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GENDER/057: Trans+Gender - Ein-, Aus- und Angrenzungen eines aktivistischen Konzepts (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 144, 2/18

Trans+Gender
Ein-, Aus- und Angrenzungen eines aktivistischen Konzepts (1)

von Persson Perry Baumgartinger


Ein für die TransBewegung und die Trans Studies wichtiger Begriff ist "Transgender". Der Begriff hat verschiedene Entstehungsgeschichten und wird heute noch sowohl als Selbstbezeichnung wie auch als Oberbegriff verwendet, auch wenn er immer öfter von Trans, Trans_ oder Trans* abgelöst wird. Das Kompositum TransGender hat verschiedene Kritik erfahren: Abgesehen von seiner Entstehung im Rahmen von gewaltvollen, pathologisierenden medizinischen Praktiken an Inter*- und Trans*Personen (Stichwort gender) wird es auch als ein westlicher/eurozentristischer/weißer(2) Oberbegriff kritisiert.
Die Geschlechterforschung befindet sich hier in einem Dilemma: Einerseits sehen sich feministische, queere, Trans*- und Inter*-Forschung bzw. Aktivismen als emanzipatorisch, depathologisierend und als kritische Gegenentwürfe zu einer diskriminierenden und machtvollen Wissenschaftspraxis. Andererseits bauen sie grundlegend auf diesem pathologisierenden, menschenunwürdigen und eurozentristischen Kontext der Unterscheidung von zwei oder mehreren Geschlechtlichkeiten auf.


Eurozentristische Begriffsgeschichte

Die Vorstellung von lediglich zwei natürlichen, eindeutigen Geschlechtern "Mann" und "Frau" ist ein sozioökonomisches Produkt heteronormativer Interessen. Nicht nur dass es biologisch gesehen mehr als zwei Geschlechter gibt, auch für Trans*Geschlechtlichkeiten gibt es weltweit unterschiedliche Bezeichnungen und Konkretisierungen. Das ist also weder ein westlich-europäisches noch ein nationales, sondern ein weltweites Phänomen. Allerdings stammen die heute am häufigsten verwendeten Begriffe wie Transgender, transsexuell, Trans* und ihre Konnotationen aus der westlichen Welt (was auch immer das sein mag). Und weil sie am meisten verwendet werden, gelten diese Begriffe auch als "die wichtigsten". Eine solche verallgemeinernde Aussage spiegelt eine eurozentristische, koloniale Geschichte wider.

Es gibt weltweit und historisch gesehen unzählige Konzepte und Begriffe, die zeitgleich und vor den skizzierten Begriffen entstehen und verwendet werden. In der westlichen Akademia sind meist solche Begriffe bekannt, die durch fremdbestimmte ethnografische Forschung in den Westen kamen (z. B. Two-Spirit, Hijra oder Burrnesha). Auch sie sind in ihren Konkretisierungen und Verwendungen ambivalent: Der Begriff Two-Spirit etwa ist im angloamerikanischen Bereich heftiger Kritik ausgesetzt und findet zugleich Verwendung als empowernde Selbstbezeichnung.


Weltweite Vielfalt

Es gibt mittlerweile einige Online-Ressourcen, die die weltweite Vielfalt von Begriffen und Konzepten für Geschlechtlichkeiten aufzeigen, u. a. die Karte von Independent Lens(3) oder das Digital Transgender Archive, das eine umfangreiche Liste mit Kurzbeschreibungen verschiedenster Geschlechterformen bietet(4). Allein auf der Website des Digital Transgender Archive werden 59 Begriffe bzw. Geschlechtskonzepte aufgezählt, wie Acaults (Myanmar), Bakla (Philippinen), Dee (Thailand, Indonesien, Philippinen), Fa'afafine (Samoa, Neuseeland), Femminiello (Italien), Hijra (Indien), Kteuy (Kambodscha), Mashoga (Kenia, Tansania), Metis (Nepal), Muxe (Mexiko), Nadlehi (Navajo, Nordamerika), Two Spirit (Nordamerika), Wakante (Maori, Neuseeland), Xanith (Oman) u. a. m., von denen viele über die westliche Trennung von sexueller Orientierung, geschlechtlicher Identität und körperlicher Vielfalt hinausgehen. Diese Vielfalt macht sichtbar, wie eingeschränkt die Vorstellung von Geschlecht als Zweigeschlechterkonstrukt Mann/Frau mit heterosexueller Beziehungsform zweier Personen, verbunden in Kleinfamilien, ist.

