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FRAUEN/606: Mutterschaft als Saisonarbeit (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 149/September 2015
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Mutterschaft als Saisonarbeit

Gespräche mit Leihmüttern im indischen Bundesstaat Kerala

von Arathi Presenna Madhavan


Kurz gefasst: Altruismus? Selbstbestimmte Arbeit? Ausbeutung? Kommerzielle Leihmutterschaft wird sehr unterschiedlich bewertet. Eine Feldstudie im indischen Bundesstaat Kerala, bei der offene Interviews mit zwölf Leihmüttern geführt wurden, fächert die komplexen Zusammenhänge und Abhängigkeiten auf. Die Entscheidung, das Kind eines fremden Paares auszutragen, beruht immer auf einer Gemengelage von Gründen. Wer das Geschäft mit der Reproduktionskraft einschränken will, muss soziale und ökonomische Sicherheit schaffen.


Die öffentliche wie die akademische Debatte über kommerzielle Leihmutterschaft ist stark polarisiert. Die einen sehen kommerzielle Leihmutterschaft als legitime Ausübung der Autonomie der Frau und als Möglichkeit für die Leihmutter, ihre eigene Familie aus der Armut zu befreien. Die anderen betrachten Leihmutterschaft als Ausbeutung und als erniedrigende Arbeit, die reguliert oder verboten werden sollte.

Hier soll das eigene Verständnis von Leihmüttern im Mittelpunkt stehen, im Kontext der sozialen Realitäten, die zu ihrer Entscheidung für die Leihmutterschaft beitragen können. Die Berichte der Leihmütter stammen aus einer Feldstudie im indischen Bundesstaat Kerala, die ich von September 2013 bis November 2014 durchgeführt habe. Die Frauen habe ich in drei In-vitro-Fertilisations-Kliniken getroffen.

Kerala weist einige Besonderheiten auf. In dem Bundesstaat sind Gewerkschaften fest verankert; die politische Linke ist traditionell stark. Hier erhalten Frauen mehr Geld für eine Leihmutterschaft als in anderen Landesteilen. In anderen Bundesstaaten beträgt der Lohn für das Austragen eines fremden Kindes zwischen 2.850 und 7.130 Euro; in Kerala wird 8.560 bis 11.400 Euro gezahlt. Die Paare, die Leihmütter beauftragen, sind überwiegend Non Resident Keralites, Menschen, die ursprünglich aus Kerala stammen, aber in den Vereinigten Arabischen Emiraten oder in den USA arbeiten und leben, und deren Verwandte. Keralas Wirtschaft beruht zu großen Teilen auf den finanziellen Transfers dieser Gruppe; in den Bundesstaat fließen mehr solcher Transferleistungen als in jeden anderen indischen Bundesstaat. Weitere wichtige Beiträge zur Wirtschaft Keralas leisten der Tourismus, die Landwirtschaft, der Dienstleistungssektor und die Getränkeindustrie. Im Rahmen des Reproduktionstourismus erhält Kerala auch Aufträge von Paaren aus anderen Teilen der Welt.

Bisher war Leihmutterschaft in Indien in keiner Weise reguliert. Eine Wende schien sich 2013 abzuzeichnen, als der Entwurf für ein Gesetz vorgelegt wurde, der Assisted Reproductive Technology Regulation Bill. Die Präambel dieses Gesetzes formuliert als dessen oberstes Ziel, die bis dato nicht regulierten Kliniken für Assistierte Reproduktionstechnologien, die in den vergangenen etwa 20 Jahren ein enormes Wachstum verzeichneten, zu regulieren. Allerdings hat sich seitdem nichts getan. Heute gibt es immer noch keinerlei staatliche Regulierung dieses Wirtschaftszweigs.

Die Berichte der Leihmütter belegen drei unterschiedliche Grundbewertungen der Leihmutterschaft: Die einen bezeichnen sie als Akt des Altruismus, andere als autonome Arbeit und einige als aufgezwungene Arbeit unter dem Druck des Überlebens. Diese Frauen sind der Meinung, die Leihmutterschaft könne die Grundlage für eine Verbesserung der eigenen ökonomischen Situation sein.

In semistrukturierten Interviews mit offenem Ende befragte ich zwölf Leihmütter (neun während der Schwangerschaft und drei innerhalb eines Monats nach der Entbindung). Alle Frauen sind heterosexuell, fast alle sind verheiratet (nur eine ist geschieden), und alle sind Anhängerinnen des Hinduismus. Sie stammen überwiegend aus einer oberen Kaste und leben eher in städtischen Regionen. Bei den folgenden Zitaten benutze ich falsche Namen für die interviewten Frauen.

