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KIND/144: Kinder auf der Flucht (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2015 - Nr. 111

Kinder auf der Flucht

von Thomas Meysen und Nerea González Méndez de Vigo


In Deutschland leben viele tausend minderjährige Flüchtlinge. Was Staat und Gesellschaft leisten, um ihre Rechte zu wahren, ist weltweit beispielhaft - dennoch gibt es noch etliche unbewältigte Aufgaben.


Flüchtlingskinder sind eine besonders schutzbedürftige und entwicklungsgefährdete Gruppe. Sie kommen alleine oder mit ihren Familien in ein fremdes Land, deren Sprache sie häufig nicht sprechen und deren Kultur sie nicht kennen. Sie sind vor nicht mehr erträglichen Zuständen geflohen und haben ihr Zuhause verloren. Die Kinder und Jugendlichen haben vor und auf der Flucht häufig Schreckliches erlebt. Aufgrund von Erfahrungen mit Gewalt und Tod, Entbehrung und Strapazen sind sie häufig physisch und psychisch stark belastet bis traumatisiert. Sie leben mit Eltern zusammen, die nicht nur ihr Lebensumfeld sowie ihr Hab und Gut verloren haben, sondern auch mehr oder weniger ihr Selbst und ihre Identität neu (er)finden müssen - Eltern, denen es schwer fällt, Kindern den Halt zu geben, den sie in der für sie neuen Welt benötigen. Sind sie alleine, ohne erwachsene Bezugspersonen geflohen, ist ihnen nicht nur die heimatliche, sondern auch die familiäre Geborgenheit abhanden gekommen, in der sie ihre Erlebnisse der Flucht und aus der Zeit davor verarbeiten könnten.

Die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) hat die besondere Schutzbedürftigkeit der Flüchtlingskinder im Blick. Sie widmet ihnen in Artikel 22 eine eigene Vorschrift mit zwei Kernzielen: der Gewährleistung eines angemessenen Schutzes sowie der humanitären Hilfe (Schmahl, 2013). Die Rechte gelten unabhängig davon, ob sich das Flüchtlingskind in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht (Art. 22 Abs. 1, aE KRK). Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wird zugesichert, dass sie dabei unterstützt werden, ihre Eltern oder andere Familienangehörige ausfindig zu machen. Außerdem sollen sie bei ihrer Unterbringung, Versorgung und Betreuung den gleichen Schutz genießen wie jedes andere Kind, das dauernd oder vorübergehend aus seiner familiären Umgebung herausgelöst ist (Art. 22 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 20 KRK). So ist mittlerweile weitgehend anerkannt, dass unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche nicht in Erstaufnahmeeinrichtungen unterzubringen sind, sondern in einer geeigneten Unterbringungsform der Kinder- und Jugendhilfe mit den entsprechenden fachlichen Standards.

Die Europäische Union (EU) hat die KRK als Ausgangspunkt genommen und formuliert im EU-Recht für alle Mitgliedstaaten verbindliche und konkrete Rechte und Garantien für die asylrechtlichen Verfahren zur Zuerkennung internationalen Schutzes. Die Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU) garantiert Flüchtlingskindern beispielsweise den Zugang zum Aufnahmeverfahren, zu (Grundschul-)Bildung sowie zu kindgerechter Unterbringung (Art. 1 ff., 14 und 24). Außerdem fordert die EU ihre Mitgliedstaaten auf, einen Lebensstandard zu gewährleisten, der der körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung des Kindes angemessen ist (Art. 23). Die Verfahrensrichtlinie (2013/32/EU) garantiert Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit der Antragstellung (Art. 7) sowie das Recht auf kindgerechte Durchführung der Anhörung (Art. 14), und sie gesteht unbegleiteten Minderjährigen beispielsweise das Recht zu, unverzüglich einen versierten rechtlichen Vertreter in Anspruch zu nehmen, der seine Aufgabe im Sinne des Kindeswohls wahrnimmt (Art. 24).