Weitere Geschlechterkonzeptionen, die sich von eurozentristischen Geschlechtervorstellungen auf unterschiedliche Weise abgrenzen und meist von Trans*Queers of Color und Trans*Sexarbeiter_innen entwickelt werden, sind etwa "Aggressives" - eine Selbstbezeichnung von Schwarzen und Latinix-Frauen, die sich spezifische Männlichkeitsattribute der Schwarzen und Latinix-Communities aneignen. Der Dokumentarfilm "The Aggressives" von 2005 unter der Regie von Daniel Paddle beschreibt die Protagonist_innen als "lesbians, transgenders, pretty tomboys, dyke-queens, femme studs, stud butches and all round gender benders who define themselves as 'Aggressives'."

Oder "travesti", eine subkulturelle Selbstbezeichnung von TransPersonen in Brasilien, die ihre Geschlechtsidentität selbstbestimmt leben und ihre Körper verändern, etwa durch die Einnahme weiblicher Hormone oder die Injektion von Silikon. Dadurch entsteht eine Vielfalt unterschiedlicher "travesti"-Identitäten.

Diese kleine Auswahl an verschiedenen Geschlechterkonzeptionen zeigt bereits die Unfähigkeit der Zweigeschlechter-Theorie auf, die Welt der Geschlechtervielfalt zu fassen. Zudem wird der eurozentristische Blickwinkel sichtbar - sowohl in den Begriffsbeschreibungen, die im zweigeschlechtlichen Denksystem Vielgeschlechtlichkeit aus eurozentristischer akademischer Forscher_innen-Perspektive fassen wollen, wie auch in jenen Begriffen, die in den Trans Studies am meisten verwendet werden und die meist mit dem lateinischen Wort "trans" beginnen.


Nicht/Mitgedacht

Als Oberbegriff "für alle" sollte Transgender oder Trans* also eigentlich auch Selbstbezeichnungen wie "Aggressives" beinhalten, was oft nicht der Fall ist. Transgender als Oberbegriff wird ähnlich verwendet wie im Feminismus der 1980er und 1990er (und teilweise noch heute) der Begriff "Frau": Mitgedacht sind einerseits eine bestimmte Gruppe von Trans*Personen bzw. damals Frauen (z. B. Transsexuelle und Transgender bei Trans oder im Feminismus Bio-Frauen), andere werden nicht mitgedacht (etwa nicht-geschlechterkonforme Lebensweisen bei Trans oder im Feminismus Trans- oder Inter-Frauen) Im Hintergrund steht meist das Bild einer weißen Trans*Person, People of Color (PoC) werden nicht mitgedacht - es sind als "gesund" bezeichnete Lebensweisen damit gemeint, sogenannte Behinderte nicht; es wird an Menschen der mittleren bis oberen Einkommensverhältnisse gedacht, Trans*Arbeiter_innen, insbesondere Sexarbeiter_innen, sind nicht Teil davon - usw.

Diese Entwicklung zeigt sich umso deutlicher, je mehr der Begriff aus Selbsthilfegruppen und Selbstorganisationen in elitäre gesellschaftliche Bereiche, wie etwa die Akademia, kommt, aber auch bestimmte Trans*Personen gesellschaftspolitisch und rechtlich in der "Mitte der Gesellschaft" ankommen. Vereinnahmungen, Ausschlüsse über Rassismus, Klassismus, Ableismus etc. finden also auch mit selbstbestimmten Begriffen statt. Diese und weitere Kritikpunkte führen immer wieder zu Suchbewegungen für neue Oberbegriffe.


Die Benennung der Norm

Die Begriffe und Konzepte rund um Transgender sind nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern entwickelten sich aus einem historischen, sozialen und linguistischen Kontext heraus. Einige Begriffe sind vor Transgender gebildet worden (Hermaphroditismus, Intersexualität, Intergeschlechtlichkeit, Homosexualität, Transvestitismus, Transsexualität). Andere Bereiche wiederum hatten lange überhaupt keine Begriffe - in erster Linie die ungeschriebene Norm der gesellschaftlichen Zweigeschlechterordnung, die Transgender erst zu etwas "anderem" entstehen lässt.

