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FRAUEN/608: Ballfieber in Bethlehem - Mädchensport als Selbstbewusstseinstraining (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 133, 3/15

Ballfieber in Bethlehem

Mädchensport als Selbstbewusstseinstraining

von Agnes Fazekas


Groß werden mit dem Nahostkonflikt, Hineinwachsen in ein eingesperrtes Land - da bleibt wenig Raum für eigene Träume. Besonders wenn man ein Mädchen ist. Aber seit in Bethlehem das erste weibliche Fußballteam gegründet wurde, wird hier nicht nur für den Erfolg auf dem Feld trainiert - der Fußball macht die Mädchen auch in der Gesellschaft stark. Das Sommercamp der Dyar Akademie, das von Brot für die Welt Österreich finanziell unterstützt wird, ist für viele nur der erste Kick.


Tatiana brüllt. Sie hat beide Arme in die Luft gerissen, ihr Pferdeschwanz hüpft: "Goaaaaaaaal!!!" Tatiana ist sieben Jahre alt und Palästinenserin. Eine junge Frau hält ihr die Hand hin für ein High Five, um ihren Hals hängt eine Trillerpfeife: Sarab ist eine der ersten Fußballtrainerinnen im Westjordanland. Ein Dutzend Mädchen rennen an diesem Morgen in Shorts durch eine Halle in Bethlehem. Man sieht es ihnen nicht an, aber für viele ist es neu, sich auf dem Sportplatz auszutoben. In den meisten palästinensischen Schulen ist der Turnunterricht für Mädchen eher eine Farce.

"Manche Leute denken, Sport schadet der Weiblichkeit", sagt Rami Khader. Er ist der Manager der Dyar Akademie im Dar al Kalima College, einem Förderzentrum für Kinder und Frauen, und will seinen Landsleuten nachhaltig beweisen, dass das Unsinn ist. In der Akademie koordiniert er neben einer gemischten Theaterkompanie vier Frauenfußballteams und neuerdings auch eine weibliche Basketballgruppe. Die Sporthalle ist gerade erst eingeweiht worden. Bis vor kurzem spielten die Mädchen und Frauen draußen auf dem Asphalt. Es gibt nur einen Fußballrasen in der kleinen Stadt südlich von Jerusalem, und Khaders Anfragen wurden immer wieder abgeschmettert: Frauen auf dem Grün, das schien den Männern zu absurd, um überhaupt darüber nachzudenken. "Jetzt wollen die Männer bei uns spielen, weil es hier schön kühl ist, aber das ist nicht Zweck der Anlage", sagt Khader.


Widerspruch zu Traditionen

Seit zwei Jahren bietet die Dyar Akademie in den Sommerferien Sport-Camps für junge Mädchen an, unter dem Motto "The Sky is the Limit" - um hineinzuschnuppern in eine Freiheit, für die es sich zu kämpfen lohnt. Die Mädchen lesen in Facebook von der Möglichkeit, zwei Wochen Fußball zu spielen, oder hören es, wie die zehnjährige Gazel, von einer Freundin. Wie ein Lauffeuer hat sich das Angebot über Pausenhöfe und Smartphones verbreitet. "Ausgerechnet Fußball", sagte Gazels Vater und schüttelte erst einmal entschieden den Kopf. "Das ist nichts für Mädchen."

Im muslimisch geprägten Westjordanland ist es eine Seltenheit, wenn Frauen Fahrrad fahren; die Eltern wollen ihre Töchter am liebsten rund um die Uhr überwachen. Gerade in den ärmeren Nachbarschaften im Umland von Bethlehem und in den Flüchtlingslagern, aus denen einige Mädchen kommen, klammert man sich an tradierte Normen. "Schau es dir an", bat Gazel ihren Vater. Er begleitete sie tatsächlich zum Training. Danach sagte er: "Du bist gut, du solltest weitermachen!"

Wer dabeibleibt, kann nach dem Camp auch regelmäßig in der Akademie trainieren und schlendert vielleicht bald so lässig über den Platz wie die 16-jährige Lorin, die im vergangenen Jahr mit ihrem Team den Meisterpokal im Westjordanland geholt hat. "Unser zweiter Messi", nennt Khader sie, und Lorin bearbeitet heftig ihren Kaugummi, um nicht versehentlich zu grinsen. Khader hätte auch sagen können: "Unsere zweite Honey Thaljieh." Denn sie ist das eigentliche Vorbild der Mädchen, der erste weibliche Fußballkapitän Palästinas - und die Ikone dieser Revolution der Frauen.


