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REDE/046: Von der Leyen - Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende, 06.05.2010 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen, zum Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende vor dem Deutschen Bundestag am 6. Mai 2010 in Berlin:


Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Vor einer Woche haben wir aus Nürnberg die neuen Arbeitsmarktzahlen bekommen. Das sind erfreuliche Zahlen. Die Arbeitslosigkeit ist deutlicher gesunken, als das im Monat April üblicherweise der Fall ist. Dies ist sicher eine Folge der Frühjahrsbelebung nach einem langen und harten Winter, aber auch ein Indiz dafür, dass wir langsam aus dem krisenbedingten Tief herauskommen.

Bei aller Freude über die sinkenden Arbeitslosenzahlen und die Arbeitsmarktzahlen: Wenn man genau hinschaut, dann findet man fast ausschließlich bei denjenigen eine Bewegung zum Besseren, die ganz kurz in Arbeitslosigkeit sind. Im April sank die Arbeitslosigkeit im Rechtskreis SGB III, also bei denen, die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung beziehen, um 146.000, aber im Rechtskreis SGB II, also bei den Langzeitarbeitslosen, gerade einmal um 16.000. Dieses Muster, dass sich in der Krise keine deutliche Zunahme der Langzeitarbeitslosigkeit zeigte, in der Erholung aber auch keine deutliche Abnahme zeigt, ist ein Muster, das wir schon lange beobachten können, schlicht und einfach auch deshalb, weil die Hürden, um aus der Langzeitarbeitslosigkeit wieder herauszukommen, höher und die Probleme vielschichtiger sind.

Dennoch gilt: Wann, wenn nicht jetzt, da die Nachfrage nach Arbeitskräften wieder steigt und da durch den demografischen Wandel sichtbar wird, dass die Zahl der Erwerbstätigen sinkt und Fachkräfte gesucht werden, müssen wir hier etwas verändern? Wann, wenn nicht jetzt, müssen wir mit aller Kraft an die Lösung dieser Probleme herangehen? Deshalb ist diese Jobcenter-Reform, die wir heute einbringen, die richtige Reform zum richtigen Zeitpunkt.

Ich möchte gerne vier Punkte darstellen, die mir bei dieser Reform wichtig sind:

Es geht erstens um eine Grundhaltung. Wir wollen durch diese Jobcenter-Reform die Grundhaltung stärken und verstetigen, dass der Weg aus der Langzeitarbeitslosigkeit nur durch ein Aktivieren beschritten werden kann. Das heißt, die Kompetenzen und Potenziale, die die Menschen haben und die oft unter einer dicken Schicht von Unzulänglichkeiten oder objektiven Hürden verborgen sind, müssen aktiviert werden. Wir wollen nicht ein System haben, durch das verwahrt und verwaltet wird, sodass man zunehmend eine passive Haltung einnimmt, wie das früher bei der Sozialhilfe der Fall gewesen ist, sondern wir wollen mit dieser Jobcenter-Reform gerade noch einmal stärken und verstetigen, dass alle zusammenarbeiten, und zwar nicht nur die Langzeitarbeitslosen mit der Bundesagentur für Arbeit. Auch alle Leistungen der Kommunen, die sie gemäß ihren Kompetenzen erbringen, und die sozialintegrativen Leistungen müssen in einer Hand gebündelt zusammenkommen.

Das geht zweitens - das ist gerade auch angesichts vielfältiger Kritik wichtig - nicht nach dem Lehrbuch des Föderalismus; denn in diesem Lehrbuch des Föderalismus steht: Eine Ebene soll für eine Leistung sichtbar zuständig sein. - Das kann man immer dann machen, wenn es um Techniken geht, zum Beispiel um das Auszahlen des Kindergeldes. Man muss dazu wissen, wie viele Kinder da sind und wie alt sie sind. Bei dieser Auszahlung einer Geldleistung geht es um Technik. Aber hier geht es um etwas sehr viel Schwierigeres: Hier sind Menschen jahrelang ohne Arbeit, hier haben sich Schwierigkeiten angehäuft. Und diese Schwierigkeiten scheren sich keinen Deut darum, ob wir verschiedene föderale Ebenen haben oder nicht; sie sind da. Deshalb hilft eben auch nicht ein punktuelles Angebot, sondern es hilft nur, die Menschen Schritt für Schritt zu aktivieren und gebündelte Hilfe von verschiedenen Seiten für verschiedene Probleme anzubieten. Das ist ein Schritt, den wir mit dieser Jobcenter-Reform gemeinsam gehen wollen.

