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INTERNATIONAL/101: Brasilien - Säuglingssterblichkeit sinkt, Morde an Kindern nehmen zu (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 25. Juli 2012

Brasilien: Säuglingssterblichkeit sinkt - Morde an Kindern und Jugendlichen nehmen zu

von Fabiana Frayssinet



Rio de Janeiro, 25. Juli (IPS) - In Brasilen ist die Säuglingssterblichkeit rückläufig, und die Lebenserwartung älterer Menschen steigt. Getrübt wird das schöne Panorama durch ein widersprüchliches Phänomen, für das sich nicht das Gesundheitssystem verantwortlich machen lässt: die Epidemie von Morden an Kindern und Jugendlichen.

Dem Problem widmet der Gewaltatlas 2012 (Mapa de la violencia 2012), den die Lateinamerikanische Fakultät für Sozialwissenschaften (Flacso) und das Brasilianische Zentrum für lateinamerikanische Studien erstellt haben, ein Kapitel.

Die Untersuchung, die von dem argentinischen Soziologen Julio Jacobo Waiselfisz koordiniert wurde, kommt zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit, eines gewaltsamen Todes zu sterben, für Brasilianer unter 19 Jahren immer größer wird.

Die Mordrate in dieser Altersgruppe hat, statistisch gesehen, von 3,1 pro 100.000 Einwohner 1980 auf 7,7 zehn Jahre später sowie 11,9 und 13,8 in den Jahren 2000 und 2010 zugelegt. Das entspricht einem Anstieg um 346,4 Prozent in den letzten 30 Jahren.

Die Wissenschaftler berufen sich auf die Angaben im Sterberegister des Landesgesundheitssystems, das sie selbst als "Eisberg der Übergriffe" bezeichnen. Danach wurden 2010 8.686 Mädchen, Jungen und Teenager ermordet. Die 'Epidemie', von der man spricht, wenn mehr als zehn von 100.000 betroffen sind, hat in Brasilien seit 1981 176.044 Minderjährigen das Leben gekostet.


Säuglingssterblichkeit halbiert

Ironischerweise fällt der Anstieg der Gewaltverbrechen an Kindern und Jugendliche in eine Zeit, in der sich die Säuglingssterblichkeit zwischen dem Jahr 2000 und 2010 fast halbiert hat: von 29,7 auf 15,6 Todesfälle pro 1.000 Neugeborene, wie Zahlen des Brasilianischen Instituts für Geografie und Statistik belegen. Gleichzeitig werden Brasilianer immer älter. So liegt die Lebenserwartung bei durchschnittlich 73,5 Jahren (2010) - elf Monate höher als im Jahr 2000.

"Wir haben einen zutiefst besorgniserregenden Trend ausgemacht. So nehmen die externen im Vergleich zu den natürlichen Todesursachen seit drei Jahrzehnten kontinuierlich zu", heißt es in der Studie. Die wachsende Rate der Morde an Kindern und Jugendlichen sei gänzlich inakzeptabel.

Brasilien belegt von 92 untersuchten Ländern den vierten Platz, was die Mordrate bei Mädchen, Jungen und Teenagern angeht. Der Studie zufolge ist sie um das 50- bis 150-Fache höher als in Ländern wie Großbritannien, Portugal, Spanien, Irland und Italien. Deutschland steht auf der Liste gleich nach Schweden und vor der Schweiz auf dem 61. Platz.

"Wir erleben eine Kultur der Gewalt, die ein Schlaglicht auf eine zutiefst machistische Gesellschaft wirft, die von Symbolen, Marken und Macht geprägt ist", sagte die Soziologin Miriam Abramovay, bei Flacso zuständig für den Bereich 'Jugend und öffentliche Politik'. Diese Kultur werde in Interviews sichtbar, die mit jungen Leuten über Themen wie Jugendbanden und Gewalt an den Schulen geführt würden. So werde Waffen ein hoher symbolischer Wert beigemessen, weil sie Stärke und Macht vermittelten. Abramovay zufolge gibt es unterschiedliche Ursachen für die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Dazu zählten Drogenhandel und -konsum ebenso wie illegale Aktivitäten der Polizei.


Große Städte werden sicherer

Am höchsten ist die Mordrate - 34,8 pro 100.000 im Jahr 2010 - im nordöstlichen Bundesstaat Alagoas. Gegenüber 2000 hat sie sich mit 10,1 pro 100.000 Einwohner inzwischen mehr als verdreifacht. Demgegenüber ist sie in Rio de Janeiro, der Stadt mit der einst höchsten Rate, rückläufig: von 25,9 pro 100.000 2000 auf 17,2 im Jahr 2010. Die beste Nachricht hält der Atlas für die bevölkerungsreichste Stadt Brasiliens, São Paulo, parat. Dort ging die Rate der Morde an jungen Menschen im gleichen Zeitraum um 76,1 Prozent zurück.

Während die Jugendmordrate in den großen Städten abnimmt, legt sie in den kleinen Bezirken zu. Waiselfisz spricht in diesem Zusammenhang von einer "Dezentralisierung der Gewalt". In dem Ausmaß, in dem die Gewalt in den großen Ballungsgebieten bekämpft wird, verlagert sie sich in die kleineren Städte.

In Rio de Janeiro hat sich ein Erfolgsrezept bewährt, das sich auf Deeskalationsmaßnahmen, eine Befriedung und dauerhafte Präsenz der Sicherheitskräfte in Favelas stützt. Dadurch konnten die Mafia und der Drogenhandel aus den Armenvierteln vertrieben werden.

Über die Ursachen, die den Wandel in São Paulo herbeigeführt haben, sind sich die Experten nicht einig. Einige Wissenschaftler bringen den Erfolg mit Investitionen in die Sicherheit und einer Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Bevölkerung in Verbindung. Andere Stimmen vertreten indes die Meinung, dass sich die kriminellen Banden inzwischen besser organisieren und nicht länger durch Territorialstreitigkeiten verschleißen.

Doch der Soziologe Ignacio Cano vom Labor für die Analyse der Gewalt der Universität von Rio de Janeiro, stimmt nicht mit den Interpretationen überein, wie sie im Gewaltatlas 2012 vorgestellt werden. Seiner Meinung nach ist der Rückgang der Gewalt in Rio de Janeiro viel geringer, als in der Untersuchung von Flacso und dem Brasilianischen Zentrum für lateinamerikanische Studien angegeben. Wie Cano betont, fußt der Atlas auf Zahlen der Gesundheitsbehörden und nicht auf die seiner Meinung nach zuverlässigeren Polizeistatistiken.

"Es gibt bessere und schlechtere Zahlen, doch gut sind sie alle nicht", meint dazu Waiselfisz, demzufolge auch die Polizeistatistiken nicht wirklich aussagekräftig sind. Sie führten zwar Fälle von Menschen, die in Rio de Janeiro etwa an den Folgen eines Kopfschusses gestorben seien. Ob die Opfer einem Gewaltverbrechen, Unfall oder Selbstmord zum Opfer fielen, bleibe im Dunkeln. (Ende/IPS/kb/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juli 2012