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KIND/023: Gesund groß werden - Die Verbindungslücke (DJI)


DJI Bulletin 3/2009, Heft 87
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Gesund groß werden
Die Verbindungslücke

Von Alexandra Sann


Viele Akteure kümmern sich um belastete Familien mit Säuglingen und Kleinkindern. Doch die ersten Ergebnisse einer bundesweiten Studie zeigen: Um ein geschlossenes Kinderschutzsystem aufzubauen, benötigt das Jugendamt einen zentralen Ansprechpartner im Gesundheitssektor.


In Deutschland gibt es bereits vielfältige Unterstützungs- und Hilfeangebote, die Familien mit Säuglingen und Kleinkindern in Risikolagen bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgaben unterstützen wollen. Weil belastete Eltern aber von sich aus selten um Rat und Unterstützung bitten, fallen von Vernachlässigung bedrohte Kinder oft erst auf, wenn die Not schon groß ist und aufwendige Interventionen in das Familiensystem nötig sind. Deshalb ist es ein Hauptziel Früher Hilfen, Familien in Risikolagen am besten schon vor der Geburt zu erkennen und zur Annahme von Hilfen zu motivieren. Im Fachdiskurs ist man sich einig, dass dazu ein funktionierendes Hilfenetz und verbindliche Kooperationsbeziehungen zwischen den beteiligten Institutionen und Berufsgruppen aus unterschiedlichen Hilfesystemen unerlässlich sind, damit Familien schnell und unkompliziert von passgenauen Hilfen erreicht werden können.

Bund und Länder haben etliche Programme und Initiativen für Frühe Hilfen gestartet. Letztlich kommt es aber darauf an, ob die kommunalen Behörden in der Lage sind, ein systematisch koordiniertes Angebot unterschiedlicher Hilfen vor Ort zu organisieren. Diese Aufgabenstellung wird in vielen Kommunen und Landkreisen in Deutschland engagiert angegangen. Die Entwicklungen vor Ort beim Auf- und Ausbau Früher Hilfen aufzuzeigen, dabei aber auch Schwierigkeiten und Bedürfnisse der Kommunen an weiterer Unterstützung aufzunehmen und den Verantwortlichen in Politik, Praxis und Wissenschaft rückzumelden, ist eine wichtige Aufgabe des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH).


Nahezu drei Viertel der Jugendämter arbeiten vernetzt

Unter dem Stichwort »Monitoring der Praxisentwicklung« hat das NZFH, das von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) in gemeinsamer Trägerschaft eingerichtet wurde, daher das Deutsche Institut für Urbanistik (DIfU) beauftragt, eine erste Bestandsaufnahme Früher Hilfen in Deutschland vorzunehmen. Ausgehend von der Annahme, dass die kommunalen Steuerungsbehörden Jugendamt und Gesundheitsamt bei der Planung und Sicherung der Versorgung im Bereich Früher Hilfen eine zentrale Rolle einnehmen, wurden sie als Adressaten der Befragung ausgewählt.

An der Befragung haben von deutschlandweit insgesamt 967 Jugend- und Gesundheitsämtern 573 teilgenommen. Das entspricht einer Rücklaufquote von mehr als 59 Prozent. Nahezu jedes der teilnehmenden Jugendämter (96 Prozent) und ein Großteil der Gesundheitsämter (79 Prozent) gaben an, sich im Bereich Früher Hilfen zu engagieren. Auf Seiten der befragten Jugendämter sind zudem etwa 73 Prozent in einem Netzwerk mit anderen Professionen wie etwa niedergelassenen Kinderärzten und -ärztinnen, Hebammen sowie Kindertagesstätten engagiert, bei den Gesundheitsämtern sind dies immerhin fast 59 Prozent.

Der Stand der Umsetzungen einzelner Maßnahmen im Bereich Früher Hilfen ist jedoch noch uneinheitlich. In den Kommunen geht es bisher vor allem darum, interdisziplinäre Netzwerke aufzubauen (55 Prozent der befragten Ämter melden hier »bereits umgesetzt«), niedrigschwellige Angebote für Familien bereitzustellen (56 Prozent) und die Zusammenarbeit von Gesundheitswesen und Jugendhilfe zu intensivieren (72 Prozent). Größerer Unterstützungsbedarf beim Auf- und Ausbau Früher Hilfen wird sowohl von Jugend- als auch von Gesundheitsämtern vor allem hinsichtlich der Beratung zu Finanzierungsgrundlagen und -möglichkeiten formuliert.

Die Finanzierung von Hilfen und Netzwerken zwischen beiden Systemen verlangt einen kreativen Umgang mit den bestehenden gesetzlichen Grundlagen. Entsprechende bundesweit einheitliche rechtliche Grundlagen und Finanzierungsmöglichkeiten müssen aber erst noch geschaffen werden. Insbesondere die Gesundheitsämter weisen darauf hin, dass sie Einschätzungshilfen zur Früherkennung von familialen Belastungen sowie Qualifizierungsangebote für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vermissen. Auch in Fragen des Datenschutzes - hier geht es zum Beispiel um die Weitergabe personenbezogener Daten an andere Akteure in einem Netzwerk - gibt es hier noch größere Unsicherheiten.


