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INTERNATIONAL/181: Honduras - Gefährliche Migration, Mütter und Großmütter suchen nach ihren Kindern (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. September 2014

Honduras: Gefährliche Migration - Mütter und Großmütter suchen nach ihren Kindern

von Thelma Mejía


Bild: © Thelma Mejía/IPS

Rosa Nelly Santos stellt in den Räumlichkeiten des Komitees der Angehörigen Verschwundener von El Progreso Fotos von Vermißten aus, als Symbol dafür, daß diese niemals vergessen sein werden
Bild: © Thelma Mejía/IPS

El Progreso, Honduras, 22. September (IPS) - Trauer und Angst schweißt sie zusammen: Großmütter, Mütter und andere Angehörige honduranischer Migranten, die auf dem Weg in die USA verschwunden sind. Sie haben in der nordhonduranischen Stadt El Progeso eine Organisation gegründet, die bereits seit 15 Jahren nach den Vermissten sucht.

Das 'Komitee der Angehörigen Verschwundener von El Progreso' (Cofamipro) gehört inzwischen zu den angesehensten Menschenrechtsorganisationen in dem zentralamerikanischen Land. Seit seiner Gründung gestalten die Mitglieder die Radiosendung 'Grenzen öffnen', die jeden Sonntagnachmittag im Kanal 'Radio Progreso' ausgestrahlt wird. Der Sender wird von dem katholischen Orden 'Gesellschaft Jesu' betrieben.

Ursprünglich hatte die Sendung den Titel 'Ohne Grenzen'. Als das Komitee seine Aktivitäten ausgeweitet habe, sei die Entscheidung für den neuen Namen gefallen, erklärt Cofamipro-Mitglied Rosa Nelly Santos. Denn ihre Arbeit habe tatsächlich dazu beigetragen, Grenzen zu öffnen. "Wir haben momentan mehr Hörer als je zuvor, nicht nur Migranten, sondern auch Vertreter von Regierungen."

Die einstündige Sendung erfüllt einen wichtigen sozialen Zweck, nämlich Migranten über die Sicherheit ihrer Routen zu informieren. Von ihnen gewünschte Musikstücke werden gespielt, um ihnen Mut zu machen. Zudem können sie über das Radio Nachrichten an ihre Familien in Honduras übermitteln.


Tochter nach 21 Jahren wiedergefunden

Die Mitbegründerin von Cofamipro, Emeteria Martínez, ist im vergangenen Jahr gestorben - wenige Monate nachdem sie eine seit 21 Jahre vermisste Tochter wiedergefunden hatte. Der Wunsch, verschollene Verwandte ausfindig zu machen, habe die Mitglieder des Komitees zusammengeführt, berichtet Santos. "Die Gruppe ist praktisch aus dem Nichts heraus entstanden. Wir haben festgestellt, dass wir Frauen das gleiche Leid erfahren hatten. Dadurch fanden wir den Mut, gemeinsam nach an die Öffentlichkeit zu gehen und nach unseren Angehörigen zu suchen."

Rund 20 Frauen hatten das Komitee 1999 ins Leben gerufen. Inzwischen hat die Gruppe mehr als 40 Mitglieder in leitenden Funktionen. Die Frauen verlieren nicht die Hoffnung, auch wenn sie die Ungewissheit über das Schicksal ihrer Lieben schmerzt. Das Massaker von Tamaulipas vor vier Jahren an 72 Migranten, unter ihnen 21 Honduraner, ist ihnen nur allzu gut in Erinnerung. Die Opfer waren aus nächster Nähe von Mitgliedern des mexikanischen Verbrecherkartells 'Los Zetas' erschossen worden. Ihre Leichen wurden auf einer Ranch im Distrikt San Fernando gefunden.

Das Verbrechen hat allen Honduranern klar vor Augen geführt, wie gefährlich die Migration in Richtung USA ist und wie viel Leid sie verursachen kann. "Für uns war das Massaker ein schwerer Schlag", gesteht Santos. "Jeder hofft doch, dass seine Söhne oder Töchter sicher über die Migrationsroute und über die Grenze kommen. Man will nicht damit rechnen, dass die eigenen Kinder getötet werden und im Sarg zurückkehren. Das ist wirklich schlimm."


'Mütterkarawanen'

Alle in dem Komitee organisierten Frauen sind ehrenamtlich tätig. Sie beteiligen sich an den so genannten 'Mütterkarawanen'. Das sind Autokolonnen, die von der Mesoamerikanischen Migrantenbewegung organisiert werden. Jedes Jahr im September fahren sie die von den Migranten genutzten Straßen in Richtung USA ab und suchen nach Hinweisen auf den Verbleib der Vermissten.

