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FRAUEN/769: Empowerment von syrischen Frauen für eine zukünftige politische Partizipation (frauen*solidarität)


Frauen*solidarität - Nr. 145, 3/18

Wenn der Krieg vorbei ist
Empowerment von syrischen Frauen für eine zukünftige politische Partizipation

von Ishraga Mustafa Hamid


Seit 2011 ist Krieg in Syrien. 500.000 Menschen sind bereits gestorben, viele Menschen sind geflüchtet oder befinden sich auf der Flucht. Einige haben in Europa, die meisten in den Nachbarländern Zuflucht gefunden. Die große Frage lautet, wie lange der Krieg noch dauern wird und wie eine Zukunft danach aussehen kann. Welche Politikform wird es geben? Werden Frauen in diesem Syrien einen aktiven Part in der Politik übernehmen können? In einem Flüchtlingslager in Antakya/Türkei stellen sich Frauen diese Fragen schon heute.


Im Juli hatte ich die Gelegenheit, in Antakya/Türkei mehrere Workshops für syrische geflüchtete Frauen - u. a. zum Thema politische Partizipation - abzuhalten(1). Das Ziel des sogenannten Balsam-Projekts, in dessen Rahmen ich dort war, ist es, den Frauen eine aktive Rolle in der Politik, in der Zivilgesellschaft, im Friedensprozess und im Wiederaufbau ihres Heimatlandes zu ermöglichen. Frauen sollen dazu ermutigt oder darin bestärkt werden, in Zukunft aktiv an der Politik teilzunehmen.

Unter der Leitung von Marie-Therese Kiriaky wurde das Balsam-Projekt vor 14 Jahren ins Leben gerufen. Mit ihr arbeitet ein multikulturelles Team aus Freiwilligen, die ihre Zeit und ihre Fähigkeiten dafür verwenden, das Leiden syrischer Flüchtlinge zu lindern. In der Grenzregion zwischen Syrien und der Türkei werden Projekte in neun Dörfern durchgeführt.


Visionen und Ziele benennen

Mein Workshop zu politischer Partizipation im Juli hatte das Ziel, Diskussionen der Teilnehmerinnen anzustoßen, gemeinsam über Strategien für die Zeit nach dem Krieg nachzudenken und die syrischen Frauen darin zu bestärken, sich auf diese Zeit vorzubereiten.

An dem Workshop nahmen dreißig Frauen unterschiedlichen Alters und auch Mädchen teil. Die Frauen und Mädchen wurden in fünf Arbeitsgruppen aufgeteilt, ausgehend vom Leitfaden des Workshops: Was bedeuten Empowerment und politische Partizipation? Welche Schwierigkeiten, Strategien und Visionen für die Zukunft gibt es? Was für neue Gesetze bzw. Rechte braucht es, damit Frauen in der Politik und auch in der Zivilgesellschaft aktiv sein können?

Die politische Partizipation beginnt in der Familie, sie ist Teil der Erziehung. Frauen besitzen die Fähigkeiten, aktiv Politik zu machen. Doch sie brauchen auch Selbstvertrauen, Ziele, mit denen sie sich identifizieren können, und klare Pläne, sie müssen mutig sein, sich Wissen über die aktuelle Situation in Syrien aneignen und die Vorgänge dort studieren. Empowerment von Frauen in der politischen Partizipation setzt Selbst-Empowerment voraus. Doch es gibt Hindernisse, wie etwa die von der Gesellschaft vorgeschriebenen Rollen für Frauen, dass sie für die Kindererziehung geschaffen seien und dafür, die Familie glücklich zu machen.

Ein weiteres Hindernis ist, dass die meisten Frauen wenig über Politik wissen, weil sie nicht genügend Erfahrungen haben. Um diese Hindernisse überwinden zu können, sollen Netzwerke unter Aktivistinnen aufgebaut und Kontakte zu NGOs mit politischen Zielen geknüpft werden.


Hindernisse überwinden

Über diese Fragen und Thesen haben die Frauen und Mädchen drei Stunden lang diskutiert. Unter den Teilnehmerinnen waren Anwältinnen, Lehrerinnen, Studentinnen und Hausfrauen. Alle fanden es wichtig, an der Politik zu partizipieren. Partizipation garantiert ihrer Meinung nach Demokratie. Es war ihnen wichtig, dass das politische Bewusstsein von Zuhause aus in der Erziehung entwickelt werden sollte. Es ist ihnen klar, dass es viele Hindernisse gibt. Und dennoch haben sich Frauen in Syrien schon immer in der Politik engagiert.