Man muss sich anschauen, wer die Menschen sind, die hinter diesen Zahlen der Langzeitarbeitslosigkeit stehen. Das kann zum Beispiel ein 48-jähriger Hilfsarbeiter sein. Dieser braucht etwas vollständig anderes als eine verheiratete Verkäuferin, als eine alleinerziehende Krankenschwester, als ein 22-Jähriger, der seine Lehre abgebrochen, dafür aber einen Berg Schulden angehäuft hat, oder als ein 58-jähriger Ingenieur, der nach einem persönlichen Fiasko mehrere Jahre lang arbeitslos gewesen ist. Allen ist gemeinsam, dass sie seit langer Zeit arbeitslos sind; aber um den Anschluss zu finden, brauchen sie ganz unterschiedliche präzise, fördernde Hilfen.

Dafür brauchen wir drittens eine schlagkräftige Organisation. Wir wollen eine neue Qualität der Vermittlung, die es eben nicht dem Zufall überlässt, oder bestimmten Persönlichkeiten, die vor Ort da sind oder nicht, dass passende Konzepte zur Integration in den Arbeitsmarkt vorgelegt werden, ob es der Eingliederungszuschuss ist, die sozialpädagogische Begleitung, die Kinderbetreuung oder die Schuldnerberatung. Keiner der Langzeitarbeitslosen braucht alles; aber wenn die Langzeitarbeitslosen ins Jobcenter kommen, muss alles im Hintergrund zur Verfügung stehen, damit man punktuell im richtigen Moment die richtige Hilfe anbieten kann. Die Neuorganisation der Jobcenter lässt diesen Gestaltungsspielraum zu, sie sichert ihn verfassungsmäßig ab. In Zukunft kann jemand den Arbeitslosen nicht nur das anbieten, wofür er gerade zuständig ist, sondern die Hilfe, die sie brauchen.

Eine besonders wichtige Rolle in diesem Prozess spielen die Fallmanagerinnen und Fallmanager, die Vermittler. Sie wissen, wo es welche Hilfen gibt. Sie putzen bei den Unternehmen die Klinken. Sie wissen, auf welches mittelständische Unternehmen sie sich verlassen können, wenn es einen Jugendlichen gibt, der besondere Hilfe und Zuwendung braucht, um doch noch den Einstieg in die Lehre zu schaffen. Sie kennen die vielen verschiedenen - ein sperriges Wort - Arbeitsmarktinstrumente. Sie schaffen die Verlässlichkeit, weil sie das Gesicht, der Ansprechpartner sind für die Unternehmen, die Arbeitskräfte suchen, aber auch für die Arbeitslosen, die Hilfe bei der Vermittlung eines Jobs suchen.

Deshalb möchte ich an diesem Punkt eines besonders deutlich ansprechen: Im Augenblick befinden wir uns in der Situation, dass wir uns kurzfristig verhakt haben, und zwar bei dem Thema der 3.200 Stellen, die entfristet werden sollen. Kompetente Menschen sitzen bereits auf diesen Stellen, sie arbeiten in der Vermittlung. Das ist wichtig und richtig; wir brauchen diese Menschen. Es braucht Fachwissen, um diese Arbeit zu machen. Ich bin fest entschlossen, dass wir gemeinsam die Kraft aufbringen, sicherzustellen, dass eine so große Reform wie diese Jobcenter-Reform nicht daran scheitert, ob wir in diesem Punkt eine Lösung finden oder nicht. Am Ende des Jahres stehen da rund 6,9 Millionen Menschen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Wenn wir jetzt nicht gemeinsam die Kraft aufbringen, das, was wir auf einen guten Weg gebracht haben, zu Ende zu bringen, dann sprengt das die Jobcenter am Ende des Jahres - sie zerfallen wieder in ihre Einzelteile -, dann sind die 69 Optionskommunen von der Landkarte gewischt. Es ist eine Frage unseres gemeinsamen Gestaltungswillens und unserer Verantwortung für dieses Land mitten in der Krise, dass wir hier eine Lösung hinbekommen.