Die Dublin-III-Verordnung aus dem Jahr 2013 verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Möglichkeiten einer Familienzusammenführung proaktiv zu prüfen (Art. 6 Abs. 4). Halten sich Familienangehörige, Geschwister oder Verwandte im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten auf, schreibt die Verordnung vor, dass die Mitgliedstaaten eng miteinander kooperieren und die Familienzusammenführung ermöglichen sollen.

Schließlich verpflichten alle Rechtsakte die Mitgliedstaaten ausdrücklich, bei ihrer Anwendung das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen.


Die Schutzpflicht der Jugendämter in Deutschland

Für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge hat die KRK eine erhebliche Verbesserung der Situation bewirkt. So hat der Gesetzgeber das spezifische Diskriminierungsverbot (Art. 2 Abs.1, Art. 22 Abs.2 Satz 2 KRK) ernst genommen und im Jahr 2005 die Jugendämter verpflichtet, allen unbegleitet eingereisten Flüchtlingskindern im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe Schutz zu gewähren und sie - wie andere, nicht mit der Familie zusammenlebende Kinder und Jugendliche - stets zunächst in Obhut zu nehmen (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII).

In den letzten Jahren hat die Zahl der unbegleitet eingereisten Kinder und Jugendlichen sprunghaft zugenommen. Die Pflicht, sie in Obhut zu nehmen und sie im Anschluss unterzubringen und für sie Leistungen zu gewähren, lag bislang bei dem Jugendamt, bei dem sie angekommen sind. Zur Entlastung der besonders betroffenen grenznahen Kommunen und der einzelnen Großstädte ist zum 1. November 2015 ein Gesetz zur bundesweiten Verteilung der unbegleitet eingereisten Kinder und Jugendlichen in Kraft getreten (BT-Drucksache 18/5921, 18/6289, 18/6392). Es verfolgt - neben allem ordnungspolitischen Regulierungsbestreben - das Ziel, die vorrangige Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe - und nicht der Ausländerbehörden - zu stärken, indem es die kontinuierliche Unterstützung, Versorgung und Betreuung mithilfe von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) betont.

Für begleitete Flüchtlingskinder und deren Eltern setzt der Bezug von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in vielen Fällen jedoch nach wie vor deren rechtmäßigen oder geduldeten, gewöhnlichen Aufenthalt voraus (§ 6 Abs. 2 SGB VIII). Im Übrigen bleiben diese Familien bei Fragen der Unterbringung und Versorgung aktuell in der primären Verantwortung der Ausländerbehörden. Der Zugang zu Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe ist durch die strengen Regulierungen des Asyl- und Ausländerrechts in tatsächlicher Hinsicht oftmals deutlich erschwert. Für sie hat somit das allgemeine Diskriminierungsverbot in Art. 2 Abs. 1 KRK eine besondere Bedeutung, wonach die Rechte der Kinder unabhängig von sachfremden Kriterien wie Rasse, Hautfarbe oder Status von Kind und Eltern ohne Diskriminierung zu gewährleisten sind.