Sport als Strategie des Widerstands

Schon als kleines Mädchen hatte Honey Thaljieh die Nachbarschaft in Aufruhr versetzt, weil sie auf der Straße mit den Jungs kickte. Als die zweite Intifada ausbrach, war sie ein Teenager und der Alltag plötzlich eingefroren, es gab weder Strom noch Wasser, dafür die abendliche Sperrstunde. Ihr Cousin wurde mitten in Bethlehem getötet, und Thaljieh wollte irgendetwas unternehmen. "Ich dachte, der Fußball könnte zeigen, dass wir uns nicht unterkriegen lassen." Zwei Jahre später gründete sie an der Universität die erste Frauenmannschaft. Und wiederum zwei Jahre später wurde das Team als Nationalmannschaft anerkannt.

"Wir haben angefangen, die Umstände, in denen wir leben, herauszufordern", sagt Thaljieh. Die Umstände - das ist nicht nur die Rolle der Frau, es ist die Besatzung, das Gefühl, in einem eingesperrten Land zu leben. Und in diesem Sommer sind es vor allem die Bilder aus Gaza, von toten Kindern und ausgebombten Häusern in dem Palästina auf der anderen Seite von Israel.

Fußball ist für die Mädchen nicht nur Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und mit der Mannschaft, es ist ein Ventil - und eine Metapher fürs Leben. Gestern haben sie nach dem Training über den Krieg gesprochen. "Ich musste nachts weinen", sagte eines der Mädchen. "Aber am Morgen bin ich aufgewacht und dachte, jetzt geh ich kicken." Ein anderes Mädchen fragte sich, was die Spielerinnen in Gaza im Moment machen. "Sie öffnen ihren Blick", glaubt Khader. Die weite Welt liegt hinter den israelischen Checkpoints und oft jenseits der Vorstellungskraft. "Wir baden im Meer", sagen die Kinder, wenn als Abwechslung zum Bolztraining ein Besuch im kleinen Schwimmbecken der Akademie auf dem Programm steht.

Ausflüge nach Ramallah, zum Badesee und Workshops stehen neben dem Training auf dem Programm. Aber die Mädchen sollen nicht nur konsumieren. "Wir wollen, dass sie das Selbstbewusstsein vom Feld in den Alltag mitnehmen und weitergeben." Aber Selbstvertrauen aufbauen, das bedeutet auch: die eigene Komfortzone verlassen, dazu stehen, wenn gelästert wird, auf dem Schulhof Prügel von den Jungs einstecken, weil man mitspielen will. "Das ist gut", sagt Khader. "Dann können die Lehrer_innen nicht mehr ignorieren, dass Handlungsbedarf besteht." Schritt für Schritt ändere sich so die Rolle der Frau.


Frauensport als Herausforderung für Familie und Gesellschaft

Khader sieht im neu erwachten Ehrgeiz von Vätern wie dem von Gazel einen großen Fortschritt. "Noch vor ein paar Jahren waren es die Mütter, die sich gegen die Männer durchsetzten, damit ihre Töchter bei uns mitmachen können, aber jetzt kommen die Väter selbst zu uns. Sportliche Leistung bekommt einen Stellenwert in Palästina, auch für Frauen." Dieses Jahr waren es über 80 Familien, die ihre Töchter zu den zweimal zwei Wochen Sommercamp anmeldeten, zu einem symbolischen Beitrag von vier Euro.

Doch selbst wenn an diesem Morgen alles so einfach scheint, Khader weiß, dass es für einige der Sportlerinnen schnell wieder vorbei sein kann. Wenn sie von Kindern zu Frauen werden, scheint es manchen Familien nicht mehr schicklich, sie übers Feld rennen zu lassen. Spätestens wenn die Heirat ansteht, beginnen die Nachbarn zu tuscheln. "Manche kommen plötzlich mit Kopftuch und am nächsten Tag dann gar nicht mehr", sagt Khader.

Um für diesen Moment gewappnet zu sein, üben die Mädchen in einem Workshop, ihre Wünsche zu artikulieren. "Fußball ist so emotional für sie, dass es ihnen oft schwerfällt, den Eltern ruhig zu erklären, wieso es so wichtig für sie ist", erklärt Social-Skills-Trainer Osama. Er hält keine Vorträge, sondern arbeitet mit Spielen und Übungen aus der Schauspielschule. "Erst war es ihnen peinlich, aber jetzt kommen sie gern zu mir", sagt Osama. Kein Wunder, 90 Minuten purzeln und springen die Kinder durch den kleinen Tanzsaal der Akademie, üben vor dem Spiegel Siegerposen und schreien ihre Namen in den Raum.


Zur Autorin: Agnes Fazekas ist freie Journalistin und lebt in München und in Tel Aviv. Im Auftrag von Brot für die Welt Österreich besuchte sie das Sportcamp für Mädchen des Dar al Kalima College.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 133, 3/2015, S. 33-34
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2015

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