Auch der vierte Punkt ist mir wichtig: Die Reform schafft an einer Stelle, wo es in der Vergangenheit immer gehakt hat, etwas ganz Neues. Wir schaffen tatsächlich ein lernendes System, also kein System, in dem man erst nach Jahren Bilanz zieht und rückwärtsgewandt schaut, ob es funktioniert hat oder nicht, und sich vor Gericht streitet, ob das Geld sinnvoll eingesetzt worden ist oder nicht. Wir wollen stattdessen gemeinsam Ziele definieren: Wie viele Alleinerziehende, Jugendliche, Ältere, Facharbeiter in strukturstarken Regionen, die jetzt arbeitslos geworden sind für eine längere Zeit, sollen wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden? Wir wollen laufend vergleichen und feinjustieren können: Was machen andere besser? Warum ist die eine Region erfolgreicher als die andere mit denselben Strukturen? Wer schafft es, Menschen schneller in Arbeit zu bringen?

Dies ist unerlässlich, um im Jobcenter oder in der Optionskommune die eigene Arbeit zu spiegeln. Wir werden die Daten bundesweit einheitlich erheben, zeitnah erfassen und vergleichen können. Das tun wir nicht, weil wir aus Berlin bis in den hintersten Winkel eines Jobcenters oder einer Optionskommune hineinregieren und sie kontrollieren wollen. Nein, das können wir nicht, das wollen wir auch gar nicht. Aber wir wollen die Sachkenntnis und die Kreativität vor Ort so gestalten, dass man zügig, transparent und zeitnah sehen kann: Wer ist erfolgreich? Was wirkt? Wie wird das Geld eingesetzt? Wie wird den Menschen geholfen?

Ich möchte vor allem, dass der Schleier des Nichtwissens, der Schleier der Intransparenz, der zum Teil bisher über dem System lag - man wusste nicht genau, warum die Unterschiede in der Arbeit so groß sind - , weggezogen wird. Ich möchte vor allem, dass die Diskussion über die beste Arbeit bei der Vermittlung dort geführt wird, wo sie hingehört, nämlich in die Kreistage, in die Kommunen, in die Unternehmen, in die Kammern und in die Gewerkschaften vor Ort. Letztendlich sind sie es, die gelobt werden, wenn etwas gelungen ist, oder die dafür geradestehen müssen, wenn es Defizite gibt.

Wir berichten jeden Monat in den Lokalzeitungen über die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen in der jeweiligen Region. Ich wünsche mir, dass in Zukunft zum Beispiel vierteljährlich in den Lokalzeitungen über die Erfolge und die Entwicklung der Jobcenter beziehungsweise der Optionskommunen berichtet wird und wir nachlesen können, wie Langzeitarbeitslose in einer Region mit ihren spezifischen Problemen wieder in Arbeit vermittelt worden sind. Das kann sich ändern. Das soll sich ändern. Ich bin sicher, dass dieser Wettbewerb um die besten Ideen motivieren wird.

Ich will noch einen Satz dazu sagen, dass die Reform angeblich teurer werden würde. Ich kann denjenigen, die Zahlenspielereien betreiben - ich habe mir genau angesehen, wie das entstanden ist -, nur zurufen: Sie blicken auf das zurück, was war. Ihr Denken ist statisch. Wir müssen handeln, weil wir die Veränderungen durch die Jobcenter-Reform brauchen; denn sonst müssten wir sie nicht machen. Sie sind unfähig, dynamisch zu denken, in die Zukunft zu blicken und zu sagen: Da wollen wir hin. Diese Veränderungen wollen wir. Deshalb sind die genannten Zahlen von gestern.

Wir sprechen über eine Jobcenter-Reform, die unser Land auch in Zukunft bestimmen wird. Ich möchte trotz aller Hakeleien, die wir noch haben, denjenigen von Herzen danken, die parteiübergreifend eine Koalition der Vernunft geschlossen haben. Ich will mich bei all denjenigen bedanken, die das ermöglicht haben. Die Gesetze, die wir heute auf den Weg bringen, schaffen nicht nur Sicherheit für die Jobcenter und die Optionskommunen, sondern vor allem auch für die Langzeitarbeitslosen, die unsere Hilfe brauchen.


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Quelle:
Bulletin Nr. 49-1 vom 06.05.2010
Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen,
zum Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung
für Arbeitsuchende vor dem Deutschen Bundestag am 6. Mai 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2010