Tradition, Patriarchat und Erziehung verhindern die Partizipation von Frauen in der Politik. Traditionell werden Frauen ja bestimmte Rollen zugeschrieben, sie werden darauf vorbereitet, Mutter und Hausfrau zu sein. Aber die Frauenbewegung in Syrien hat dagegen jahrelang gekämpft, und es konnten viele Rechte für Frauen gesichert werden. Ihnen ist klar und bewusst, dass der Krieg in Syrien sehr schlechte Auswirkungen auf das Leben der Menschen, vor allem auf das der Frauen hat. Darunter leiden besonders jene Flüchtlingsfrauen, die auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen aktiv waren. Jetzt als Flüchtlinge stehen sie vor Problemen wie mangelnde Gesundheitsversorgung, Kinderarbeit, Straßenkinder, Schulabbruch, Gewalt, Behinderung, sexuelle Belästigung, physische und psychische Ausbeutung, Angst vor Abschiebung (wenn sie nicht offiziell registriert sind), Armut usw. Auch Angst vor Politik ist ein Hindernis, und diese Angst muss abgebaut werden.

Die Teilnehmerinnen haben Pläne und Visionen für die Zukunft bezüglich politischer Partizipation. Eine Strategie wird aber nur langsam entwickelt, da der Krieg so viel vernichtet hat und der Wiederaufbau viele Jahren dauern wird. Zu einem zukünftigen politischen System bzw. einer Verfassung gab es zwei Meinungen. Die eine Vorstellung ist die Scharia, die andere eine demokratische Verfassung bzw. ein Gesetz, vor dem alle Menschen gleichberechtigt sind.

Die Leiterin des Amal Zentrums, Amal Al Nasin, hat zu diesem Punkt der Diskussion einen wichtigen Beitrag geleistet: "Wir müssen viel darüber diskutieren, und ich finde, vor allem nach dem Krieg ist es enorm wichtig, das politische Bewusstsein von Frauen zu stärken und sie zu unterstützen und kritisch darauf zu schauen, wie Frauen die wichtigen Entscheidungspositionen erreichen können. Oft wurden und werden Frauen von politischen Entscheidungen von vornherein ausgeschlossen, daher müssen wir weiterkämpfen. Ich sehe, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen in der aktuellen Situation in Syrien eine wichtige Rolle für die politische Stärkung spielen, für das Empowerment im wirtschaftlichen und rechtlichen Bereich."


Hoffnung bewahren

Ich gab im Workshop Input zum Thema politischer Islam, da anhand der Erfahrungen, die die Frauen im Sudan durch die Islamisierung der Politik gemacht haben, sichtbar wird, dass fast alle erkämpften Rechte verloren gegangen sind. Dieser Punkt war ein Brennpunkt in der Diskussion.

Es gab viele wertvolle Diskussionen über die Geschichte der Frauen in der syrischen Politik sowie über den Krieg und die Vernichtung des Landes. "Wir brauchen mehr Frauen in der Politik, die unsere Stimmen hörbar machen. Wir haben sehr viel erlitten und leiden immer noch, aber wir geben nicht auf, wir nähren aus unseren Schmerzen unsere Hoffnung", sagte Kefah Ahmad Asaad, eine ehemalige Lehrerin.


Anmerkung:
(1) Veranstalter waren der Verein für Arabische Frauen in Österreich (Arab Women Austria) und das Amal Zentrum in Antakya/Türkei. Das Amal Zentrum hat viel Erfahrung in der Arbeit mit Frauen, die Gewalt und Krieg überlebt haben.

Zur Autorin:
Ishraga Mustafa Hamid ist promovierte Politikwissenschaftlerin, Schriftstellerin, freie Journalistin und Menschen- und Frauenrechtsaktivistin. Sie lebt und arbeitet in Wien.

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Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 145, 3/2018, S. 22-23
Text: © 2018 by Frauensolidarität / Ishraga Mustafa Hamid
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Februar 2019

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