Der Begriff Zissexualität etwa wurde von Volkmar Sigusch erstmals 1991 als Gegenbegriff zu Transsexualität eingeführt. Er sollte die unsichtbare Norm, die durch den Begriff Transsexualität entsteht - nämlich in diesem Denkschema alle Nicht-Transsexuellen -, sichtbar und Transsexuelle weniger zu "den anderen" machen.

Zissexualität steht für Menschen, die mit dem ihnen bei der Geburt zugeordneten Geschlecht Mann oder Frau einverstanden sind und sowohl körperlich wie sozial die jeweilige Geschlechterrolle leben. Doch der Begriff Zissexualität entsteht aus einem binären Denken heraus, in dem es zwar Trans- oder Zisgeschlechtlichkeit gibt, intergeschlechtliche Menschen etwa werden unsichtbar gemacht.

Es ist wichtig, einen Begriff für die machtvolle Norm der Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau zu haben, damit die unsichtbare Norm, die trans-, inter- und queergeschlechtliche Körper, Identitäten und Lebensweisen zur Abnorm werden lässt, direkt benannt werden kann. In diesem Sinne wäre ein Begriff wie zissexuell wichtig. Er ist aber zu kurz gegriffen und funktioniert nur, wenn Inter* und andere geschlechtervariante Personen ausgeblendet werden.

Stattdessen empfiehlt Hida Viloria (2014) das Gegensatzpaar Trans* und Nichttrans* für die Unterscheidung zwischen Menschen, die bisher als "mit dem bei der Geburt zugeordneten Geschlecht übereinstimmend" bezeichnet werden, und jenen, bei denen dies nicht der Fall ist. Für die Unterscheidung von Menschen, die Geschlechterprivilegien schon/nicht erfahren, schlägt sie die Begriffe geschlechternormativ (engl. gender normative) und geschlechtervariant (engl. gender variant) vor. Das zweite Begriffspaar ist weiter gefasst und schließt auch alle Menschen ein, die sich zwar mit dem bei der Geburt zugeordneten Geschlecht Mann oder Frau sehen und damit üblicherweise als zissexuell bezeichnet werden, aber keine durchgängigen zissexuellen Privilegien haben.


ANMERKUNGEN:
(1) Dieser Text ist ein stark gekürzter Auszug aus meinem Buch "Trans Studies. Historische, begriffliche und aktivistische Aspekte", das 2017 im Wiener Verlag Zaglossus erschienen ist (S. 52ff).
(2) Ich schreibe Schwarz groß und weiß klein und kursiv, damit mache ich auf die gesellschaftliche Konstruktion sowie den Empowerment-Charakter dieser Strategie aufmerksam. Schwarz großgeschrieben referiert darauf, dass Zuschreibungen an Schwarze und People of Color (PoC) keine Tatsachen sind und nicht einer Wahrheit entsprechen, sondern vielmehr eine gesellschaftliche Konstruktion, um Herrschaftsverhältnisse wie Rassismus, aber auch Sexismus, Ableismus u. a. aufrechtzuerhalten.
(3) www.pbs.org/independentlens/content/two-spirits_map-html/
(4) www.digitaltransgenderarchive.net/learn/terms

LESETIPPS:
Fachzeitschrift TSQ: Transgender Studies Quarterly (Duke University Press), insbesondere die Ausgaben "Postposttransexual" (2014), "Decolonizing the Transgender Imaginary" (2014) und "The Issue of Blackness" (2017)
S. Stryker/A. Aizura (Hg.) (2013): The Transgender Studies Reader 2. New York: Routledge.

FILMTIPP:
"The Aggressives". Film (2004). Regie: Daniel Peddle, Hauptdarstellende: Marquise Balenciaga und Kisha Batista, USA, 75 min.


ZUM AUTOR:
Persson Perry Baumgartinger ist Wissenschaftler, Lektor, Trainer und Coach mit Forschungsschwerpunkten zu Kritischer Diskursanalyse, Queer Linguistics, Trans Studies, Sozialgeschichte und Wissenschaft und Kunst.

*

Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 144, 2/2018, S. 7-9
Text: © 2018 by Frauensolidarität / Persson Perry Baumgartinger
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2018

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