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GENDER/031: Vorzeigeland Argentinien? (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 132, 2/15

Vorzeigeland Argentinien?
Über das Ehegesetz und die Zukunft des demokratischen Prozesses

Von Renata Hiller


Im Jahr 2010 wurde in Argentinien, im Süden des Cono Sur 1, das Gesetz 26.618 über die Zivilehe - eher bekannt als "egalitäre Ehe" - verabschiedet, das lesbische und schwule Paare berechtigt, die Ehe zu gleichen Bedingungen wie heterosexuelle Paare zu schließen. Damit war Argentinien das erste Land in Lateinamerika, das so ein progressives Gesetz erlassen hat. Der folgende Artikel gibt einen Überblick über den Prozess und die Merkmale der Gesetzeswerdung.


Das Verfahren der staatlichen Beratung über die homosexuelle Ehe dauerte zwar nur wenige Monate - von Oktober 2009 bis Juli 2010 -, dennoch kam es während dieses Zeitraums zu mehreren Problemen. Zum Beispiel gab es von Beginn an Umgruppierungen der an den Rechtsstreitigkeiten teilnehmenden Akteur_innen. Dennoch konnte das Gesetz durchgebracht werden, und nun können Lesben und Schwule in Argentinien heiraten und Kinder adoptieren.


Diskussion mit Hebelwirkung

Im Verlauf des Prozesses zeigte die LGBT-Bewegung - treibende Kraft der Initiative - ihre Fähigkeit, Allianzen mit politischen Persönlichkeiten, Größen der künstlerischen Welt, Gewerkschaftsanführer_innen bis hin zu einigen Akteur_innen - bis dahin undenkbar - aus dem religiösen Umfeld, die sich der Initiative anschlossen, einzugehen. Reaktionäre Gruppierungen bildeten im Gegensatz dazu einen immer weniger überzeugenden Diskurs - im Vertrauen darauf, dass sich traditionelle Institutionen (die Kirchen und konfessionelle Bildungszentren) ihrem Anliegen anschließen würden.

Am Beginn der Verhandlungen wurden auch andere Formen der rechtlichen Anerkennung schwuler und lesbischer Paare - wie Verträge, zivile Bindungen, Pakte des Zusammenlebens - diskutiert. Im Laufe der Zeit wandelte sich die Definierung des Problems - sowohl durch Aktionen seiner Verteidiger_innen als auch seiner Gegner_innen - nach und nach in eine Debatte, allerdings nicht über die Rechte und Sicherheiten, sondern in eine grundlegende Diskussion über die Gleichheit von Staatsbürger_innen. Daher konnte die staatliche Antwort nur eine Reform des Ehewesens sein, da jedweder andere Ausgang als diskriminierende Behandlung interpretiert werden konnte. Anders betrachtet war die Auseinandersetzung um die Erweiterung der ehelichen Institution ebenso ein beispielhaftes Vorgehen, um andere Streitigkeiten und gegenwärtige Konflikte in Argentinien zu beobachten. Denn während des gesamten Prozesses wurden die eigenen demokratischen Spielregeln in Frage gestellt und die Grenzen des institutionellen politischen Raums erweitert.


Analyse des Prozesses

Die Analyse der Streitigkeiten rund um das Gesetz 26.618 zeigt ambivalente Ergebnisse, welche im Zusammenhang mit der Konstruktion der Demokratie in unserem Land steht. Dieser Prozess bestätigt, dass eine soziale Bewegung - in diesem Fall die LGBT - die Fähigkeit besitzt, eine politische Debatte voranzutreiben und normative Rahmenbedingungen zu verändern. Gleichzeitig wurden, wie sich zeigte, Koalitionen und neuartige politische Identitäten geschaffen und informelle öffentliche Räume mobilisiert. Das wiederum hatte zur Folge, dass sich die Diskussion in jede Ecke, an jeden Tisch im Kaffeehaus und in jeden beliebigen Unterrichtsraum verlagerte. Letztendlich wurde der politische Charakter der Auseinandersetzung mit Gleichheit aufs Neue bestätigt. Eine Vorstellung von Gleichheit nämlich, die nicht auf identischen Parametern (A ist gleich B) gründet, sondern auf dem Grundsatz der gerechten Behandlung seitens des Staates gegenüber allen - auch und insbesondere wenn etwas nicht der Norm entspricht.