Leihmütter üben eine bescheiden entlohnte Saisonarbeit aus, meist nur 10 oder 20 Monate ihres gesamten Arbeitslebens, die dabei risikobehaftet ist. Finanzielle Schwierigkeiten und Unsicherheit und mögliche Gesundheitsgefährdung gehen mit dieser informellen Arbeit einher. Die begrenzte Zeit dieser Tätigkeit und die Art der Bezahlung (Einmalzahlung) kristallisiert sich als zentrales Motiv heraus für die Entscheidung, Leihmutter zu werden. Fast alle Leihmütter sagten aus, dass sie sich wegen finanzieller Schwierigkeiten im Alltag und Problemen, über die Runden zu kommen, für die Arbeit als Leihmutter entschieden.

Warum haben sich die befragten Frauen für eine Leihmutterschaft entschieden? Uma, 29 Jahre: "Es ist das Geld, das einen dazu bringt, alles zu tun. Die Probleme zu Hause setzen dich unter Druck. Niemand macht es, weil es Freude macht, das Kind von jemand anderem zur Welt zu bringen. Gott zeigt uns diesen Weg. Keine Frau gebärt ein Kind und gibt es weg, weil sie kein Interesse daran hat."

Oder Gadha, 33 Jahre: "Ich habe diesen Traum: Weil ich nicht studieren kann, wünsche ich mir, dass meine Kinder die beste Bildung bekommen. Sie wissen ja, wie teuer es ist, in eine gute Schule aufgenommen zu werden, und dazu die Gebühren. Was ich nicht bekommen habe, sollen meine Kinder bekommen. Darum bin ich hier. Ich habe überhaupt keine Probleme mit meinem täglichen Lebensunterhalt."

Die Arbeit, die Leihmütter und ihre Ehemänner normalerweise verrichten, ermöglicht es ihnen meistens nicht, so viel Geld zu verdienen, wie es die kurze Periode der Leihmutterschaft verspricht. Selbst wenn der Mindestlohn im Staat Kerala höher ist als in anderen Regionen, so stehen doch unorganisierte Leiharbeiter und Tagelöhner außerhalb des Geltungsbereichs des Mindestlohngesetzes und werden auf dem Arbeitsmarkt als billige Arbeitskräfte behandelt.

Unerwartete Ereignisse wie Krankheit oder der Tod eines Verdieners in der Familie brachten Frauen dazu, sich für die Arbeit als Leihmutter zu entscheiden. Da ist zum Beispiel die Geschichte von Nisha, 28 Jahre: "Mein Vater hat sehr viel Geld für meine Heirat ausgegeben, für die Mitgift und auch für die Hochzeit selbst. Nach einigen Monaten erfuhr ich, dass mein Mann eine andere Frau und ein Kind hatte. Er verließ mich, aber er gab die Mitgift nicht zurück. Mein Vater wollte nicht vor Gericht gehen, um das Geld zurückzubekommen. Da entschied ich mich, in einem privaten Krankenhaus in der Nähe als Krankenschwester zu arbeiten. Währenddessen wurde bei meinem Vater Darmkrebs diagnostiziert. Sie wissen ja, die Behandlung ist sehr teuer, und mein Vater hatte bereits wegen meiner Hochzeit riesige Schulden. Ich bin dafür verantwortlich, die Schulden zurückzuzahlen, die durch meine Heirat entstanden sind, und ich muss auch Geld für die Behandlung meines Vaters aufbringen. Was sonst hätte ich tun können? Ich kann nicht ins Ausland gehen und dort arbeiten, denn mein Vater braucht meine Zuwendung und Betreuung."