Junge Flüchtlinge sind meist in allen Lebensbereichen benachteiligt

Die Umsetzung dieses Gebots bereitet auch in Deutschland noch erhebliche Schwierigkeiten, was sich im Alltag von asylsuchenden und irregulär eingereisten Kindern zeigt. Für sie gelten die Prinzipien der Nicht-Diskriminierung und des Kindeswohlvorrangs häufig nicht. So kritisiert der UN-Ausschuss für die Rechte der Kinder, dass ihnen in Deutschland der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung erschwert oder teilweise sogar versperrt ist (CRC/C/DEU/CO/3-4, Nr. 56). Im Wesentlichen wird nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) nur die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzen gewährleistet, einschließlich der Versorgung mit Schutzimpfungen, Arznei und Verbandsmitteln. Zahnersatz erfolgt nur, soweit dies im Einzelfall aus medizinischen Gründen unaufschiebbar ist. Die Behandlung chronischer Erkrankungen ist vom Leistungsspektrum des AsylbLG überhaupt nicht erfasst, psychologische Unterstützungen nur unzureichend (zur medizinischen Mangelversorgung B-UMF, 2014). Ungleichbehandlung mahnt der UN-Ausschuss auch beim effektiven Zugang zu Bildung und bei der Sicherung des notwendigen Unterhalts an. Asylsuchende Kinder erhalten in der Regel in den ersten 15 Monaten ihres Aufenthalts nur eine Grundversorgung, die deutlich unterhalb des Existenzminimums der Sozialhilfe oder der Grundsicherung für andere in Deutschland lebende Kinder liegt (CRC/C/DEU/CO/3-4, Nr. 66 und 25).

Bei den aktuellen gesetzgeberischen Aktivitäten werden die Forderungen der KRK nur bedingt berücksichtigt. Bislang hat sich der Gesetzgeber über eine langjährige Forderung des UN-Kinderrechtsausschusses hinweggesetzt: Nämlich unbegleiteten Kindern und Jugendlichen eine unabhängige, rechtlich und kultursensibel qualifizierte Vertretung zu garantieren (CRC/GC/2005/6, Rn. 95-97). Direkt nach der Ankunft bis zur bundesweiten Verteilung sollen die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen ohne gesetzlichen Vertreter bleiben, um so den reibungslosen Ablauf des Verteilungsverfahrens nicht zu erschweren (§ 42a Abs. 3 SGB VIII).

Eine andere Diskriminierung wurde im Zuge der aktuellen Asylgesetzgebung hingegen beseitigt. Bislang wurden 16- und 17-jährige Jugendliche rechtlich als handlungsfähig eingestuft und somit im Asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren wie Erwachsene behandelt. Dieses Unterlaufen des Minderjährigenschutzes der KRK (CRC/C/DEU/CO/3-4, Nr. 68, 69) wurde behoben und die Altersgrenze auf 18 Jahre angehoben. Damit gelten auch Flüchtlinge bis zum Alter von 18 als Kinder, wie es die UN-Kinderrechtskonvention fordert.


Kindeswohlvorrang: normativer Appell ohne Konsequenzen?

Auch für Flüchtlingskinder ist ein zentraler Ankerpunkt der Gewährleistung ihrer Rechte aus der UN-Kinderrechtskonvention (Freeman 2007), dass bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes einen Gesichtspunkt darstellt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. Dieser Grundsatz bindet öffentliche oder private Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichte, Verwaltungsbehörden und Gesetzgebungsorgane (Art. 3 Abs. 1 KRK; Meysen / González Méndez de Vigo 2013). Dazu, was unter dem »Kindeswohlvorrang« oder den »best interests of the child«, wie es im Englischen heißt, zu verstehen ist, findet sich weder in der KRK noch im deutschen Recht eine gesetzliche Definition. Ohne eine Kontextualisierung droht diese offene Formulierung jedoch schnell als normativer Appell ohne Konsequenzen zu verhallen (Lorz 2003). Eine Konkretisierung findet der Kindeswohlvorrang lediglich durch die in der KRK aufgelisteten Rechte und Pflichten (Alston 1994).

Das Kindeswohl ist nicht einseitig als Recht zur Abwehr von Gefahren zu verstehen, sondern umfasst gezielt auch die direkte Beteiligung der Kinder und Jugendlichen in den sie betreffenden Belangen als integralen Bestandteil des Kindeswohlvorrangs (Art.12 KRK; Cremer 2012). Die Behörden und Gerichte haben sich mit den individuellen Wünschen und Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen auseinanderzusetzen. Gehen sie über diese hinweg, bedarf es gewichtiger Gründe und fundierter Begründung. Sprachbarrieren erschweren die Verwirklichung der Beteiligungsrechte. Die steigenden Flüchtlingszahlen führen die handelnden Akteure zudem an ihre Belastungsgrenzen, was die Beteiligung zugunsten eines möglichst reibungslosen Administrierens der Unterbringung und Versorgung zurückdrängt. Die Verwirklichung des Anspruchs der KRK stellt somit in der Realität eine enorme Herausforderung dar.