All das trägt zur Demokratisierung bei, in der soziale Normen und politische Mechanismen hinterfragt werden können. Damit zeigt sich die soziale Ordnung als Produkt politischer Tätigkeiten. Der Prozess um die Ehe homosexueller Paare setzte nicht nur den Zugang Schwuler und Lesben zur Institution Ehe aufs Spiel und damit ihr Recht oder die Legitimität, Kinder zu erziehen, sondern wurde zugleich zu einer Debatte über das Recht auf aktive Teilnahme an der Gesellschaft.

Zum anderen zeigte der Prozess auch Schattenbereiche auf. Es war nur möglich, diesem Thema eine politische Bedeutung zu verleihen und bestimmte Fragen öffentlich zu behandeln, weil einige besonders konfliktreiche Punkte ausgelassen wurden, beispielsweise die Gewalt innerhalb der Partner_innenschaft, die als Verbindung von Liebe und Fürsorge verstanden wird, auch wenn dies vielfach nicht der Fall ist.


Der richtige Zeitpunkt

Zudem muss erwähnt werden, dass die Diskussionen um die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare zu einer Zeit in die institutionelle Agenda aufgenommen und behandelt werden konnten, als sich die Repräsentationsebene in der Krise befand. In diesem Kontext ist die Legitimationskrise der Parteien und des politischen Systems in Erinnerung zu rufen, die unser Land zu Beginn der 2000er-Jahre durchlebte und bis dato wie ein Gespenst darüber schwebt(2). Eine Antwort auf eine Forderung der Staatsbürger_innen (in diesem Fall die lesbische und schwule Ehe) geben zu können. Gleichzeitig konnte das Problem ohne Gegner_innen und damit ohne Verlierer_innen gelöst werden: Auch wenn während des Prozesses gegensätzliche Absichten unmissverständlich blieben, wurde der Antrag so bearbeitet, dass "alle gewannen". Das Recht wurde ausgeweitet, ohne irgendwen zu benachteiligen. Dies erlaubte es, die Reform im Licht eines mehr oder weniger unaufhaltsamen Fortschritts zu sehen, in den sich vermeintlich moderne Länder erst begeben müssen.


Lernen für die Zukunft

Insofern weist das Verfahren auch auf Grenzen des politisch Bearbeitbaren hin und verlangt nach einer dem Gegensatz entledigten demokratischen Lösung, deren Ergebnis sich als Produkt eines Konsenses auftut. Der Konflikt als konstituierendes Element von Gesellschaften und Politik bleibt einem Zusammenprall modernisierender und traditioneller Vorschläge überlassen. Das Ergebnis des Schlagabtausches basiert auf Argumenten der moralischen Gerechtigkeit. Zukünftig heißt es herauszufinden, in welchen Zusammenhängen dieses Ehegesetz bei anderen Streitigkeiten, die mit Sexualität und Demokratisierungsprozessen verbunden sind, bei der Diskussion helfen und eingebracht werden kann.


ANMERKUNGEN:
(1) Der Cono Sur (Südkegel) umschließt die südlichsten Länder Lateinamerikas. In der Regel sind damit Argentinien, Chile und Uruguay gemeint.
(2) Zwischen 1998 und 2002 gab es eine Wirtschaftskrise in Argentinien, deren Folgen bis heute noch zu spüren sind. 2001/02 kam es zum Zusammenbruch des Finanzsystems. Der Präsident Fernando de la Rúa trat zurück. Es folgte politische Instabilität.


ZUR AUTORIN:
Renata Hiller hat einen Abschluss in Politikwissenschaft und ein Doktorat in Sozialwissenschaften der Universität von Buenos Aires. Ihr Forschungsgebiet sind die Zusammenhänge zwischen Sexualität und Politik. Sie lebt in Comodoro Rivadavia, einer Öl-Stadt in Patagonien, Argentinien. Dort ist sie Professorin für Soziologie an der Nationalen Universität von Patagonien San Juan Bosco.

Übersetzung aus dem Spanischen: Katharina Hartl

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 132, 2/2015, S. 9-10
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2015

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