem Phänomen der Kindstötungen in Indien befasst. "Wenn also die Menschenhändler aus der Sexindustrie mehr Geld bieten, werden die Mädchen an sie verkauft."


Nähe zu Lambada-Dörfern macht Hyderabad zu einer Drehscheibe des Mädchenhandels

Zahlen belegen, dass Hyderabad aufgrund seiner Nähe zu den Lambada-Dörfern zu einem wichtigen Umschlagplatz für den Kinderhandel geworden ist. Nach Aussagen von B. Prasada Rao, dem Polizeichef des an Telangana angrenzenden Bundesstaates Andhra Pradesh, nahm die Polizei im Jahr 2013 778 Kinderhändler fest und befreite 558 Opfer.

Diese Erfolge sind vergleichsweise bescheiden, wenn man bedenkt, dass der Handel mit Kindern zum Zweck der sexuellen Ausbeutung ein auf 30 bis 43 Milliarden Dollar geschätztes Geschäft ist.

Die Augen offen zu halten, dass möglichst vielen Mädchen ein solches Schicksal erspart bleibt, ist eine Sache. Wichtig ist es aber auch, langfristige Lösungen zu finden und das Problem an der Wurzel zu packen. Viele Lambada-Frauen sehen in Bildung den Schlüssel zu einem besseren Leben und drängen die Familien in den ländlichen Gebieten deshalb dazu, mehr Mädchen vom kostenfreien Unterricht oder Stipendien profitieren zu lassen.

Doch damit allein ist es nach Ansicht von Wissenschaftlern nicht getan, um zu verhindern, dass noch immer viele Mädchen vor oder nach der Geburt aufgrund ihrer Geschlechterzugehörigkeit getötet oder später verkauft werden. Ebenso wichtig sei es, marginalisierten Gemeinschaften Alternativen aufzuzeigen. Nach Regierungsangaben sind 90 Prozent der Indigenen im Land Landlose. Im Bezirk Nalgonda, wo auch Gangotris Vater ein Leben am Rande des Existenzminimums führt, besitzen 87 Prozent der indigenen Gemeinschaften kein Land.

"Wenn es nichts zu essen und kein Land zu bewirtschaften gibt, was bleibt uns anderes übrig, als unsere Kinder zu verkaufen", meint dazu Khetawat Jamku, eine 50-jährige Lambada.

Experten wie Rao halten Programme wie das 'Mahatma Gandhi Rural Employment Scheme', das auf die gesicherte Beschäftigung der ländlichen Armen an 100 Tagen im Jahr für einen Verdienst von 147 Rupien (drei Dollar) am Tag abzielt, für einen vielversprechenden Weg gegen Kinderarbeit und Kinderhandel. Doch angesichts der verbreiteten Korruption haben NGOs und Zivilgesellschaft alle Hände voll zu tun, um zur Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.

Und solange die Lambada-Frauen nicht die gleichen Landrechte erhalten wie die Männer, sind die Chancen, den Kreislauf aus Armut und Gewalt zu durchbrechen, der insbesondere die Mädchen gefährdet, gering. (Ende/IPS/kb/2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/01/not-without-our-daughters-lambada-women-fight-infanticide-and-child-trafficking/

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IPS-Tagesdienst vom 27. Januar 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2015


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