Den Umgang mit Flüchtlingskindern in Deutschland an der Verwirklichung der Kinderrechte der KRK zu messen, hat seine Berechtigung. Die primäre Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe für unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche, die mittlerweile bundesweit fest etabliert ist, ist im internationalen Vergleich alles andere als eine Selbstverständlichkeit (Skivenes u.a. 2015). An anderen Stellen, wie bei der gesetzlichen Vertretung oder der Bildung, bei der materiellen Existenzsicherung oder gesundheitlichen Versorgung von begleitet eingereisten Flüchtlingskindern, werden Flüchtlingskinder auch in Deutschland noch im Vergleich zu anderen Kindern und Jugendlichen diskriminiert. Es sind also weitere Schritte notwendig, damit auf die politische Rhetorik der KRK auch tatsächlich effektives Recht folgt.


Der Autor, die Autorin

Dr. Thomas Meysen, Jurist, ist Fachlicher Leiter des »Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e.V.« (DIJuF) in Heidelberg.
Kontakt: thomas.meysen@dijuf.de

Nerea González Méndez de Vigo ist wissenschaftliche Referentin im Internationalen Sozialdienst (ISD) beim »Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.«. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind grenzüberschreitende Kindschaftskonflikte, Kinderschutz und Kinderhandel sowie internationales Familienrecht.
Kontakt: gonzalez@deutscher-verein.de


Literatur

Alston, Philip (1994). The best interests of the child: Reconciling culture and human rights. New York

Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU). Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen; (Neufassung) Bundesrats-Drucksache 349/15. Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher vom 14.08.2015

Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (B-UMF; 2014): Positionspapier: Konsequenzen aus den Abschließenden Beobachtungen des UN-Ausschusses. Berlin

Committee on the Rights of the Child (2014). Concluding observations on the combined third and fourth periodic reports of Germany. 31. Januar 2014, CRC/C/DEU/CO/3-4, Genf

Cremer, Hendrik (2012). Die UN-Kinderrechtskonvention. Geltung und Anwendbarkeit in Deutschland nach der Rücknahme der Vorbehalte. Berlin

Dublin-VO III. Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung)

Freeman, Michael A. D. (2007): Art. 3: The best interest of the child. In: Alen, Andre u.a. (Hrsg.): A commentary on the United Nations Convention in the Rights of the Child. Leiden/Boston

Lorz, Ralph Alexander (2003): Der Vorrang des Kindeswohls nach Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention in der deutschen Rechtsordnung. National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland (Hrsg.), Eigenverlag, Berlin

Lorz, Ralph Alexander (2010): Nach der Rücknahme der Deutschen Vorbehaltserklärung: Was bedeutet die uneingeschränkte Verwirklichung des Kindeswohlvorrangs nach der UN-Kinderrechtskonvention im deutschen Recht? National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland, Eigenverlag, Berlin

Meysen, Thomas / González Méndez de Vigo, Nerea (2013): Kindeswohlvorrang nach Art. 3 Abs. 1 KRK und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. In: Forum Jugendhilfe, Heft 4, S. 24-32

Schmahl, Stefanie (2013): Kinderrechtskonvention mit
Zusatzprotokollen. Handkommentar. Baden-Baden

Skivenes, Marit u.a. (Hrsg.; 2015): Child welfare systems and migrant children. A cross country study of policies and practices. New York

Verfahrensrichtlinie (2013/32/EU). Richtlinie EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung)

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2015 - Nr. 111, S. 21-23
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/6 23 06-140, Fax: 089/6 23 06-265
Internet: www.dji.de, www.dji.de/impulse
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2016

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