Die Qualität der Zusammenarbeit variiert stark

Die Ergebnisse der bundesweiten Bestandsaufnahme bestätigen das Bild eines stark differenzierten Systems von Kooperationen zwischen Einrichtungen unterschiedlicher Unterstützungssysteme. Die Bedeutung, die Qualität und auch der Grad der Verbindlichkeit der jeweiligen Zusammenarbeit variieren allerdings aus Sicht der befragten Ämter zum Teil erheblich. Weiterhin werden die einzelnen Kooperationen von Jugend- und Gesundheitsämtern oft unterschiedlich bewertet.

Ein wichtiger Befund in diesem Zusammenhang ist, dass die Gesundheitsämter das Jugendamt als wichtigsten Kooperationspartner im Bereich Früher Hilfen nennen, wohingegen umgekehrt das Gesundheitsamt von den Jugendämtern bislang weniger deutlich als relevanter Partner wahrgenommen wird. Die Gründe dafür sind mit Hilfe der erhobenen Daten nicht aufzuklären. Eventuell spielt es eine Rolle, dass Gesundheitsämter oft auf Kreisebene angesiedelt sind, während Jugendämter meist kommunal organisiert sind. Möglicherweise sind einzelne Gesundheitsämter auch aufgrund mangelnder Ressourcen nicht in der Lage, bedeutsame Beiträge zu einer Kooperation zu leisten. Vielleicht lässt auch der konkrete Auftrag eines Gesundheitsamtes (der nach landesspezifischen und kommunalen Gegebenheiten variiert) ein stärkeres Engagement im Bereich Früher Hilfen nicht zu.

Der Befund deutet auf eine Asymmetrie der öffentlichen Verwaltung im Bereich der Frühen Hilfen hin: Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass die Funktionen und Leistungen von Jugend- und Gesundheitsämtern nicht vergleichbar sind. Das Jugendamt hat einen konkreten Versorgungsauftrag (Bereitstellung von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Kooperation mit den freien Trägern) und nimmt im Bereich des Kinderschutzes sogar eine Garantenstellung ein. Das Gesundheitsamt ist dagegen nur ein Akteur im komplexen Versorgungssystem, das nur zu einem kleinen Teil öffentlich, zu einem größeren Teil aber auch korporativ (Krankenversicherungen) oder privatwirtschaftlich (Praxen niedergelassener Ärztinnen und Ärzte) organisiert ist. Dem Gesundheitsamt kommt also keine vergleichbare zentrale Steuerungsfunktion in der Versorgung zu wie dem Jugendamt. Dies ist ein Faktum, das die gewünschte ressortübergreifende Kooperation sicher nicht einfacher macht.

Jugend- und Gesundheitsämter betonen für die Zusammenarbeit im Bereich Früher Hilfen allerdings gleichermaßen die Bedeutung bestimmter Einrichtungen aus dem Gesundheitssystem wie Kinderkliniken, Geburtskliniken oder niedergelassene Kinderärztinnen und -ärzte. Im Kontrast zur hohen Bedeutung wird aber die Qualität der Zusammenarbeit mit diesen Akteuren und Akteurinnen als nicht besonders zufriedenstellend beurteilt.


Der öffentliche Gesundheitsdienst als starker Partner

Die Ergebnisse der DIfU-Befragung zeigen auch: Unverbindliche Runde Tische alleine helfen für die multidisziplinäre Vernetzung und Kooperation kaum weiter. Auf diese Weise wird hauptsächlich die Kommunikation der Akteure gefördert, aber nicht zwangsläufig die Qualität des lokalen Kinderschutzsystems erhöht. Nach Aussage der befragten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den kommunalen Behörden gelingt es nur in verbindlichen Netzwerken, die Familien der Zielgruppen und ihre Kinder besser und frühzeitiger zu erreichen.

Doch wie kann die Zusammenarbeit des Gesundheitssektors mit den Jugendämtern trotz gänzlich unterschiedlicher Logiken verbindlicher und systematischer organisiert werden? Ein gestärkter öffentlicher Gesundheitsdienst könnte die Rolle eines zentralen Ansprechpartners und Multiplikators im Gesundheitsbereich übernehmen, der die vielseitige Hilfe koordiniert sowie den professionsübergreifenden Dialog unterstützt.

Aufgrund der föderalen Zuständigkeiten liegt es im Verantwortungsbereich der Länder, die Profile der öffentlichen Gesundheitsvorsorge und -förderung gesetzlich festzulegen. Ein bundesweit einheitlicher Auftrag der Gesundheitsämter, stärker im Bereich Früher Hilfen tätig zu werden, wäre ein wichtiger Schritt, um eine frühe Prävention und Förderung für alle Familien in Deutschland voranzubringen. Da die Umsetzung von Frühen Hilfen Aufgabe der Kommunen ist, bleibt es aber letztlich ihnen überlassen, wo sie Prioritäten setzen und wie sie Jugendhilfe und Gesundheitsförderung ausstatten.

Kontakt: sann@dji.de


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 3/2009, Heft 87, S.12-13
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2009