Die Migrationsroute beginnt in Guatemala und endet an der Nordgrenze Mexikos. "Als ich vor drei Jahren das erste Mal in der Karawane mitfuhr, verstand ich, wie wichtig die Arbeit meiner Mutter ist. Ich entschloss mich dazu, beim Komitee mitzumachen", sagt Marcia Martínez, eine weitere Tochter der verstorbenen Emeteria. "Ich hatte keine Ahnung, wie viele Mütter und andere Verwandte sich an der Karawane beteiligten. Und ich wusste nicht, welch lange Reisen meine Mutter unternommen hatte."

Die Autokolonne fahre alle Strecken ab, die von Migranten genutzt würden, berichtet sie. "Wenn wir jemanden finden, ist die Freude unbeschreiblich. Jedes Mal, wenn ich den mexikanischen Güterzug höre, auf dem Migranten gen Norden mitfahren, schrecke ich zusammen. Dann wird mir klar, wie gefährlich die Route ist", so Martínez. "Die Menschen schlafen auf den Bahnschienen und klettern oft übermüdet auf die Dächer der Züge. Manche sind so entkräftet, das sie herunterfallen, wenn er abfährt."

Cofamipro hat sein Büro in einem Einkaufszentrum in El Progreso, eine der fünf größten Städte von Honduras im nördlichen Departement Yoro, rund 220 Kilometer von der Hauptstadt Tegucigalpa entfernt. Seit seiner Gründung hat das Komitee mehr als 600 Fälle Verschwundener dokumentiert. 150 von ihnen konnten inzwischen gefunden werden. Die Frauen suchen weiter, auch wenn sie davon ausgehen müssen, dass viele Vermisste längst tot oder in die Hände von Menschenhändlern geraten sind.

Die Regierung in Tegucigalpa wollte Cofamipro zunächst die Anerkennung versagen. Der Erfolg der mesoamerikanischen Karawanen hat dem Komitee aber dabei geholfen, sich Gehör zu verschaffen. Dem Außenministerium wurden Fälle von verschwundenen Migranten vorgelegt. Seit dem vergangenen Juni hat die Gruppe einen formal-rechtlichen Status.

Die Aktivistinnen erinnern sich noch gut daran, wie sie von Regierungsbeamten als "verrückte alte Frauen" betrachtet wurden, als sie vor Jahren in die Hauptstadt gekommen waren, um die Behörden zum Handeln aufzufordern. Die Frauen schrieben daraufhin ein Lied, das sie vor dem Ministerium vortrugen: "Die im Außenministerium nennen uns Lügnerinnen,/ dabei sind wir anständige Frauen./ Das beweisen unsere Taten./ Wir handeln mit Fug und Recht", singt Santos vor.

Erst kürzlich hat das Komitee dank seiner Kontakte in Mexiko das Leben eines Honduraners gerettet, der von Kriminellen entführt worden war. Von seiner Familie verlangten die Kidnapper mehr als 3.000 US-Dollar Lösegeld. Die Angehörigen wandten sich an das Komitee, dem es gelang, den Mann mit Hilfe der mexikanischen Strafverfolgungsbehörden aus den Händen der Verbrecher zu befreien.

Cofamipro rechnet nicht damit, dass der Migrantenstrom aus den zentralamerikanischen Ländern in Richtung USA in naher Zukunft abreißen wird. Zu hoch seien Arbeitslosigkeit und Kriminalität in den Ursprungsländern. Viele Frauen haben aus Angst, dass ihre Kinder von Verbrecherbanden rekrutiert werden könnten, El Progreso verlassen.


Migrationsstrom angeschwollen

Seit den 1970er Jahren sind schätzungsweise eine Million Honduraner in die USA emigriert. Seit 1998 hat sich der Exodus intensiviert. Seit April dieses Jahres schickt die US-Regierung mehr Familien als bisher wieder über die Grenze zurück.

Nach Angaben der honduranischen Behörden wurden allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres etwa 56.000 Honduraner aus den USA abgeschoben. 29.000 von ihnen wurden ausgeflogen und die übrigen auf dem Landweg in den Staat mit insgesamt etwa 8,4 Millionen Einwohnern deportiert. Honduras gilt mit einer offiziellen Mordrate von 79 pro 100.000 Einwohnern als eines der gefährlichsten Länder der Welt.

2013 sandten honduranische Migranten rund 3,2 Milliarden Dollar in die alte Heimat. Die Überweisungen machen laut der Zentralbank des Landes fast 15 Prozent des gesamten nationalen Bruttoinlandsprodukts aus. (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnoticias.net/2014/09/madres-y-abuelas-hondurenas-buscan-a-sus-desaparecidos-migrantes/
http://www.ipsnews.net/2014/09/honduran-mothers-and-grandmothers-search-far-and-wide-for-missing-migrants/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 22. September 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2014