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INTERNATIONAL/184: Lateinamerika - Alternde Gesellschaften brauchen neue Gesundheits- und Bildungsangebote (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. Dezember 2014

Lateinamerika: Ein junger Kontinent kommt in die Jahre - Alternde Gesellschaften brauchen neue Gesundheits- und Bildungsangebote

von Fabiana Frayssinet


Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Gymnastikunterricht für Senioren in einem Park in Buenos Aires
Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Buenos Aires, 12. Dezember (IPS) - Die höhere Lebenserwartung der Bevölkerung und die rückläufigen Geburtenraten lassen auch das scheinbar ewig junge Lateinamerika altern. Der Kontinent hat sich nur allmählich von dem Ruf befreien können, die Region mit den größten sozialen Gegensätzen zu sein. Die demografische Revolution, die derzeit im Gang ist, wirft nun neue Probleme auf.

Wie aus einem Bericht der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) hervorgeht, haben Paare in der Region seit Beginn dieses Jahrhunderts weniger Kinder. Darüber hinaus erreichen die Menschen ein höheres Alter.

"Dass die Bevölkerung älter wird, ist insofern eine gute Nachricht, als dass Lebenserwartung und Lebensqualität zunehmen", sagt Maria Julieta Oddone, Direktorin des Programms 'Altern und Gesellschaft' der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO).


Bevölkerungsexplosion durch höhere Lebenserwartung

Zwischen 1950 und dem Jahr 2000 legte die Bevölkerung Lateinamerikas von etwa 161 Millionen auf 512 Millionen rasant zu. Bis 2050 ist ein weiterer Anstieg auf 734 Millionen und bis 2100 ein Rückgang auf 687 Millionen zu erwarten, geht aus dem im November verbreiteten CEPAL-Bericht hervor.

Der regionalen UN-Organisation mit Sitz in Santiago de Chile zufolge hat sich die Lebenserwartung in der Region seit Anfang der 1950er Jahre um 23 Jahre erhöht: von 55,7 Jahre (1950-1955) auf 74,7 Jahre (2010-2015). Im Vergleich dazu liegt die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland bei derzeit etwa 80 Jahren.

In den ersten fünf Jahren dieses Jahrhunderts lag die Lebenserwartung in Lateinamerika um zehn Jahre unter dem Durchschnittwert der Industriestaaten. Inzwischen ist diese Differenz auf fünf Jahre geschrumpft.


Geburtenraten drastisch gesunken

Zudem erlebt Lateinamerika einen Rückgang der Geburtenrate, die früher zu den höchsten der Welt zählte. Inzwischen bekommt eine Frau im Laufe ihres Lebens statistisch gesehen nicht mehr sechs, sondern nur noch 2,2 Kinder. Der globale Durchschnitt liegt bei 2,3 Kindern pro Frau.

Die Überalterung der Gesellschaft Lateinamerikas wird in akademischen Kreisen allerdings geleugnet. "Nach wie vor herrscht die Idee vor, dass wir eine junge Gesellschaft sind", sagt Oddone, die auch für den Nationalen Rat für wissenschaftliche und technologische Forschungen (Conicet) in Argentinien tätig ist.

Die Familien haben sich verändert. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Großeltern in ihren Fünfzigern. Heute sind auch die Urgroßeltern und sogar Ur-Urgroßeltern noch am Leben", erklärt die Expertin. "Die Tatsache, dass die Menschen inzwischen ihr halbes Leben als 'Senioren' zubringen und ihr Ruhestand sich auf 30 Jahre ausdehnen kann, hat weitreichende soziale Folgen."


Familien brauchen Unterstützung bei Pflege Älterer

Oddone sieht die steigende Zahl von Älteren in der Gesellschaft nicht notwendigerweise als Katastrophe für das Gesundheitssystem, das sich künftig allerdings stärker auf chronische und altersbedingte Krankheiten einstellen müsse. Der Staat müsse zudem auf die neuen Bedürfnisse von Familien eingehen, die mehr Unterstützung bei der Pflege Angehöriger benötigten, sagt sie. Ältere Erwachsene spielten nun außerdem eine größere Rolle bei der Betreuung ihrer Enkel. Zugleich rutschen viele Menschen in die Altersarmut ab.

Andrés Hatum von der 'IAE Business School' spricht von "besorgniserregenden Entwicklungen". "Wir bräuchten ein größeres demografisches Wachstum, um wirtschaftliches Wachstum möglich zu machen", erklärt er. Die Finanzmittel für den Bildungsbereich müssten umverteilt werden. Statt viele Universitäten für junge Menschen zu eröffnen, sollten sich mehr akademische Einrichtungen auf das lebenslange Lernen einer älteren Klientel einstellen.

CEPAL zeigt sich in diesem Punkt optimistisch. Wenn der Anteil von Kindern und Jugendlichen in der Gesellschaft sinke, werde es einfacher, ihnen eine hochwertige Bildung angedeihen zu lassen. Denn in der Vergangenheit sei höhere Bildung nur einer Minderheit zugänglich gewesen.


Flexible Arbeitsmodelle für Senioren nötig

Hatum plädiert zudem dafür, die Altersgrenze für den Eintritt in den Ruhestand heraufzusetzen, damit die Rentenkassen nicht "explodieren". Flexible Arbeitsmodelle könnten auch für Arbeitgeber sinnvoll sein, meint er. "Eine Möglichkeit wäre, dass ältere Menschen weniger Stunden arbeiten." Auch Fabriken werden sich seiner Ansicht nach an Mitarbeiter gewöhnen müssen, die älter als 45 Jahre sind. Einerseits seien sie erfahrener und geduldiger, andererseits aber auch weniger flexibel, körperlich schwächer und in ihrer Sehkraft beeinträchtigt.

"In vielen Ländern werden Menschen vor dem Rentenalter arbeitslos und finden nur mit Mühe einen Weg zurück ins Erwerbsleben. Wir Lateinamerikaner sind derzeit in einer Übergangsphase", so Hatum.


Altersdiskriminierung setzt immer früher ein

Oddone gibt zu bedenken, dass in Staaten wie Argentinien zwei Drittel der Menschen im Rentenalter tatsächlich in den Ruhestand gehen wollen. Andererseits verdränge die Automatisierung Ältere vom Arbeitsmarkt und erschwere es zunehmend auch den Jüngeren, eine Beschäftigung zu finden. "In einer Zeit, in der der Arbeitsmarkt immer flexibler wird, beginnt die Altersdiskriminierung in immer jüngeren Jahren."

Aktive, gesunde und am Leben interessierte Senioren wie etwa die 75-jährige Argentinierin Silvia Schabas sind davon überzeugt, dass sie ihre Kenntnisse heute besser denn je einsetzen könnten. "Auf dem Arbeitsmarkt ist es sehr eng geworden. Für die Stellen im formellen Sektor werden nur noch junge Leute gesucht", bedauert die ehemalige Lehrerin, die in der peruanischen Hauptstadt Lima lebt.

Mit Hilfe ihrer Enkel hat Schabas gelernt, einen Computer zu bedienen und sich in sozialen Netzwerken zurechtzufinden. Die Argentinierin wünscht sich nicht nur eine stärker auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittene Gesundheitsversorgung, sondern auch mehr Kultur- und Sportangebote für Ältere. (Ende/IPS/ck/2014)


Links:

http://www.ipsnews.net/2014/12/latin-america-faces-the-novelty-and-challenge-of-ageing/
http://www.ipsnoticias.net/2014/12/america-latina-ante-la-novedad-y-el-desafio-de-envejecer/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 12. Dezember 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2014