Einige interviewte Frauen brachten ihre Entscheidung, Leihmutter zu werden, mit altruistischen Erwägungen der Leihmutterschaft in Verbindung; damit, dass sie einem Paar in einer Notlage halfen, in dem sie ihren Körper verliehen: "Alle anderen sind natürlich durch ihre Armut und Verzweiflung zu diesem Job gebracht worden. (...) Der Druck treibt Menschen dazu, Leihmutter oder Eizellenspenderin oder sogar Sexarbeiterin zu werden. Sie opfern ihr Leben für die Familie und die Kinder. Auch ich habe das getan. Und ich habe auch Mitgefühl für das Leid dieser kinderlosen Paare. Sie haben mich aus dem Ausland angerufen und von ihrem Problem der Kinderlosigkeit erzählt." [Bindu, 29 Jahre]. Eine andere Leihmutter betont das altruistische Element ihrer Beziehung zu den Auftraggeber-Paaren noch deutlicher: "Alles, was mir fehlt, ist Geld, und das ist gar nichts im Vergleich zum Leid derjenigen hier, die seit 10 oder 15 Jahren kinderlos geblieben sind. Ich verleihe meinen Leib, um dabei zu helfen, das Trauma eines Paares zu beenden." [Maya, 26 Jahre]

Der informelle Sektor ist in Indien der größte Arbeitgeber für Frauen, und er ist durch lange Arbeitszeiten, schwere Arbeit, geringe Bezahlung und das Fehlen sozialer Sicherheit gekennzeichnet. Die ausbeuterischen Bedingungen in diesem Sektor wurden noch verschärft durch die Liberalisierungspolitik der Regierung zu Beginn der 1990er-Jahre, die auch zum Zusammenbruch des landwirtschaftlichen Primärsektors führte. In diesem Kontext tauchte die Leihmutterschaft als eine der möglichen Optionen der überwiegend informellen Tätigkeiten für Frauen auf.

Ist Leihmutterschaft Arbeit? Bindu drückt es so aus: "Das ist definitiv Arbeit. Ich verstehe es als Arbeit, aber es ist nicht die harte Arbeit, die ich normalerweise für mein Einkommen verrichte. Natürlich ist mein Körper hier 24 Stunden am Tag beteiligt. Und ich weiß, dass es auch ganz spezielle medizinische Risiken gibt."

Doch viele andere betrachten es von einem konventionellen Standpunkt der geschlechterspezifischen Arbeit, so wie eine traditionelle Aufgabe, die einer Frau zugeschrieben wird und die wie Hausarbeit, Pflegearbeit oder reproduktive Arbeit unsichtbar bleibt und entwertet wird.

Eine Frau versuchte, Leihmutterschaft mit anderen Arbeiten zu vergleichen: "Wenn du in einer Notlage bist, ist es in Ordnung, Dinge zu tun, die nicht so normal und gewöhnlich sind. Not kann eine Person dazu bringen, alles zu tun, doch das ist in Ordnung. So wie manche Frauen Hausarbeit für andere verrichten müssen, sie gehen hinaus und arbeiten in Häusern. Das ist besser als das hier. Wieso? Die Leute in den Häusern können dich wie den letzten Dreck behandeln und dich sogar beschuldigen, Sachen gestohlen zu haben. Das erstickt einen richtig. Ich habe das nie getan." [Priya, 31 Jahre]

Leihmütter und ihre Ehemänner verwendeten die typische Sprache des formellen Beschäftigungssektors, um die finanziellen Transaktionen, die mit der Leihmutterschaft verbunden sind, zu beschreiben. "Jedes Mal, wenn wir vor und nach der Entbindung das Krankenhaus besuchten, gab mir das Auftrag gebende Paar eine Reisekostenvergütung. Nach der Entbindung gaben sie mir eine batta für meine medizinische Versorgung. Ich habe hier eine Freundin gefunden, sie hat vor einem Monat ein Baby zur Welt gebracht, und sie erzählte mir, dass sie batta bekam, und schlug vor, dass ich das auch von meinem Auftraggeber-Paar verlange." [Maya, 26 Jahre] Reisekostenvergütungen werden normalerweise an Regierungsangestellte gezahlt, die eine offizielle Veranstaltung besuchen, und eine batta ist eine Sonderzahlung oder Vergütung aus besonderem Anlass.

Die Leihmutterschaft- und Schwangerschaftsverträge, die die von mir interviewten Leihmütter unterschrieben hatten, zeigten deutlich die vielen Möglichkeiten der Ausbeutung von Leihmüttern. Immer wieder gibt es denn auch Rechtsstreitigkeiten. Diese Situation hat sich zu ändern begonnen, seit es die Möglichkeit gibt, ein Embryo des Auftrag erteilenden Paares in die Leihmutter zu implantieren (gestationale Leihmutterschaft). Dass nicht mehr zwingend eine eigene Eizelle der Leihmutter verwendet wird und diese genetisch nicht mit dem Baby verwandt ist, hat die Zahl der juristischen Konflikte verringert.

Die Verträge über internationale Leihmutterschaft beruhen im Wesentlichen auf der Idee formeller Gleichheit. Ausgeblendet werden dabei offenkundige Hierarchien auf der Grundlage von Klasse, Kaste, Rasse, Religion und Region/Nation. Für die Praxis der kommerziellen Leihmutterschaft ist es jedoch kennzeichnend, dass es die "Bereitschaft" zur Leihmutterschaft vor allem in jenen Teilen der Welt gibt, in denen die sozialen und kulturellen Optionen aufgrund der ökonomischen Ungleichheit verzerrt sind: wie in Osteuropa und Indien. Aus diesen Regionen kommen relativ billige Leihmutterschaft-Babys.

Welche Wirkung haben die Gespräche mit den Leihmüttern auf mich persönlich gemacht? In meiner Dissertation habe ich mich theoretisch mit Arbeitsaspekten der Leihmutterschaft befasst und argumentiert, diese sei "reproduktive Sklaverei". Ich hatte ein moralisches Urteil gefällt: Leihmütter seien der totalen Ausbeutung ausgesetzt, haben keine Fürsprecher oder Vertretung. Meine Interaktion mit den Leihmüttern während der Feldstudie führte zu einem ausgewogeneren und komplexeren Verständnis von Leihmutterschaft. Bis heute werden die Stimmen von Leihmüttern in der akademischen Welt in einer Weise interpretiert, die einseitig auf dem persönlichen Urteil des Forschenden basiert. Die Feldstudie hat mich nun bestärkt, den bisher ungehörten Stimmen zuzuhören, anstatt sie von Beginn an im Sinne der eigenen Perspektive zu interpretieren. Nur so können die komplexen Zusammenhänge und Nuancen von Ausbeutung und Abhängigkeit verstanden werden.

Eine Forschung auf der Grundlage einer solchen Herangehensweise legt dann nahe, genauer zu schauen: An erster Stelle steht das Dilemma der Frauen, die sich für die Leihmutterschaft entscheiden, um ihre Familie zu versorgen, wenn sie ausschließlich diese Option haben, zusätzliche Einnahmen zu erzielen. Diejenigen, die sich an der Debatte beteiligen, sollten zunächst den Altruismus dieser Frauen ihrer Familie gegenüber thematisieren. Da wir ein System sehen, das sie in diese Arbeit zwingt, ist der Staat aufgefordert, ihr Recht auf ökonomische und soziale Sicherheit zu gewährleisten. Außerdem sollten wir Informationen bereitstellen, die die Sicht der Frauen auf die Fortpflanzung, Kinderrechte, Familienbeziehungen und den sozialen Kampf gegen alle Arten von Ausbeutung erweitern; so können sich die Frauen an dem größeren Kampf für Demokratisierung und ein besseres Leben beteiligen. In diesem Prozess können Frauen lernen, reguläre und angemessene Arbeit zu fordern, die ihnen hilft, ihre Würde, Integrität und ihre Rechte als Arbeitende zu bewahren, und sich mit Fragen der Gleichberechtigung auf allen Ebenen auseinanderzusetzen.


Arathi Presenna Madhavan ist Associate Fellow am Council for Social Development in Neu-Delhi und zurzeit Stipendiatin in der WZB-Abteilung Global Governance. Die Juristin wurde 2012 promoviert mit einer Arbeit über medizinische und rechtliche Aspekte der Leihmutterschaft in Indien.
arathi.pm@wzb.eu


Literatur

Qadeer, Imrana: "Benefits and Threats of International Trade in Health: A Case of Surrogacy in India". In: Global Social Policy, 2010, Vol. 10, No. 3, pp. 303-305.

Qadeer, Imrana / John, Mary E.: "The Business and Ethics of Surrogacy". In: Economic and Political Weekly, 2009, Vol. 44, No. 2, pp. 10-12.

Rao, Mohan: "Why All Non-Altruistic Surrogacy Should Be Banned". In: Economic & Political Weekly, 2012, Vol. 47, No. 21, pp. 15-18.

Sarojini, Nadimpally / Marwah, Vrinda / Shenoi, Anjali: "Globalisation of Birth Markets: A Case Study of Assisted Reproductive Technologies in India". In: Globalization and Health, 2011, Vol. 7, No. 1, pp. 27.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 149, September 2015, Seite 32-35
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2015

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